5
Lily hatte ein Gefühl, als hätte ihr jemand einen Schlag in den Magen verpasst. »Oh nein. Das kann nicht sein. Ich hatte gehofft … Sie sehen so gut aus. Gesund. Dann hat der Heiler, den Nettie geschickt hat, wohl doch nicht so viel bewirken können, wie ich dachte.«
Rubens Lächeln war schwach und bitter, aber so echt wie alles an ihm. »Ohne ihn wäre ich jetzt tot. Man sagte mir, der Schaden sei erheblich gewesen. Er hat viel wiederherstellen können – genug, dass ich hoffen darf, noch nicht so schnell abtreten zu müssen. Doch leider nicht genug, um nicht nur hoffen, sondern darauf zählen zu können. Die Einheit kann nicht von jemandem geführt werden, der mitten in einer Krise sterben könnte.«
»Sterben könnten wir alle. Gibt es nicht eine Möglichkeit, die Verantwortung aufzuteilen? Croft ist gut, aber ohne Ihre Gabe …« Sie brach mitten im Satz ab, um Fagin mit einem leichten Stirnrunzeln einen Blick zuzuwerfen. Dann sah sie Rule an.
»Sie fragen sich, warum Fagin hier ist. Nein, er ist nicht derjenige, dem ich die Leitung der Einheit anvertrauen werde.«
»Dem lieben Herrgott im Himmel sei Dank«, sagte Fagin. »Falls Sie je versuchen sollten, sie mir aufzuhalsen, würde ich es auch nicht annehmen.«
»Warum ist er dann hier? Und Rule?«
Ruben ignorierte ihre Frage. »Die Nachricht von meinem baldigen Ausscheiden darf diesen Raum nicht verlassen. Denn ich bin fest davon überzeugt, dass es das Beste ist, wenn der, der hinter dem Anschlag auf mich steckt, noch eine Weile im Unsicheren über meine Rolle gelassen wird.«
»Sie meinen Friar. Dann glauben Sie also nicht, dass er tot ist.«
»Offiziell ist er in der Explosion ums Leben gekommen. Lassen wir ihn vorerst in dem Glauben, wir hätten nicht den Verdacht, dass er weiterhin als ihr Stellvertreter tätig ist.«
»Wir?«
Lächelnd überging Ruben auch diese Frage. Deswegen schob sie gleich eine weitere nach. »Was ist mit Croft? Hat er –«
»Ich werde Ihnen keine Liste derer aufstellen, die es wissen oder nicht wissen. Das verleitet Sie vielleicht zu ungerechtfertigten Vermutungen über die, die ich nicht informiert habe.«
Lily nickte langsam. »Dann geht es also um die Ermittlungen? Darum, den Verräter zu finden? Oder geht es um sie?«
»Beides, denn die Tatsache, dass es einen Verräter gibt, ist der Grund für eine weitere Entscheidung, die Sie bitte für sich behalten. Ich werde eine geheime Einheit gründen, die ich die Schatteneinheit nenne, mit dem Ziel, sie und alle ihre Stellvertreter und Verbündeten in dieser Welt zu bekämpfen. Die Mitglieder dieser Gruppe kommen sowohl vom FBI als auch von außerhalb, und sie operieren ohne das Wissen oder die Genehmigung der Regierung. Ich möchte Sie dabeihaben.«
Plötzlich hatte Lily ein hohles Gefühl im Bauch. Ihre Hände wurden kalt. Sie starrte ihn an, konnte nicht glauben, was sie gerade gehört hatte. »Das kann nicht Ihr Ernst sein.«
»Mein voller Ernst.«
Wut mischte sich in den Schock und ließ ihr Inneres erbeben. Mit zusammengekniffenen Augen drehte sie sich um, um Fagin anzusehen. »Und Sie wussten davon? Sie machen mit bei dieser – dieser Schatteneinheit?«
»Ja, das tue ich.« Mit den Händen auf seinem Bauch sah er aus wie ein schlecht gekleideter Buddha. Friedlich. Vielleicht ohne wirklich zuzuhören. »Vor allem als Berater. Ich bin keiner von den Geistern.« Er lächelte, als er ihren Gesichtsausdruck sah. »Das ist mein kleiner Spitzname für die, die in diesem Krieg an vorderster Front stehen. Schattenagenten, die es offiziell gar nicht gibt. Geister.«
Sie verzog das Gesicht und wandte sich an Ruben. »Nein.«
»Sie sollten lieber erst zuhören, bevor Sie eine Entscheidung treffen.«
»Vielleicht ist es nicht in Ihrem Interesse, wenn Sie mir mehr sagen.«
»Denken Sie nach«, sagte er scharf. »Wenn ich recht habe, kann es nur dieser Schatteneinheit gelingen, eine Große Alte davon abzuhalten, die Herrschaft über unsere Nation an sich zu reißen und einen Genozid zu begehen, um anschließend eine weltweite Theokratie zu errichten. Wenn ich unrecht habe, ist es der Versuch, eine kriminelle Vereinigung zu gründen, aufgrund von Wahnvorstellungen oder aus Machtgier. Dann müssen Sie mich aufhalten. In beiden Fällen ist es Ihre Pflicht, so viele Informationen wie möglich zusammenzutragen.«
»Verdammt«, flüsterte sie. Dann noch einmal und lauter: »Verdammt, verdammt, verdammt.« Ihr Magen revoltierte. Sie schloss die Finger um die Armlehnen des Sessels, in dem sie saß, und öffnete sie wieder, immer wieder. Sie sog die Luft ein, hielt sie kurz an und stieß sie mit einem langsamen Schauder wieder aus. »Richtig. Sie haben recht. Sagen Sie es mir.«
Er lehnte sich ein kleines Stück zurück. »Es gibt immer wieder Dinge, die ich aus den Akten heraushalte. Ein paar davon kennen Sie – Geheimnisse der Lupi, wie das Band der Gefährten. Ich nehme an, die Lupi haben, noch mehr Geheimnisse, von denen Sie mir nichts gesagt haben, und ich vermute, dass es Ereignisse gibt, die Sie mir verschwiegen haben. Selbstverständlich weiß ich nichts Genaues, also kann ich mich auch irren, wenn ich annehme, dass Sie auch gelegentlich in der Lage waren, etwas Außergesetzliches tun zu müssen.«
Sie wollte etwas sagen, schüttelte dann aber nur den Kopf – nicht, um seine Annahmen abzustreiten, sondern um ihm anzuzeigen, dass sie sie nicht kommentieren würde.
»Jetzt denken Sie einmal nach: Sie sind nur eine einzelne Agentin. Eine, auf die, wie sich herausgestellt hat, unsere Feindin offenbar ihre Angriffe konzentriert, ja, vielleicht, aber trotzdem nur eine.«
»Wollen Sie damit sagen, dass es mehr Angriffe gibt, als die, von denen ich weiß?«
»Oh, ja. Überlegen Sie mal. Es gibt einhundertneunundsiebzig Vollzeitagenten bei der Einheit, einundvierzig Gruppen oder Einzelpersonen, die wir wegen ihrer Fachkenntnisse hinzuziehen, sechshundertfünf Agenten in der Magical Crimes Division und knapp viertausend normale FBI-Agenten. Glauben Sie wirklich, dass Sie als Einzige mit hochbrisanten Situationen konfrontiert waren, in denen Sie mit außergewöhnlichen magischen Praktiken oder Wesen zu tun hatten? Situationen, die nicht mit traditionellen Polizeimethoden zu lösen waren?«
»Ich weiß von keinem Fall, in dem unsere Leute zu unkonventionellen Methoden gegriffen haben.«
»Und die Presse glücklicherweise auch nicht.« Er machte eine Pause. »Immer öfter war ich vor die Wahl gestellt: Wenn ich die Durchsetzung geltenden Rechts als meine oberste Priorität ansehe, muss ich hohe Verluste akzeptieren – sowohl unter den Agenten der Einheit als in der Zivilbevölkerung. Wenn es aber meine oberste Pflicht ist, die Menschen dieser Nation zu schützen, werde ich gezwungen sein, mehr und mehr außergesetzliche Aktionen unserer Agenten zuzulassen und stillschweigend zu fördern.«
»Jeder Polizeibeamte muss irgendwann einmal diese Entscheidung treffen«, sagte Lily. »Wäre es einfacher, wenn wir dem Mistkerl, der einen Mord begangen hat, nicht seine Rechte vorlesen müssten? Ja, klar. Würde man damit vermeiden können, dass er eventuell noch einmal zuschlägt? Vermutlich. Doch dadurch wird es nicht vertretbarer. Aus gutem Grund sind wir als Cops nicht auch Ankläger und Richter der Täter, die wir festnehmen.«
Er nickte. »Natürlich haben Sie recht. Und trotzdem wuchs in mir in den letzten Monaten die Überzeugung, dass es eine Organisation geben muss, die getrennt von Rechtsinstitutionen operiert. Ich begann darüber nachzudenken, wie so eine Organisation aussehen, wie sie funktionieren und kommunizieren könnte und wie man ihre Existenz geheim halten könnte. Dabei sah ich mich nicht selbst als Leiter einer solchen Organisation, sondern würde lediglich bei ihrem Aufbau helfen und im Anschluss dann mit ihr kooperieren und sie manchmal auch im Verborgenen unterstützen.«
Lily nickte zögernd. Das hörte sich nicht so übel an, wie sie zuerst gedacht hatte. Solange Ruben Leiter der Einheit war, durfte er eine solche Gruppe nicht gründen, aber immerhin plante er, sich anschließend zurückzuziehen. Nun, das konnte sie guten Gewissens für sich behalten. »Wenn Sie wollen, dass ich Ihnen verspreche, Stillschweigen zu –«
»Noch nicht. Ich hatte zwar nicht geplant, die Schatteneinheit zu führen, aber dann sind drei Dinge passiert, die meine Meinung geändert haben. Erstens: Robert Friar erhielt eine ungeheuer mächtige Gabe von unserer Feindin. Zweitens: Ich bekam Anrufe von den Rhos aller Lupi-Clans der Welt.«
»Diese Anrufe –« Sie brach ab und sah Rule an. Einer dieser Anrufe war von ihm gewesen. Nachdem die Dame den Clans befohlen hatte, mit Ruben zusammenzuarbeiten – mit ihm persönlich, nicht mit der US-Regierung.
Rule hatte sein steinernes Gesicht aufgesetzt – das, von dem sie nichts ablesen konnte. Sie hasste dieses steinerne Gesicht. War er schockiert? Erfreut? Entschlossen, sie nicht zu beeinflussen? Was immer zur Hölle es war, sie konnte es nicht erkennen, und er schwieg beharrlich. Lily wandte den Blick wieder Ruben zu. »Ich weiß von den Anrufen.«
Er nickte. »Zuerst dachte ich, die Clans würden die meisten Mitarbeiter der Schatteneinheit stellen und dass deswegen ein Lupus der Leiter sein sollte.«
Das ergab tatsächlich Sinn. Lupi dachten nicht an die Gesetze der Menschen. Sie dachten nur daran, sie aufzuhalten und waren bereit, alles – Herz, Kopf, Leben, Clans, einfach alles – dafür einzusetzen. Dass sie eine solche Organisation im Geheimen unterstützten … ja, das konnte sie sich vorstellen. Sogar, dass auch sie sich dafür entschied. Aber dass Ruben sich selbst als Leiter einer Geheimorganisation einsetzte, die außerhalb des Gesetztes operierte und dabei Agenten und andere Ressourcen des FBI nutzte … nein. Nein, nein und nochmals nein. »Sie haben Ihre Meinung geändert.«
»Ich habe mich mit den Rhos beraten. Und auch mit anderen.« Er nickte Fagin zu. »Ich verfüge über Informationen, die Sie nicht haben – ein Defizit, das ich heute zum Teil ausgleichen werde –, aber das, was die Rhos mir berichteten, hat bei meiner Entscheidung eine Rolle gespielt. Ihre Dame hatte sie angewiesen, sich mir anzuschließen. Ich wusste, ich war nicht gezwungen, ihnen ebenfalls meine Kooperation anzubieten, aber ich musste verstehen, was es bedeutete, falls ich es tat. Außerdem gaben sie mir viele Informationen über unsere gemeinsame Feindin. Ich begriff, gegen eine Große Alte vorzugehen – selbst wenn diese nicht direkt in unserer Welt agieren kann –, erfordert Mittel und Wissen, über die nur eine Regierungsbehörde verfügt.«
»Sie haben sich mit den Rhos beraten.« Langsam wandte sie sich Rule zu. »Mit allen?«
Rule ergriff das Wort. »Er hat sich auch mit mir beraten, ja.«
»Dann wusstest du davon – von dieser Schatteneinheit. Seit vielleicht einem Monat wusstest du es. Und hast mir nichts gesagt. Du hast dafür gesorgt, dass ich es nicht erfuhr.«
»Weil wir wussten, dass du genauso reagieren würdest – mit Wut, dem Gefühl des Verrats und dem brennenden Wunsch, jemanden zu verhaften.«
Ja, etwas brannte in der Tat. Ihre Augen zum Beispiel. Sie konnte ihn nicht ansehen. Brachte es einfach nicht über sich. Aber Ruben wollte sie auch nicht ansehen, deshalb starrte sie, um Selbstbeherrschung ringend, in ihren Schoß.
»Lily«, sagte Fagin sanft, »ziehen Sie doch die Möglichkeit in Betracht, dass Sie unrecht haben. Sie kennen uns. Mich nur flüchtig, nehme ich an, aber Ruben kennen Sie gut. Und Rule natürlich noch besser. Würden sie diesen Schritt unternehmen, wenn Sie nicht davon überzeugt wären, dass er wirklich nötig ist?«
Sie ballte die Hände zu Fäusten. Er war zu alt, um ihm einen Boxhieb zu versetzen, aber sie hatte nicht übel Lust, jemanden zu verprügeln. »Ziehen Sie die Möglichkeit in Betracht«, sagte sie mit zusammengebissenen Zähnen, »dass jeder, der außerhalb des Gesetzes operiert, es missbrauchen wird. Vielleicht nicht mit Absicht. Vielleicht wird er sich einreden, dass er es tun musste, aber das ist nur eine andere Version von ›Der Zweck heiligt die Mittel‹. Früher oder später – vor allem, wenn so viel auf dem Spiel steht – werden diese Leute Menschen schaden, um sich selbst zu schützen. Denn würden sie enttarnt, könnte das ja der Feind für seine Zwecke nutzen, nicht wahr?«
Jetzt blickte sie auf, Ruben direkt in die Augen. »Macht ohne Kontrolle korrumpiert. Da gibt es keine verdammte Ausnahme.«
Er sah müde aus. »Glauben Sie, darüber hätte ich nicht schon nachgedacht? In diesem Land soll die Arbeit der Strafverfolgungsbehörden für die Öffentlichkeit transparent sein. Wir haben Macht über das Leben der Menschen. Die Ausübung dieser Macht muss kontrolliert werden. Doch durch die Gründung einer Schattenorganisation umgehe ich diese Kontrolle und öffne damit dem Missbrauch Tür und Tor. Meine Hoffnung ist, dass nicht genug Zeit bleibt, bis sich Korruption ausgebreitet hat.«
»Aber wenn Sie glauben, Sie könnten sie innerhalb von ein oder zwei Monaten besiegen –«
»Ein oder zwei Monate. Interessant, dass Sie gerade diese Zeitspanne wählen. Ohne die Schatteneinheit bleiben den Vereinigten Staaten noch etwa zwei Monate bis zum Zusammenbruch.«
Er sprach nicht weiter. Weder Rule noch Fagin ergriffen das Wort. Lily saß regungslos da. Ihr Verstand lief vor seinen Worten davon, und ihr Magen krampfte sich so fest zusammen, als könnte er einen Knoten in die Stille drehen, damit sie nicht hören musste, wie …
Doch vergeblich. Sie musste es sagen. »Na gut. Na gut. Reden Sie weiter.«
»Das dritte Ereignis, das mich umgestimmt hat, war eine Reihe von Visionen.«
Dank seiner Gabe hatte Ruben Vorahnungen, und zwar sehr genaue. Er wusste, welche Maßnahme er ergreifen und welche er unterlassen musste, jedoch ohne den Grund dafür zu kennen. Seine Genauigkeit hatte er schon oft unter Beweis gestellt. Doch in die Zukunft konnte er nicht sehen – normalerweise. Denn sie wusste, dass er es einmal getan hatte: Als ein drei- oder viertausend Jahre altes, unsterbliches Wesen kurz davorstand, sich und seine Macht auf der Erde zu manifestieren und Kalifornien und wohlmöglich das ganze Land mit Chaos und Verwüstung zu überziehen.
Damals hatten ihn diese Visionen dazu bewegt, sich zurückzuhalten, Lily zu vertrauen, obwohl sie ihm keinerlei weitere Informationen hatte geben können. Weil er ihr und seinen Vorahnungen vertraute, hatte er am Ende seine Amtsgewalt auf die einzig dienliche Weise eingesetzt.
Und jetzt wollte er, dass sie ihm vertraute – und seinen Visionen.
»Ohne die Schatteneinheit«, sagte Ruben leise, »wird in etwa zwei Wochen vielleicht ein Drittel der magisch Begabten in diesem Land tot sein. Die Einheit wird es nicht mehr geben, denn ihre Mitglieder werden tot sein oder im Gefängnis oder auf der Flucht. Die Präsidentin und möglicherweise auch der Vizepräsident werden tot sein. Die Nation wird in Panik geraten, und der Mob über jeden herfallen, den er verdächtigt, magische Kräfte zu haben. Viele Zivilisten und Polizeibeamte werden den magisch Begabten, die versuchen sich zu wehren, zum Opfer fallen. In einem Szenario ziehen sich die überlebenden Lupi nach Kanada zurück. In einem anderen verschanzen sie sich auf ihren Clangütern, doch nach dem Militärputsch –«
»Dem was?!«
»Ich habe fünf verschiedene Szenarien gesehen. Eines endet mit einer enormen Naturkatastrophe an der Westküste, welcher Art ist unklar. Vier enden in einigen Monaten mit einem Militärputsch, der die zivilen Regierungen im Westen, Mittleren Westen und in der Mitte der Vereinigten Staaten ablöst und freie Wahlen durch das Kriegsrecht ersetzt. Der Süden versinkt in Anarchie. Kanada und Großbritannien schicken Truppen, um das, was von der US-Regierung im Nordosten noch übrig ist, zu unterstützen, aber aufgrund des Zusammenbruchs der Vereinigten Staaten bricht die Weltwirtschaft ein. Die beherrschende Kraft in der neuen Weltordnung ist eine aus dem Coup hervorgegangene Militärdiktatur, die aus religiösen Fanatikern besteht, die – manche wissentlich, manche nicht – ihre Stellvertreter sind.«
Lilys Hände waren eiskalt. Sie wollte ihm nicht glauben. Doch er war sich so sicher, so verdammt sicher … »Sie sagten, so wird es ohne ihre Schatteneinheit sein. Und mit ihr? Was passiert dann?«
»Dann haben wir eine reelle Chance, die Ereignisse, die die Krise beschleunigen, zu verhindern.«
»Was …« Lilys Mund war zu trocken. Sie musste erst innehalten und genug Speichel sammeln, bevor sie weitersprechen konnte. »Was für Ereignisse?«
Er schüttelte den Kopf.
Wusste er es etwa nicht? Nein … wenn es das wäre, dann hätte er es gesagt. Er meinte, dass er es ihr nicht sagen würde.
Fagin sagte mit träumerischer Stimme: »Wir wissen, was für eine Gabe Friar von unserer Feindin erhalten hat.«
Benommen sah Lily den alten Mann an. Erst dann begriff sie, was er gesagt hatte. Robert Friar hatte eine Gabe von der Großen Alten, die er angebetet hatte, bekommen – dieselbe, die Ruben als ihre Feindin bezeichnet hatte. Die, die die Lupi oft die Erzfeindin nannten, denn es war gefährlich, sie bei einem ihrer Namen zu nennen. Lily und Rule waren bei einem Teil des Rituals, mit dem Friar diese neue Kraft verliehen worden war, dabei gewesen, ohne es allerdings verhindern zu können … Rule, weil er in einem Käfig eingeschlossen war, Lily, weil sie gegen Elfen kämpfte, die versuchten, sie zu töten. Kurz danach war der Netzknoten, der das Ritual mit Energie versorgte, instabil geworden und hatte den halben Berg zum Einsturz gebracht, der Lilys SIG Sauer und vermutlich auch Robert Friar unter sich begraben hatte.
Lily hatte in Wahrheit nie daran geglaubt. »Wie können Sie das wissen?«
Fagin lächelte nur. »Mustersichten. Friar kann jetzt Mustersichten, und das ungewöhnlich präzise und sicher. Ruben fand es heraus, kurz nachdem Friar angeblich gestorben war.«
Sie sah ihren Chef an. Mehr als einmal hatte sie ihr Leben aufs Spiel gesetzt, weil sie seinen Vorahnungen vertraut hatte. Aber ihm jetzt zu glauben, obwohl es keine Grundlage gab, keine Beweise … Was, wenn er sich irrte? Er war gut, aber auch er war nicht vor einem Irrtum gefeit. »Woher wissen Sie das? Hatten Sie wieder eine Vorahnung?«
»Mein Wissen ist subjektiver Natur, aber keine Vorahnung. Lily, Sie wissen, dass ich durch meine Gabe über Ereignisse Bescheid weiß, die in der nahen oder sehr nahen Zukunft stattfinden. Weiter entfernte Ereignisse sind zu veränderlich, als dass ich ein Gefühl dafür bekommen könnte.«
»Aber dieses Mal ist das, was Sie sehen, doch ziemlich detailliert. Und das soll erst in über einem Monat stattfinden.«
Er nickte. »Das ist es auch, was mein Misstrauen geweckt hat. Meine Visionen begannen, nachdem der Netzknoten kollabiert ist.«
»Ich verstehe nicht, warum –«
»Wenn Sie aufhören, Fragen zu stellen, bekommen Sie schneller Antworten. Erst muss ich kurz erklären, wie meine Gabe funktioniert. Nur selten habe ich Vorahnungen, geschweige denn Visionen von Ereignissen, die mehr als ein paar Tage in der Zukunft liegen. Selbst das, was sich in einer Woche ereignen wird, ist so instabil, dass ich nicht viel empfange.«
Das hatte er ihr schon einmal erzählt. »Zu viele Scheidepunkte, haben Sie mir einmal gesagt. Zu viele Möglichkeiten, zu viele Entscheidungen, zu viele Menschen bestimmen, wie letztlich ein Ereignis ausfällt, und je weiter dieses Ereignis in der Zukunft liegt, desto mehr multiplizieren sich diese, bis es nur noch so etwas wie atmosphärische Störungen sind.«
Er nickte. »Und trotzdem hatte ich auf einmal klare Visionen von Ereignissen, die zu diesem Zeitpunkt noch drei Monate entfernt waren, manche sogar sechs und mehr. Dafür konnte es nur eine Erklärung geben: Die Zukunft war künstlich konzentriert worden. Ich begriff, dass ein außerordentlich starker Mustersichter die Ereignisse manipuliert hatte, indem er sie durch einen einzigen Kanal fließen ließ. Als ich das verstanden hatte, konsultierte ich Sherry. Sie wissen, dass ihr Coven mittels einer Simulacrum-Karte die Netzknotenaktivitäten im ganzen Land beobachtet.«
Ja, das wusste Lily, auch wenn sie keine genaue Vorstellung davon hatte, wozu eine »Simulacrum-Karte« gut war. Sie nickte.
»Wir hatten gehofft, sie könnte rekonstruieren, was an dem Netzknoten passiert, den man benutzt hatte, um Friar seine Gabe zu verleihen. Bisher ist es ihr jedoch nicht gelungen. Doch dabei entdeckte sie, dass so gut wie alle Knoten im Land von einer einzigen, wenn auch nicht identifizierbaren Quelle angezapft werden.«
»Alle Knoten? Aber das ist nicht möglich. Das ist … müssen sich denn die Praktizierenden nicht in räumlicher Nähe befinden, um –«
»Das haben wir immer geglaubt. Ein einzelner Mustersichter muss über sehr viel Macht verfügen, um Ereignisse im ganzen Land beeinflussen zu können.«
Plötzlich meldete sich Fagin zu Wort. »Man nennt sie auch die Gabe der Götter, wissen Sie. Muster zu sichten ist die subtilste und gefährlichste aller Gaben. Wenn ich mich nicht irre, haben Sie schon einmal Bekanntschaft mit einem Mustersichter gemacht.«
Lily warf Ruben einen scharfen Blick zu. Offenbar hatte er Fagin so einiges anvertraut, darunter auch streng vertrauliche Informationen. »Eigentlich kenne ich sogar mehr als einen.«
»Tatsächlich?« Fagins buschige Brauen schossen in die Höhe. »Ich meinte jemanden namens Jiri. Sie hatten einige Probleme, sie zu überwältigen.«
»Ich habe sie nicht überwältigt«, sagte Lily trocken, »ich bin einfach nur am Leben geblieben. Sie nicht, aber nur, weil ihr nur eines wichtig war. Und das hat sie bekommen.« Das Leben ihrer Tochter. Jiri war sicherlich kein guter Mensch gewesen, aber sie hatte ihr Leben für das ihrer Tochter hergegeben. Das Mädchen war anschließend vom Lu Nuncio der Leidolf adoptiert worden.
Fagin legte die Fingerspitzen über seinem Bauch aneinander. »Dann kennen Sie sich mit dieser Gabe ja ein bisschen aus. Mustersichter kommen nur selten vor, und dafür können wir dem Himmel danken. Zuerst ist die Gabe fast immer nur schwach ausgeprägt. Ein schwacher Sichter nimmt Ereignismuster unbewusst wahr. Er kann lernen, seine Gabe so zu benutzen, dass seine Wirkung auf Ereignisse weniger zufällig ist, aber er nimmt die Muster nicht zielgerichtet wahr. Das kann nur ein starker Sichter. Ein starker und erfahrener Sichter kann diese Muster auf subtile Weise so manipulieren, dass das geschieht, was er will.«
»Ich dachte, alle Mustersichter täten das.«
»Sie wirken alle auf Ereignisse ein, doch die Schwachen nur leicht und oft auf nicht vorhersehbare Weise. Ein starker, aber erfahrener Sichter dagegen … das ist jetzt vielleicht ein wenig viel Theorie«, sagte er entschuldigend. »Starke Mustersichter sind so selten, dass wir nicht über gesicherte Daten verfügen, wie ihr Gift funktioniert, aber es gibt einzelne Berichte und historische Zeugnisse. Ein starker, aber ungeübter Sichter wird im Allgemeinen ein Meister einer bestimmten Anwendungsweise seiner Gabe, doch nicht in allem. Napoleon ist ein gutes Beispiel für diesen Typus.«
Sie blinzelte. »Ach ja?«
»Ganz sicher. Er wird oft als militärisches Genie dargestellt, aber sein wahres Talent lag im Ränkespiel der Politik – und dort setzte er auch seine Gabe sehr wirksam ein. Letztendlich wurde er dann auf dem Schlachtfeld besiegt, doch politisch nie. Wenn er sich die Zeit genommen hätte, seine Gabe besser zu entwickeln, bevor er sein Land in den Krieg stürzte, hätte es ihm möglicherweise die Niederlage erspart. Ich vermute, dass Jiri beides war: eine starke Mustersichterin und sehr erfahren. Aber sie war nicht annähernd so mächtig wie Friar es jetzt ist.«
Das waren ja keine guten Nachrichten.
Fagin lächelte sanft. »Mustersichten wird ›die Gabe der Götter‹ genannt, weil wir glauben – und mit ›wir‹ meine ich verstaubte alte Wissenschaftler wie mich –, dass manche von denen, die früher einmal als Götter angebetet wurden, echte Wesen waren: Mustersichter mit großer Macht, die ihre Gabe meisterhaft beherrschten. Sie waren in der Lage, eine solche Vielzahl von Ereignissen gleichzeitig zu beeinflussen, dass es sie nicht vernichtete, wenn sich ein Faden aus ihrem Gewebe löste. Friar besitzt eine Macht, um die ihn ein Meister beneiden würde. Doch noch fehlt ihm die Erfahrung, sie auf gottgleiche Art einzusetzen. Das ist ein Vorteil für uns. Der andere –«
»Die Schatteneinheit«, sagte sie müde. »Jetzt werden Sie mir sagen, dass sie gebraucht wird, um Friar zu fassen.«
»Nein, ich sage Ihnen, dass Ruben gebraucht wird, um diese Einheit zu leiten. Es gibt zwei Gaben, die einen Mustersichter aus dem Konzept bringen können. Eine davon ist die unsere. Sensitive können nicht von einem Mustersichter manipuliert werden, was uns zu einem starken Felsen in ihrem künstlichen Strom macht.«
Zum ersten Mal seitdem er zugegeben hatte, sie getäuscht zu haben, mischte sich Rule ins Gespräch. »So wie auch die Lupi, zumindest soweit es Friar betrifft.«
Fagin nickte freundlich. »Ja, daran haben Sie keinen Zweifel gelassen. Ihr Verlobter«, er wandte sich an Lily, »behauptet, Lupi seien immun gegen ihre Magie. Da Friar seine Gabe von ihr erhalten hat, müsste das auch für ihn gelten. Sie und ich und die Lupi bilden, äh … nennen wir es tote Punkte in seinen Manipulationen. Er kann Ereignisse auslösen, die Einfluss auf uns haben, aber dazu braucht er mehr Energie, denn seine Magie hat keine Wirkung auf uns. Aber es gibt nur eine Gabe, mit der man wirklich etwas gegen einen starken Mustersichter unternehmen kann. Präkognition.«
Lily runzelte die Stirn. »Weil es dem Mustersichten ähnelt? Wenn er eine Vorahnung hat, nimmt ein Präkog Muster wahr, nehme ich an.« Oder er hat Visionen von der Apokalypse.
Ruben rutschte leicht auf seinem Stuhl hin und her. »Nein, ich glaube, so ist es nicht.«
»Nein?«
»Fagin und ich haben es diskutiert.« Ein Lächeln huschte über Rubens schmales Gesicht. »Ausführlich. Er ist der Meinung, meine Gabe fange Muster aus der Zukunft auf, so wie ein Mustersichter die Muster in der Gegenwart wahrnimmt. Ich kann das natürlich nur von meiner subjektiven Warte aus beurteilen, aber so empfinde ich es nicht. Ich habe darüber mit dieser jungen Frau gesprochen, die Sie mir zur Ausbildung geschickt haben.«
»Anna Sjorensen.« Die zweite Mustersichterin, die Lily kannte.
»Ja. Ihre Gabe ist recht schwach, deswegen nimmt sie nicht direkt Muster wahr. Das würde bedeuten, wenn ich ebenfalls Muster sichte, müsste ihre Erfahrung mit ihrer Gabe mit dem korrespondieren, was ich erlebe, wenn ich Vorahnungen habe. Doch unsere Gespräche haben ergeben, dass das nicht der Fall ist.«
Fagin schnaubte. »Was auch bedeuten könnte, dass die Muster der Zukunft anders erlebt werden als die der Gegenwart. Oder dass Sie zwei verschiedene Menschen sind, deren Verstand die Dinge anders interpretiert.«
Rubens Lächeln kehrte zurück. »Möglich. Aber Muster sind ein Raum-Zeit-Konstrukt. Ich habe das starke Gefühl, dass die Informationen, die meine Gabe mir liefert, nicht so gebunden sind – dass sie von einem anderen Ort, aus einer anderen Zeit kommen, einem Zustand, für den es keine Worte gibt, weil er jenseits von Raum und Zeit ist.«
In sehr höflichem Ton sagte Rule. »Ich bin sicher, Sam würde sich mit Freuden mit Ihnen über Ihre Vorstellungen von Zeit und Präkognition unterhalten.«
Daraufhin wurde Rubens Lächeln tiefer. »Ich komme vom Thema ab, nicht wahr? Danke für die Ermahnung. Lily, der Punkt ist, dass ich als Weiche fungieren kann, um die Ereignisse weg von dem von Friar geschaffenen Weg zu lenken. Doch dafür brauche ich Ressourcen und die Mitarbeit von sehr vielen Leuten. Deshalb sollte ich der Leiter der Schatteneinheit sein.«
Lange saß sie schweigend da. »Vorhin sagten Sie: ›die überlebenden Lupi‹. Als Sie über Ihre Vision redeten, sagte Sie ›die überlebenden Lupi verschanzen sich auf ihren Clangütern‹. Was meinten Sie damit?«
Ruben wählte seine Worte mit Bedacht, wie ein Mann, der über ein Minenfeld geht und nur die Lage einiger weniger Minen kennt. »Es gibt Dinge, über die kann ich zu diesem Zeitpunkt noch nicht reden, aber die größte Veränderung, die ich in den Szenarien sah, betrifft die Lupi. Ich nehme an, weil ihre bloße Existenz ihre Macht behindert. Um ihr Ziel zu erreichen, muss sie sie vernichten.«
Niemand rührte sich. Niemand sagte etwas. Es war so still, dass Lily ihren eigenen Puls hören konnte wie das Meeresrauschen in einer Trompetenmuschel. Irgendwo im Haus klirrte etwas. Vielleicht wusch Deborah das Geschirr ab.
»Na gut«, sagte sie endlich. »Ich verspreche, Stillschweigen über all das zu bewahren. Ich verstehe Ihre Beweggründe. Und ich werde von Zeit zu Zeit diese verdeckte Unterstützung leisten, von der Sie gesprochen haben. Aber ich werde keiner Ihrer Geister werden.«