23

»… bin in ungefähr fünf Minuten da«, sagte Lily Rule auf die Mailbox und legte auf.

»Ist er nicht drangegangen?«, sagte Scott.

»Vielleicht wacht ein Handy-Nazi über die Notaufnahme.« Ihre Finger kribbelten. Ihr Kopf fühlte sich seltsam an, als wären Luftblasen in ihrem Gehirn. Ein Gedanke, der sie ängstigte. Sie ballte die Hände zu Fäusten. Das klappte ohne Probleme. »An der Ampel rechts.«

»Das Navi sagt, geradeaus.«

»Und ich sage, nach rechts.«

»Okay. Wo soll ich parken? Ein paar Blocks entfernt? Hinter dem Gebäude?«

»Keine Zeit.« Auch ihre Zehen begannen jetzt zu kribbeln. Hyperventilierte sie etwa? Lily versuchte den Atem anzuhalten. »Ich springe schnell rein und sage Bescheid, dann fahren wir weiter.« Eigentlich müsste ihr noch genügend Zeit bleiben. Sjorensen hatte Lily angerufen, als Drummond im Gespräch mit dem Bundesanwalt war. Möglicherweise würde dieser es ablehnen, zum Richter zu gehen doch die Chancen standen schlecht.

»Okay. Hübsche Gegend hier. Viel Platz zwischen den Häusern.«

Sie atmete aus, um sprechen zu können. Es hatte ohnehin nicht geholfen. »Ja. Das Haus der Brooks liegt auf der rechten Seite in ungefähr zwei Kilometern, gleich hinter einem kleinen Wäldchen. Altes Backsteingebäude, zwei Geschosse, runde Einfahrt.« Ob Ruben versuchen würde zu flüchten? Sollte er? Wollte sie, dass er es tat?

Sie wusste es nicht. Genauso gut konnte es sein, dass er es ausstand, sich festnehmen ließ, auf das System vertraute. Noch vor zwei Wochen wäre sie von der Richtigkeit eines solchen Verhaltens überzeugt gewesen. Doch jetzt gab es die Schatteneinheit. In Rubens Vision würde das Land zerfallen, in zwei blutige Stücke zerrissen werden, von denen eines in Anarchie versinken, das andere eine Diktatur werden würde. Alle Lupi, alle magisch Begabten tot. Vielleicht hatte Ruben seine eigene Verhaftung vorausgesehen und erwartete sie nun. Vielleicht war er auch schon geflohen. Oder er wusste ganz genau, was getan werden konnte, damit seine Visionen nicht Realität würden.

Eine Sache jedoch war glasklar. Rubens Verhaftung war Teil ihres Plans.

»Du vertraust dieser Frau, die angerufen hat«, sagte Scott. »Du glaubst ihr, dass Brooks verhaftet werden wird.«

Natürlich hatte er beide Seiten des Gesprächs mitgehört. »Ich vertraue ihr zu fünfundneunzig Prozent, schätze ich.« Zwar kannte Lily Anna Sjorensen nicht sehr gut, aber was für einen Grund sollte sie haben, zu lügen? Außer vielleicht den, dass Lily sich angreifbar machte, wenn sie Ruben warnte und ihm damit eine Chance gab, der Verhaftung zu entkommen. »Vielleicht fünfundachtzig Prozent«, korrigierte sie sich selbst, als Scott dort abbog, wo sie gesagt hatte. Wieder ballte sie die Hände. Es ging, doch es fühlte sich nicht richtig an. Ihr Kopf fühlte sich nicht richtig an. »Aber wir lassen es darauf ankommen.«

Die Chancen standen drei zu eins. Eigentlich nicht schlecht, vor allem, wenn nur eine Waffe direkt auf ihn gerichtet war und das von einem Mann, der nur drei Meter entfernt stand.

Drei Meter das erhöhte die Chancen, dass Rule sich eine Kugel einfing, wenn er sprang. Aber ein Kopfschuss war höchst unwahrscheinlich und es wäre wohl schon ein Kopfschuss nötig, um ihn aufzuhalten. Wahrscheinlich würde ihm gar nichts passieren. Auf diese Entfernung konnten nur wenige Menschen ein sich bewegendes Ziel treffen. Es sind Menschen hier, rief er sich in Erinnerung. Kugeln, die ihn verpassten, konnten die empfindlicheren Menschen um ihn herum treffen. Oder Cullen. Besser, er gab diesen Idioten mit den Waffen keinen Grund zu schießen.

Er bemühte sich, ruhig zu wirken, als er die Hand auf Cullens Schulter legte. »Halt still«, sagte er beruhigend und spürte, wie angespannt sein Freund war. Sprungbereit. »Halt still.«

»Hände hoch!«, bellte der Wachmann.

»Das werde ich nicht tun. Haben Sie einen Hund, Officer?«

Ein leichtes Beben durchlief den Arm des Wachmanns. Er stank nach Angst. »Reden Sie keinen Scheiß. Ihr verwandelt euch nicht in Hunde. Ich habe beim MCD gearbeitet, damals, als sie euch alle zusammengetrieben haben. Ich weiß, wozu ihr fähig seid.«

Das bezweifelte Rule. Nicht, wenn der Mann glaubte, mit drei Metern Abstand wäre er in Sicherheit.

Einer der anderen Männer hielt seine Pistole immer noch auf Cullen gerichtet, während der dritte seine wieder ins Holster gesteckt hatte und nun nach den Handschellen an seinem Gürtel griff.

Rules Ton wurde schärfer. »Handschellen sind eine sehr schlechte Idee. Mein Freund ist schwer verletzt. Wenn Sie ihn fesseln, gerät er möglicherweise in Panik.«

»Leg ihm die Handschellen an«, sagte der grauhaarige Wachmann heiser. »Los, mach’s.«

Rule sah zu dem Sanitäter, der ihm am nächsten stand. Er erinnerte Rule ein bisschen an LeBron: groß, muskulös, dunkle Haut, rasierter Schädel. LeBron, der letzten Monat ums Leben gekommen war. »Ich möchte niemanden verletzen«, sagte er leise. »Cullen kann ich beruhigen, doch den Kollegen mit der Pistole offenbar leider nicht. Sie und ihr Freund sollten lieber von der Bahre wegtreten.«

»Das werden sie nicht tun«, sagte eine raue weibliche Stimme aus dem Inneren der Notaufnahme. »Sie sind vertraglich verpflichtet, die Leute durch die Türen zu bringen. Sie werden ihn schön brav hier reinkarren. Ist das Ihr Mann?«

»Beides sind meine«, sagte eine zweite Frau mit warmer, schleppender Stimme. Die Rhej, stellte Rule mit Erleichterung fest, als zwei Frauen durch die Türen der Notaufnahme traten. »Aber den auf der Bahre teile ich gern mit Ihnen, sobald er hier drinnen ist.« Sie ging zu Rule. »Ich nehme Cullen mit rein, während du die Sache mit diesen Jungs klärst. Sie haben Angst«, sagte sie, und ihre Stimme balancierte zwischen Mitleid und Zorn. »Vielleicht solltest du versuchen, ein bisschen weniger so auszusehen, als wolltest du ihnen die Kehle herausreißen.«

Das hatte er versucht. Offenbar ohne Erfolg. »Ich bleibe bei Cullen. Er ist im Moment nicht in der Verfassung, so viele Fremde in seiner Nähe zu ertragen.«

»Ma’am«, sagte der Wachmann mit den Handschellen, »gehen Sie bitte wieder hinein.«

Ihn ignorierend blickte die Rhej hinunter auf Cullen, der reglos dalag, mit strahlenden, aufmerksamen und ganz und gar nicht menschlichen Augen. Sie nickte. »Ich kann sehen, was du meinst. Aber du kennst mich«, sagte sie beruhigend zu Cullen. »Ich werde dich nicht mit Fremden allein lassen, genauso wenig wie Rule. Belle? Rule muss bei unserem Patienten bleiben.«

Die andere Frau trug Krankenhausuniform. Sie war kleiner, schwerer und älter als die Rhej, ihre Haut war einen halben Ton dunkler und ihr Gesicht von den Falten eines müden Zynismus gezeichnet. Doch sie bewegte sich leichtfüßig, als sie nun näher kam. »Harold, stecken Sie die verdammte Waffe weg.«

»Gehen Sie zurück, Belle! Sie wissen nicht, wozu die imstande sind.«

»Ich weiß, wozu sie imstande sind jedoch nicht, mir eine Kugel in den Leib zu jagen, nur weil sie nervös sind.« Sprach’s und drängte ihren breiten Körper zwischen den Wachmann und die Bahre. »Nehmt ihn mit, Jungs.«

»Lily!« Deborahs hübsche Augen weiteten sich. »Ist es ist Fagin «

»Fagin?« Lily brauchte einen Moment, um zu verstehen, was Deborah meinte. Natürlich sie hatte es in den Nachrichten gesehen. »Nein, ihm geht es gut. Oder, ihm wird es wieder gut gehen, schätze ich. Es ist schon ein Weilchen her, seit ich das letzte Mal etwas Neues gehört habe. Ich muss mit Ruben sprechen. Es ist dringend.« Der Wind hatte aufgefrischt. Lily wünschte, sie hätte eine dickere Jacke angezogen, kämpfte gegen das Zittern an.

»Natürlich.« Deborahs Blick flog zu Scott, der hinter Lily stand. Er hatte darauf bestanden, sie zu begleiten. Vom Auto aus könne er sie schlecht schützen, hatte er gesagt. Lily hatte ihm nicht widersprochen. Dafür war es ihr nicht wichtig genug gewesen. »Das ist Scott. Scott, Deborah Brooks.«

»Ma’am«, sagte er.

Deborah öffnete die Tür weiter. »Kommen Sie herein.«

Lily trat in die warme Luft, die nach Schokoladenkeksen roch.

»Er ist in der Küche«, sagte Deborah und wandte sich dem Flur zu. Ihre flachen Schuhe klickten auf dem Holzboden. »Was ist passiert?«

»Es gibt Ärger. Ich muss schnell mit ihm darüber reden.«

»Ich verstehe. Ich habe gerade Kaffee gemacht, und im Ofen sind Kekse. Ich glaube, Sie nehmen Ihren Kaffee schwarz?«

»Ja, aber ich habe keine Zeit. Trotzdem danke.«

»Ich gieße Ihnen eine Tasse ein. Sie müssen sie ja nicht trinken.«

Ihr diskreter Hinweis war nicht verstanden worden. »Ich muss alleine mit Ruben sprechen.«

»Wir bekommen nicht immer das, was wir glauben, haben zu müssen, nicht wahr?« Deborahs Stimme blieb freundlich. Sie drehte sich nicht um.

Sollte sie darauf bestehen? Das, was sie zu sagen hatte, betraf Deborah, weiß Gott, genauso wie Ruben. Vielleicht hatte seine Frau das Recht, es zu hören. Aber Lily kannte Deborah nicht besonders gut. Sie wusste nicht, wie sie reagieren würde, wie sie sich verhalten würde, vor allem, falls Ruben die Flucht ergriff. Man würde sie einer harten Befragung unterziehen. Wenn sie Lily verriet

»Wir haben Gesellschaft«, verkündete Deborah etwas zu fröhlich, als sie die Küche betrat.

Lily hatte das Gefühl, dass sie gerade einen Streit unterbrochen hatte.

»Lily!« Ruben saß in der Frühstücksecke des Raumes. Eine eingebaute Eckbank, ein Tisch und zwei Stühle davor. Er sah müde aus.

Eine Zeituhr klingelte. »Ah, das sind die Kekse.« Deborah warf einen Blick durch das Glasfenster des Herdes, nahm einen Topflappen und öffnete die Tür. Duftschwaden drangen heraus. »Sie sagt, es gebe Ärger. Ich werde ihr und ihrem Freund Kaffee einschenken.« Sie lächelte Scott zu, als sie das Blech mit den Keksen auf ein Abkühlgitter stellte. »Möchten Sie Milch oder Zucker?«

»Für mich nichts, danke«, sagte Scott.

»Nehmen Sie doch wenigstens von den Keksen.«

»Deb«, sagte Ruben, als er sich von der Bank hochstemmte. »Sie sind nicht wegen der Kekse hier. Ah Scott, nicht wahr?«

Lily nickte. »Scott White. Er ist einer von Rules Leuten. Ruben « Lily warf Deborah einen Blick zu, die den Kaffee eingoss, den sie so entschlossen angeboten hatte. »Ich habe vor zehn oder fünfzehn Minuten einen Anruf von Anna Sjorensen bekommen. Sie haben den Dolch, mit dem Bixton umgebracht wurde, zurückverfolgen können.«

»Das könnten doch eigentlich gute Nachrichten sein. Aber ich vermute, so ist es nicht.«

»Sie haben ihn zu Ihnen zurückverfolgt.«

Aller Ausdruck wich aus Rubens Gesicht. Deborah ließ die Tasse fallen, die sie gerade eingegossen hatte. Sie zersprang laut.

Langsam sagte Ruben: »Ich nehme an, es gibt einen Haftbefehl. Sind Sie hier, um ihn zuzustellen?«

»Nein! Nein, ich kam, um Sie zu warnen, wegen, äh dessentwegen, worüber wir neulich abends nach dem Grillen gesprochen haben.«

Er nickte. »Deborah weiß von meinen Visionen.«

»Sie können dich nicht festnehmen«, sagte Deborah mit ausdrucksloser Stimme. »Das ergibt keinen Sinn. Sie können doch nicht annehmen, dass du so etwas tun könntest. Es sei denn, einer von ihnen gehört zu den Tätern.«

Ruben rieb sich das Gesicht. Müde, ja vielleicht mehr als müde. Er sah aus wie ein geschlagener Mann. »Wenn sie genügend Beweise haben, bleibt ihnen kaum eine Wahl. Und irgendjemand hat dafür gesorgt, dass es solche Beweise gibt.«

Deborah biss sich auf die Unterlippe. Straffte die Schultern. Und sagte entschlossen: »Du tust selbstverständlich, was du tun musst.«

Er sah sie vom anderen Ende der Küche an. Ihre Blicke trafen sich einen langen Augenblick. »Ich liebe dich«, sagte er. »Ich liebe dich über alles.«

Ein leichtes Lächeln umspielte ihre Lippen. »Und ich liebe dich. Aber ich wäre dankbar für einen kleinen Hinweis, was du jetzt vorhast.«

Er lachte kurz auf. »Ich auch. Lily.« Er sah sie mit einem äußerst merkwürdigen Gesichtsausdruck an Verwirrung und Bestürzung, gemischt mit einer eigenartigen, harten Entschlossenheit. »Warum sind Sie hier?«

Sie blinzelte. War der Schock Ruben auf den Verstand geschlagen? »Um Sie zu warnen. Wie ich gesagt habe. Ich weiß nicht, was Sie tun werden, was Sie tun sollten. Ich hatte gehofft, dass Sie es gesehen haben. Vorhergesehen haben, meine ich, oder so etwas Ähnliches, und vielleicht schon Pläne haben aber anscheinend ist es nicht so.«

Er schüttelte den Kopf. »Warum sind Sie hier? Mein Handy funktioniert einwandfrei.«

»Ihr « Eine Kaskade von Schocks durchströmte sie wie Elektrizität Pop! Pop! Pop! Nein, es war Magie. Magie, die in ihrem Inneren zischte, nicht auf ihrer Haut. Magie, als würden hundert Flaschen Cola übersprudeln, nachdem sie heftig geschüttelt worden waren. Und das war alles, was sie sah Magie, die hinter ihren Augen sprühte, eine phosphoreszierende Explosion, die einen Regenbogen aus Weiß vor ihren Augen malte.

Der Boden hob sich ihr entgegen und schlug sie in den Rücken. Sie spürte, wie bei dem Schlag die Luft aus ihr wich, wie ihre Arme und Beine zuckten, und hörte, wie Stimmen ihren Namen riefen

Nein, nur eine Stimme, eine schöne Stimme, so unwiderstehlich wie Sternenlicht. Eine Frauenstimme. Sie rief Lilys Namen, den Namen, den Sam kannte, den, den der schwarze Drachen ihr einmal vorgesungen hatte. Nur einmal.

Ihren wahren Namen. Stille floss aus diesem Ruf wie verschüttete Tinte, die in einen Teppich sickert, und färbte den Rausch der Magie mit Ruhe.

»Okay«, sagte sie, oder vielleicht doch nicht, denn sie konnte sich nicht hören. Das Weiß wich vor ihren Augen, und sie sah ein Gesicht, das sich über ihres beugte für eine Sekunde verschwommen, doch dann wurde es scharf und klar. Rubens Gesicht. Seine Augen waren dunkel und besorgt. Das Haar war ihm in die Stirn gefallen. Seine Lippen bewegten sich. Schwach hörte sie seine Stimme, doch sie verstand nicht, was er sagte.

Okay, sagte sie wieder, aber dieses Mal wusste sie, dass sie es nicht mit dem Mund gesagt hatte, dass sie es nicht zu denen gesagt hatte, die mit den Ohren hörten, und sie wusste, zu was sie ihr Einverständnis gegeben hatte wusste es, ohne es zu hören, zu sehen, zu begreifen, ohne Worte, auf eine Art, die sich in keiner Weise auf ihr körperliches Ich auswirkte, die keine Spur in ihrem Gehirn hinterließ, die man später durch die Erinnerung wiederfinden könnte.

Sie streckte ihre Hand aus und packte Ruben am Nacken. Stützte sich mit dem anderen Arm hoch. Und blies ihm in den Mund.

Magie bewegte sich in ihr, eine weiche, kitzelnde kribbelnde Welle aus Kiefernnadeln und Fell und Mitternacht und einem Lied ein Lied, das sie schmecken, aber nicht hören konnte, als es aus ihren Eingeweiden drang, durch ihre Kehle, in ihren Mund und hinaus. In Ruben hinein.

Der zurückzuckte, die Augen weit aufgerissen, den Mund zu einem erstaunten runden Oh! geformt, bevor er sich auseinanderzog, sich zusammen mit dem Rest des Gesichts zu einer Grimasse des Schmerzes verzerrte, dann so erstarrte, für eine Sekunde, zwei, drei

Er fasste sich an die Brust. Versuchte sich aufzurichten, fiel jedoch vornüber, schreiend. Der Schrei brach ab, als die Realität, in die er hineingeboren war und in der er sein ganzes Leben verbracht hatte, splitterte sich verzerrte, so wie es eben sein Gesicht getan hatte, Leib und Gestalt sich voneinander trennten und Regeln und Formen und Bedeutung sich zu etwas gänzlich anderem neu ordneten.

Und er begann, sich zu wandeln.