6
Es musste geregnet haben, während sie drinnen gewesen waren. Die Luft war frisch und ozonreich und roch nach feuchter Erde. Das Gras glänzte vor Nässe. Aber der Himmel war wieder klar und zeigte sich von seiner prächtigsten Seite. Wie ein glitzernder Flor schmückten die Sterne die dunkle Nacht. Lilys Magen flatterte, als sie über den von Rosen und Schleierkraut gesäumten Weg zu Rules Wagen gingen, und ihr Verstand sprang umher wie ein hyperaktiver Zweijähriger.
Bevor sie aufgebrochen waren, hatte sie noch mehr Fragen gestellt, und Ruben hatte einige von ihnen beantwortet. Nicht alle.
»Du hast ihm einen Korb gegeben«, sagte Rule.
»Für ihn mag es das Richtige sein. Das bedeutet nicht, dass ich derselben Meinung bin.«
»Er hat dir die freie Wahl gelassen. Und dir droht keine Gefahr, weil du zu viel weißt. Beweist das nicht, dass deine Angst, was die Schatteneinheit angeht, unbegründet ist?«
»Im Moment habe ich viel zu viele Ängste, als dass du sie alle zu einem Haufen zusammenkehren und sie als falsch bezeichnen könntest. Immerhin unterdrücke ich meinen brennenden Wunsch, jemanden zu verhaften.«
»Vorerst«, sagte er trocken.
»Hör zu, nehmen wir mal an, dass Ruben recht hat und dass du recht hast und auch alle anderen, die an dieser Sache beteiligt sind. Ich weiß nicht. Ich habe nicht … Ich brauche Zeit, um das alles zu verarbeiten, und wir dürfen nicht einmal darüber reden! Wie soll ich das durchdenken, wenn ich nicht darüber reden darf oder mir Notizen machen kann oder … aber selbst, wenn du recht hast, heißt das nicht, dass ich mitmachen muss.«
Ein paar Schritte lang schwieg er und blieb dann kurz vor dem Wagen stehen. »Ich habe dich mit meinem Schweigen gekränkt. Das tut mir leid.«
Sie blieb stehen. Drehte sich ihm zu. »Nicht, dass du es mir verschwiegen hast, hat mich gekränkt, sondern dass du mich getäuscht hast. Drei Wochen lang hast du getan, als ob nichts wäre, aber wenn du wirklich glaubst, was Ruben sagt, dann geht alles zum Teufel – oder könnte es sehr bald. Wie konntest du mich nur so täuschen?«
Er sah verblüfft aus. »Das habe ich nicht.«
»Als du das alles, was ich jetzt nicht laut aussprechen kann, zum ersten Mal erfahren hast, hat es dir da nicht die Schädeldecke weggeblasen? Und das hast du vor mir verheimlicht!«
Langsam antwortete er: »Das Timing war ein Schock für mich. Sie reagiert viel schneller, als ich erwartet hatte. Der Rest … nein. Wir wissen jetzt seit fast einem Jahr, dass sie wieder in unserer Welt aktiv ist. Jetzt wissen wir mehr über ihre Pläne. Das ist von unschätzbarem Wert, und zu erfahren, dass wir, die Clans, starke Verbündete gegen sie haben, ist eine große Erleichterung.«
Sie starrte ihn an. Die ganze Zeit über hatte er so etwas erwartet. Er hatte gewusst, dass ihnen dieser Harmagedon-Mist bevorstand. Als er ihr den Heiratsantrag gemacht hatte. Als sie ihre Hochzeit geplant hatten. Nicht nur geahnt, dass Ihnen möglicherweise Gefahr drohte – nein, er hatte gewusst, dass das, was kam, gewaltig sein würde. Weltverändernd. Die ganze Zeit über hatte er es gewusst. »Du bist wirklich ruhig. Du hast es erwartet. Du bist gar nicht panisch und lässt es dir nur nicht anmerken. Du bist … ruhig.«
Seine Augenbrauen zogen sich zusammen, als er leicht die Stirn runzelte. »Mein Wolf hilft mir. Ich bin nun enger mit ihm verbunden, das hilft. Ein Wolf … erlebt Angst im Hier und Jetzt. Was noch nicht geschehen ist, ist nicht real genug, um ihn in Unruhe zu versetzen.«
»Was ist mit dem Mann? Wie kommt es, dass dieser Teil von dir so ruhig bleibt und eine Hochzeit plant und sich Zeit nimmt, eine Kette für mich auszusuchen und Tobys College-Sparplan einzurichten und – und in die Zukunft zu blicken, als könnte uns nichts geschehen?«
»Lily.« Mit sanfter Gewalt ergriff er ihre Arme. »Wie sollte ich sonst leben können? Es ist gut, wenn man weiß, was Feinde vorhaben. Und ich nehme Rubens Visionen zwar sehr ernst, doch nichts davon ist vom Schicksal bestimmt.« Er legte den Kopf schief, als würde er auf etwas lauschen, das sie nicht hören konnte, und beugte sich dann so nah zu ihr, dass seine Lippen ihr Ohr streiften, als er flüsterte: »Meine Dame ist auch eine Mustersichterin, und sie hat sehr viel mehr Erfahrung als Friar.«
»Aber …« Sie senkte die Stimme und sprach so leise weiter, dass nur er sie hören konnte. »Aber deine Dame kann in dieser Welt nicht aktiv werden.«
Sie spürte, wie seine Lippen sich zu einem Lächeln verzogen, und nahm seinen Atem wahr, als er sagte: »Doch, durch ihre Stellvertreter, nadia. Sie handelt durch uns.«
Durch die Lupi. Die sie geschaffen hatte und die ihr immer noch dienten, von ganzem Herzen und aus freiem Willen. Sie konnte durch sie agieren, deswegen wollte die Erzfeindin die Lupi loswerden. Doch Rule fand diese Vorstellung nicht erschreckend, sondern tröstlich.
Lily antwortete nicht mit Worten. Sie ergriff seine Hand. Stirnrunzelnd zwar, doch sie wusste, dass er beides verstehen würde: Das Stirnrunzeln und die Berührung. »Gehen wir nach Hause.«
Er strich ihr das Haar hinters Ohr und lächelte. »Ja. Ich liebe dich.«
Die Gefühle brachen sich mit einem zittrigen Lachen Bahn. »Darf ich denn nicht wenigstens ein bisschen vor mich hinbrüten?«
»Später vielleicht.«
Aber dann fing sie doch schon an zu grübeln, als sie im Auto saßen.
Ruben wohnte in einer ruhigen Straße, doch sobald sie auf die Bethesda Avenue eingebogen waren, wurde der Verkehr dichter. Die nasse Straße warf das Licht der Scheinwerfer, Straßenlampen, Bistros, Klubs und Schaufenster zurück. Der Regenschauer hatte die Menschen für kurze Zeit in die Häuser gespült, doch jetzt waren sie wieder da, bummelten durch den hübschen Stadtteil und saßen draußen an winzigen Tischen bei Cocktails oder Bier und Nachos. Es war Samstagabend, erst kurz nach elf.
All diese Menschen hatten ihr Leben … Menschen, die sich über ihren Chef ärgerten, eine Gehaltserhöhung feierten, nach einem Flirt Ausschau hielten, sich zudröhnten, sich verliebten. Menschen, die beteten, Party machten, lachten, stritten, sich versöhnten, sich trennten … Menschen, die einem Fremden halfen oder ihn ausraubten. Menschen, die davon ausgingen, dass das Morgen genauso aussehen würde wie das Heute.
Und vielleicht würde es auch für die meisten von ihnen so sein. Und auch das Übermorgen und Überübermorgen. Aber was nächsten Monat war, das war höchst fraglich.
Denn eine Große Alte wollte all diesen Menschen ihre Zukunft nehmen, die sie sich aus Altruismus und Grausamkeit, Entschlossenheit und Gedankenlosigkeit geschaffen hatten. Die Erzfeindin wollte der Welt ihre Version der Zukunft aufzwingen. Nach Auffassung der Lupi sah sie sich als Wohltäterin der Menschheit. Gut, auf dem Weg zu ihrer wunderbaren Utopie würden Menschen ihr Leben lassen. Aber Sterbliche starben nun einmal, nicht wahr? Das war nichts Besonderes, keine große Sache. Bei denen, die überlebten, würde sie es wiedergutmachen, indem sie sicherstellte, dass sie keine falschen Entscheidungen mehr treffen konnten.
Wenn der mächtigste Präkog der Welt – der zufälligerweise auch ein durch und durch guter Mensch war – überzeugt war, dass eine außerrechtliche Geheimorganisation der einzige Weg war, um sie aufzuhalten, dann konnte Lily die Notwendigkeit akzeptieren. Nur mit Überwindung zwar, aber war eine Lüge nicht auch oft leichter zu schlucken als die Wahrheit? Sie würde Ruben nicht dem Bundesanwalt melden. Sie würde sein Geheimnis bewahren, doch sie würde nicht dabei mitmachen.
Sie war ein Cop. Durch und durch. Das ließ sich nicht so einfach abschütteln.
Sie ließen das Stadtzentrum hinter sich. Seitdem sie in den Wagen gestiegen waren, hatte Rule kein Wort gesagt, aber er hielt ihre Hand. Sie sah ihn an. Licht und Schatten glitten über sein Gesicht, als sie an einer Laterne, einer Bar, einem dunklen Winkel mit Eichenbäumen vorbeikamen. »Wusstest du, was Ruben heute Abend vorhatte?«
»Ja.«
Woher, hätte sie ihn gern gefragt. Wie kommunizierten Rubens Schattenagenten? Telefone waren nicht sicher. E-Mail auch nicht. Nicht, wenn sie sichergehen wollten, dass weder Friar noch das wenig geisterhafte FBI ihnen auf die Schliche kam. Doch welche Optionen blieben ihnen dann? Sie hatte sich ja dagegen entschieden, also konnte sie diese Frage schlecht stellen. Oder wer sonst noch zur Schatteneinheit gehörte. Oder wer davon wusste. Wie sie organisiert war. Welche Rolle Rule spielte … abgesehen davon, dass er ein Mitverschwörer war, natürlich.
Wie ärgerlich.
Dann dachte sie an den Grund für das alles … den Zusammenbruch der Nation, den Militärputsch, die ›überlebenden Lupi‹ … und ihr wurde flau im Magen. Am besten, sie grübelte nicht über Rubens Visionen nach, das brachte sie nicht weiter, auch wenn ihr Verstand immer wieder dorthin zurückwanderte. Aber was dann? Was brachte sie weiter? Mit den Fingern auf ihren Oberschenkel trommelnd, starrte sie Scotts Hinterkopf an.
Scott war immer ihr Chauffeur, wenn Rule abends ausging. Ein Grund dafür war, dass er so harmlos aussah. Er war klein und trug weite Kleidung, in der seine eigentlich drahtige Figur schmächtig wirkte. Sein rundes Gesicht hatte etwas Jungenhaftes, und die blauen Augen hinter der Streberbrille – nur Fensterglas natürlich, denn Lupi brauchten keine Sehhilfen – guckten unschuldig in die Welt. Er beherrschte meisterhaft drei Kampfsportarten, war mit dem Messer totgefährlich und ein guter Schütze, der sich immer noch verbesserte.
Von hinten sah sie Scotts kurzes, schlecht geschnittenes braunes Haar und die kleinen Ohren, die so eng anlagen, als wären sie festgeklebt. Ein kleiner Bluetooth-Kopfhörer schlang sich um sein rechtes Ohr wie ein Fragezeichen.
Fragen. Die Fragen aufzulisten, das half ihr immer. Doch sie hielt sich zurück, auch wenn es ihr in den Fingern juckte. Denn nichts davon durfte zu Papier gebracht werden.
Okay, erste Frage: Warum heute Abend? Warum hatte Ruben ausgerechnet heute versucht, sie zu rekrutieren und nicht vor drei Wochen oder in drei Wochen oder überhaupt nicht?
Die Antwort lag auf der Hand. Er wollte, dass sie etwas für ihn tat, das erst jetzt notwendig geworden war. Etwas, um das er sie nicht in ihrer Eigenschaft als FBI-Agentin bitten konnte. Vielleicht sogar etwas, das er aus dem Akten heraushalten musste, weil es sonst die falsche Person erfahren würde? Etwas, das mit dem Verräter zu tun hatte.
Lily wusste nur wenig über die Ermittlungen zu dem Anschlag auf Ruben. Falls Abel Karonski, der sie leitete, etwas Stichhaltiges herausgefunden hatte, dann hatte er bis jetzt ein Geheimnis daraus gemacht. Und das war schwerer, als man als Zivilist vielleicht glaubte. FBI-ler mochten Außenstehenden gegenüber zugeknöpft sein, doch wie alle anderen auch, tratschten sie gern mit den Kollegen. Und sie stellten gern Spekulationen an, ohne über ausreichende Informationen zu verfügen. Doch Lily waren keine Gerüchte zu Ohren gekommen. Es schien allgemein bekannt zu sein, dass der Verräter ein Insider war. Doch mehr auch nicht.
Lilys brennender Wunsch, jemanden zu verhaften, loderte auf, wenn sie an den dachte, der sie alle verraten und Ruben beinahe getötet hatte. Ihn zu fassen zu bekommen, wäre beinahe Grund genug, doch bei diesen verdammten Geistern mitzumachen.
Beinahe.
Nächste Frage. Diese allerdings musste sie laut stellen. »Hast du Ruben von … von der Sache, die das Geheimnis der Dame ist, erzählt?«
Clanmacht war das Wort, auf das Lily nur indirekt anspielen konnte. Sie wusste, dass es ein magisches Konstrukt war, das einen Clan einte und dem Rho, der sie innehatte, unangefochtene Macht verlieh. Sie wusste, dass die Lupi die Clanmacht brauchten. Doch sie konnte nicht sagen, wie sie wirkte, wie sie sich anfühlte und warum ein Lupus, wenn er sie nicht mehr spürte, wahnsinnig wurde. Sie wusste, dass es möglich war, aber das Warum und das Wie lagen außerhalb ihres Erfahrungshorizonts.
»Nein«, sagte Rule. »Denn, wie du schon sagst, es ist das Geheimnis der Dame und nicht an mir, es zu lüften.«
»Doch es hält Friar davon ab, uns zu belauschen.« Friar bezog seine Kräfte von der Erzfeindin. Die Clanmächte wirkten wie eine Sperre gegen ihre Magie, sodass auch seine Hellhörigkeit in Rules Nähe nicht funktionierte. »Er kann uns nicht hören, und es ist so gut wie unmöglich, dass ein Richtmikrofon etwas aus einem fahrenden Auto aufschnappt. Und wenn jemand diesen Wagen verwanzt hätte, hätte Scott es längst gerochen, nicht wahr?«
Seine Augenbrauen hoben sich. »Wir können hier freier sprechen als woanders, wenn es das ist, was du meinst.« Aber sein Blick flog kurz zu ihrem Fahrer. Scott war professionell genug, es sich nicht anmerken zu lassen, aber er konnte jedes Wort ihres Gesprächs hören.
Sie nickte, um ihm zu zeigen, dass sie verstanden hatte. Er wollte nicht, dass sie in Scotts Anwesenheit über Harmagedon und die Schatteneinheit sprachen. Dabei wusste er zumindest darüber längst Bescheid. »Ich denke an die Clanmacht der Wythe.« Instinktiv legte sie die Hand auf ihren Bauch. »Die Dame muss gewusst haben, was sie tat.«
Rule war nicht der Einzige im Wagen mit einer Clanmacht. Lily hatte ebenfalls eine. Sozusagen.
Sie war kein Rho. Sie war kein Lupus und würde es nie sein können, deshalb konnte sie die Macht in ihrem Inneren nicht nutzen. Alles, was sie damit tun konnte, war, sie so schnell wie möglich loszuwerden … was sicherlich am Dienstag passieren würde, wenn sie das Clangut der Wythe in Upstate New York besuchten.
Letzten Monat hatten Lily und Rule seinen Freund Brian aus den Fängen Friars, eines Sidhe-Fürsten und seinen bösartigen Elfendienern befreit. Doch sie waren zu spät gekommen: Brian war durch die Experimente des Sidhe-Fürsten so geschwächt gewesen, dass er gestorben war – ohne Thronfolger. Mit seinem Tod wäre die Clanmacht verloren gewesen, was das Ende seines Clans bedeutet hätte, dessen Mitglieder entweder sterben oder wahnsinnig würden. Was vermutlich auch den Tod einiger Menschen bedeutet hätte, denn ohne seinen Clan kam ein Lupus nicht gut klar.
Durch ihre Gabe konnte Lily Magie absorbieren, auf dieselbe Weise wie Drachen. Als Brian gestorben war, hatte sie diese Energie aufgenommen – und irgendwie hatte die Dame der Lupi dafür gesorgt, dass sie die Clanmacht nicht nur absorbierte, sondern sie in ihrem Inneren bewahrte, intakt und unerreichbar. Es verschaffte ihr ein ständiges pelziges Kitzeln.
Meistens war es, als müsste sie ihren Dickdarm kratzen. Oder aufstoßen.
Sie war die Bewahrerin der Clanmacht, kein Rho. Die Wythe brauchten einen Rho, doch im Moment blieben ihnen nur die Clanältesten. Normalerweise waren diese informelle Berater des Rhos, Männer und manchmal auch eine Frau, die Vertrauensposten bekleideten wie Leiter des Kinderhorts, Sicherheitschef oder Leiter einer wichtigen Firma, die dem Clan gehörte.
Walt McDonald war der Älteste dieses Ältestenrats. Bevor er sich zurückgezogen hatte, um die Meierei des Clans zu führen, was er jetzt seit zwölf Jahren tat, war er vierzig Jahre lang Anwalt gewesen. Er war einhundertsieben Jahre alt, Herrgott noch mal, und fragte Lily bei jeder Kleinigkeit um Rat. Als wenn sie wüsste, wie mit einem zwanzigjährigen Lupus zu verfahren war, der seinen Wandel nicht unter Kontrolle hatte! Als ob sie sich mit Wasserrechten auskannte! Oder mit den tausenderlei anderen Dingen, derentwegen er sie anrief.
Doch nicht mehr lange. Wenn die Dame schon so einfach eine Clanmacht in sie hineinstopfte, würde sie sie ja wohl auch wieder herausholen und an den rechtmäßigen Inhaber weitergeben. Sie mussten nur den richtigen Wythe-Lupus finden. Am Dienstag würde sie der gesamte Clan empfangen, da würde doch wohl einer unter ihnen sein …
Rule drehte ihre Faust um und bog sanft ihre Finger auf.
Sie blickte ihn an. Auf diesem Abschnitt der Straße war es trotz der immer wieder aufblitzenden Straßenlaternen dunkler, trotzdem sah sie, wie sich seine Mundwinkel hoben. Ihre Blicke trafen sich.
Rule hatte ihr etwas verheimlicht. Etwas Wichtiges. Das traf sie tief. Doch er hatte sich nicht verstellt. Nicht absichtlich. Hätte sie es nicht trotzdem merken müssen? Hätte sie nicht spüren müssen, dass da ein Geheimnis zwischen ihnen war? War sie zu beschäftigt gewesen, um es zu bemerken? Mit ihrem verletzten Arm, ihrer Arbeit, Friars Verschwinden, dem Großtreffen der Clans, für das nun endlich ein Datum festgelegt war, der Frage, ob der Muskel nachwuchs, dem pelzigen Kitzeln in ihrem Bauch und den Komplikationen, die es mit sich brachte, der kommenden Hochzeit, dem …
Okay, ja, sie hätte es merken müssen. Aber vielleicht sollte sie dieses Mal nicht so streng mit sich sein.
Leicht, ganz leicht, malte Rule mit dem Daumen einen Kreis in ihr Handinneres.
Sie kannte seinen Körper so gut. Sie wusste, was in seinem Kopf vorging … manchmal. Dann wieder war er ihr ein Rätsel. Dann war es, als würde sie sich durch dichten Nebel vorantasten. Wie gut konnte man jemanden verstehen, der nur zum Teil ein Mensch war?
Sein Daumen kreiste um den Ballen an ihrem Zeigefinger. Jedes einzelne Nervenende in ihrer Hand erwachte. Ihr Atem ging schneller.
Langsam verzog sie die Lippen zu einem Lächeln. Manchmal war es nicht schwer, ihn zu verstehen.
Die nächsten fünfeinhalb Kilometer streichelte Rule zärtlich ihre Hand. Beide sagten sie nichts, rührten sich nicht, nur sein Daumen strich federleicht über ihre Haut, wieder und wieder.
Irgendwo hatte Lily einmal gelesen, dass es in der Handinnenfläche zweitausendfünfhundert Nervenrezeptoren pro Quadratzentimeter gab. Die gaben nun alle ihre Empfindung an den Rest ihres Körpers weiter, bis der Mercedes vor dem Reihenhaus in Georgetown hielt.
Rule dankte Scott mit ernster Miene, so wie er es immer tat. Ohne sich zu berühren, stiegen er und Lily auf der Gehwegseite aus. Der Himmel war ein dunkler, glatter Schild über ihren Köpfen, dessen endlose Weite von den reflektierenden Lichtern der Hauptstadt getrübt wurde. Ihre Straße steuerte zu der allgemeinen Lichtverschmutzung bei, aber durch Licht gab es auch Schatten, nicht wahr? Harte Schatten unter dem Schild aus Smog, der die Zivilisation zwischen sie und die Unendlichkeit hielt. Daher waren sie beide besonders wachsam, als sie zwischen den parkenden Autos hindurchgingen.
Lily schloss die Tür auf. Sogar solche unbedeutenden Details wie das Betreten des Hauses waren jetzt durchgeplant. Rules Sinne waren schärfer als ihre und seine Reaktionen schneller, deshalb hielt er Wache, während sie die Tür öffnete und in das weichere Licht trat. Er schloss die Tür hinter sich, sodass die Geräusche der Stadt, Verkehrslärm und Fernsehen, das entfernte Heulen einer Sirene und das Bellen eines Hundes zwei Straßen weiter nur noch gedämpft zu hören war.
Rule ging zum Fuß der Treppe und blieb dort reglos stehen, den Kopf hoch erhoben, die Nasenlöcher gebläht. Sie wartete, bis eine leichte Veränderung in seiner Haltung ihr sagte, dass er nichts Ungewohntes gerochen hatte. Sicherheit war ein vergänglicher Zustand, doch vorerst drohte ihnen keine Gefahr.
Sie wollte nicht darüber nachdenken. Doch sie wusste nicht, wie sie damit aufhören sollte. Es war nicht so, als würde sie Sicherheit für eine Konstante halten – jedenfalls nicht mehr seit ihrem achten Lebensjahr –, aber diese Gefahren waren so gesichtslos und allgegenwärtig, dass sie …
»Es war sehr schwer für mich.« Rule fuhr herum, trat zu ihr und packte sie bei den Armen. Die dunklen Augen loderten, seine Miene war entschlossen. »Verstehst du? Es fiel mir schwer, mein Versprechen zu halten, ein Geheimnis vor dir zu haben, etwas, das ich nicht mit dir teilen konnte. Ich weiß nicht, wie Cops das aushalten oder Ruben oder jeder, der solche Mauern um sich herum errichten muss.«
Sie hob das Gesicht. Seine Brauen waren zusammengezogen. Seine Finger pressten sich um ihren Arm, direkt unter der Wunde, dort wo der Muskel vielleicht wieder nachwuchs. Oder auch nicht.
Er brauchte etwas von ihr. Worte? Sie hoffte es nicht. Heute Abend wollte sie keine Worte. Worte würden dem Denken und der Sorge und der Angst, dem Abgrund, der sich vor ihnen auftat, Einlass gewähren, würden ein mit steinernen Zähnen bewehrtes Loch öffnen, groß genug, um eine ganze Welt zu verschlingen, und sofort würde ihr Verstand versuchen, eine Brücke oder irgendeinen anderen Weg darüberzubauen, um den Abgrund herum oder von ihm wegführend zu ersinnen. Und das würde sie auch, musste sie auch, aber nicht jetzt. Jetzt legte sie die Hände auf seine Schultern, auf das dünne Kaschmirgewebe zwischen seiner Haut und ihrer, und stellte sich auf die Zehenspitzen.
Doch nicht, um ihn zu küssen. Sondern um ihn in die Unterlippe zu beißen. Nicht fest, aber fest genug. »Du bist mein.« Sie biss noch einmal zu. »Geheimnisse hin oder her, du gehörst mir. Tu das nie wieder.«
Er umfing ihr Gesicht mit beiden Händen und strich mit den Daumen an der Unterseite ihres Kiefers entlang. »Ja, ich gehöre dir«, sagte er und berührte die Kette, die er ihr an diesem Abend um den Hals gelegt hatte. »Das. Ich will dich sehen, wenn du nur das trägst.« Er zog eine Braue hoch. »Nach oben?«
Ja.
Auf halbem Wege knarrte eine Stufe unter ihrem Fuß. Abgesehen davon war es ganz still im Haus. Für ihre Ohren zumindest. Was er wohl hörte? Drei Stufen vor dem Treppenabsatz legte er ihr die Hand auf den unteren Rücken. Ihr Herz geriet kurz aus dem Takt.
»Ich mache das Licht aus«, sagte er, oben angekommen. Drei Lampen brannten, eine in jedem Zimmer. Und die beiden im Erdgeschoss natürlich – Wohnzimmer und Küche –, aber die ließen sie die ganze Nacht brennen. Aus Sicherheitsgründen, wie sollte es auch anders sein. Falls es jemand doch an José und Craig vorbeischaffen sollte, würde er in einem gut beleuchteten Haus leicht zu sehen sein. Und wenn das Licht plötzlich erlosch, würde es dem Eindringling oder den Eindringlingen deutlich mehr zu schaffen machen als Rule oder den Wachen. Falls die Wachen dann noch lebten.
Aber sie war es so schrecklich leid, an Sicherheit und Überleben zu denken. Während Rule die Lampen ausknipste, ging Lily direkt in ihr Zimmer am Ende des Flurs. Sie ließ das Licht an.
»Mal sehen, ob du mich einholen kannst«, sagte sie, als er zu ihr kam, und öffnete den Knopf ihrer Jeans. Auf dem Holzboden lagen schon ihre Schuhe, der Pullover und der BH.
Er lächelte und tat, wie ihm geheißen – mit Lupi-Geschwindigkeit. Er war so verdammt wettbewerbssüchtig, dieser Mann. Sie trug noch ihren Slip, und er war schon ganz nackt, als er sich vor sie kniete, die Lippen auf ihren Bauch drückte … und laut prustete.
Sieh an, er war zu Späßen aufgelegt. Sie zog die Brauen hoch. »Bilde dir ja nichts ein. Ich kenne deine Schwächen.«
Seine Hände strichen über ihre Oberschenkel hoch zu ihrem Po, packten zu und hoben sie an – und warfen sie in hohem Bogen aufs Bett.
Mit Armen und Beinen fuchtelnd und laut lachend kam sie mit einem heftigen Plumps auf, rollte sich herum auf alle viere und lockte ihn. Komm, mein Großer, ich habe keine Angst vor dir …
Er warf sich auf sie wie ein Footballspieler, was sehr viel wirkungsvoller gewesen wäre, wenn sie gestanden hätte. Und damit begann die Kitzelschlacht.
Denn sie war in der Taille ganz fürchterlich kitzelig. Und das wusste er, der gemeine Kerl. Er hatte vor allem zwei Schwachstellen: am Bauch und unter den Armen. Der Bauch war als Ziel nicht gut geeignet, denn wenn er die Bauchmuskeln anspannte, spürte er nichts mehr. Die Achseln aber – das funktionierte jedes Mal, vorausgesetzt, sie gelangte dorthin.
Es gab nur eine Regel: Nicht festhalten. Sonst wäre die Schlacht zu schnell vorbei gewesen, denn er war viel stärker als sie. Sie war wendig, sie war erbarmungslos, aber sie war kein Lupus. Deshalb rief Lily auch empört »He!«, als er sie, als schließlich die Decken auf dem Boden lagen und sie beide nach Luft rangen, auf den Rücken drehte und sich mit seinem ganzen Körper auf sie legte.
»Ich gebe auf.« Sein Atem ging schnell. Er lächelte auf eine Art, die sie zum Schmelzen brachte: offen und glücklich. Ein Lächeln, das sie leider nicht oft genug sah. »Ich gebe auf, ich gebe auf. Du hast gewonnen.«
»Du wirfst das Handtuch?«
»Oh, ja«, keuchte er und barg das Gesicht an ihrer Schulter. Doch dieses Mal atmete er nur ein, lang und genüsslich. Um ihren Duft in sich aufzunehmen, wie sie wusste. Und mit dem Ausatmen sagte er ihren Namen. Sie spürte es feucht und warm auf der Haut. »Lily.«
Da war etwas in diesem leisen Ausatmen … sie fuhr mit den Fingern durch sein struppiges, zu langes Haar. »Ich bin hier.«
Er drückte sich auf einen Ellbogen hoch und sah ihr in die Augen. Die seinen waren dunkel vor Verlangen. »Und hier.« Er berührte seine Brust.
Da verstand sie, wusste sie, wonach es ihn verlangte – nicht nach Sex, nicht nur. Er war nur ein Mann. Er konnte ihren Duft aufnehmen, doch nicht ihren Körper, konnte sich ihr nicht öffnen wie sie sich für ihn. Er hatte keinen Eingang, keinen Schoß, um zu empfangen. Nur Haut, Oberfläche. Und Atem.
Also blies sie ihn an. »Und hier«, flüsterte sie und wärmte seine Schulter mit ihrem Atem, bevor sie darüberleckte. »Hier«, sagte sie und blies auf seinen Hals, leckte und knabberte und blies noch einmal auf die feuchte Haut. Er erschauerte. »Und hier.« Sie strich mit ihrem Bein an seinem entlang, ganz langsam, Haut an Haut, und dann mit der Hand über seinen Arm. Er hatte lange Arme, glatt und fest und muskulös. Sie gab ihm einen Kuss in die Armbeuge, auf die zarte Haut dort. Es gibt keine Stelle an dir, die ich nicht lieben kann, und die Liebe ist es, die mir den Eintritt verschafft …
Sie folgte mit dem Mund dem vertrauten Pfad seinen Bauch hinunter, zu dem auf und ab wippenden Körperteil, das ihr wie stets freundlich zuwinkte, doch er schauderte, packte sie bei den Armen und zog sie zu sich hoch.
Er küsste sie ausgiebig, suchte das schlüpfrige Duell mit ihrer Zunge, zwickte sie leicht mit den Zähnen. Schwer atmend hielt er inne und sagte: »Eigentlich wollte ich es heute Abend langsam angehen lassen.«
Sie lächelte.
»Vorerst«, ergänzte er und begann ihr zu zeigen, was er damit meinte.
Dort, wo sein Mund war, überlief ein Zittern ihre Haut, doch er ließ nicht zu, dass sie ihn, dass sie sie beide antrieb. Also entfachten sie das Feuer mit einem Brandherd nach dem anderen … eine Berührung hier, an der glatten Rundung seines Pos oder dort, wo ihre Haut nach einem leichten Stups seiner Zunge zuckte. Den Moment, als ihr die Welt der Worte und Begriffe entglitt, zu vielfältig für das Verlangen, das in ihr wuchs, bemerkte sie nicht.
Also sagte sie nicht »genug« oder »jetzt« zu ihm, sondern griff nach seinem entgegenkommendsten Körperteil, packte fest zu und strich mit der Hand nach oben, wobei sie genau wusste, wie fest sie zudrücken musste. Dieses Mal kam sein Atem wie ein Knurren, lang und kehlig. Er warf den Kopf zurück, und die klare Linie seines Halses öffnete sich, öffnete sich ihr.
Auch sie öffnete sich ihm, um gemeinsam mit ihm eine neue Achse zu bilden, eine Stelle, an der sie sich beide zusammen bogen, wo das Wir sich traf und sich bog und sich freudig aufschwang, immer höher, auf dem flachen, geraden Grund des Bettes, Körper auf Körper prallte – bis sie an dieser Achse brach, aufbrach und seinen Namen rief, als weißes Feuer in sie schoss.
Als sie wieder bei Atem waren, nachdem sie sich gestreichelt und sich berührt und sich angelächelt hatten, stand er auf, um das Licht zu löschen. Fast wäre sie eingedöst. Dunkelheit senkte sich über sie, dann die Decken, die er über sie warf, bevor er zurück ins Bett glitt. Sie sagte »Hmmm«, schmiegte sich an ihn und legte ihre Hand auf seine Brust, dort, wo sein Herz langsam und stark schlug.
Du bist mein, sagte sie der Welt vor diesem Zimmer, als ihr Verstand schon benommen war vom Schlaf. Immer noch waren die Worte ihr fern. Und genauso war es richtig, wie sie hier in der Dunkelheit schwebte, befriedigt und schläfrig und sauber wie ein Garten nach dem Regen. Mein.