26
In Arrestzellen brennt immer Licht.
Die dicke Frau mit Dreadlocks und einem blutbespritzten orangefarbenen T-Shirt wiegte sich leise murmelnd vor und zurück. So wie schon die ganze Nacht. Die hispanische Frau stritt sich mit einer zerbrechlich aussehenden Blondine mit geschwollener Lippe und zerrissenem T-Shirt. Vor den Gitterstäben schüttete sich eine dürre Frau vor Lachen über etwas aus, das eine ihrer Freundinnen gesagt hatte. Die drei waren Prostituierte und dabei Lilys umgänglichste Zellengenossinnen … es sei denn, man zählte die bereits Entlassenen dazu. Wie die weißhaarige Frau in dem Dior-Kostüm, die vor ungefähr dreißig Minuten sich selbst und den Boden vollgespien hatte. Lily hatte aufstehen und den Kopf der Frau zur Seite drehen müssen, damit sie sich nicht an ihrem eigenen Erbrochenen verschluckte und erstickte. Am hinteren Ende der Zelle saß eine traurig aber nüchtern aussehende junge schwarze Frau mit irgendeinem Magenproblem auf der Toilette und versuchte so zu tun, als sei sie allein.
Als Lily angekommen war, hatte eine muskulöse Frau um die vierzig mit schlechten Zähnen und Biker-Tattoos versucht, Gefälligkeiten für die Benutzung der Toilette einzutreiben – »Ich sorge dafür, dass die schwarzen Schlampen dich nicht ärgern, und du revanchierst dich dafür bei mir, okay?« Ein »Lassen Sie mich in Ruhe« wollte sie nicht als Antwort gelten lassen, vermutlich weil Lily zu klein war, um bedrohlich zu wirken. Daraufhin hatte Lily sie so schnell zu Boden geworfen, dass die Wachleute es entweder nicht bemerkten oder keine Notwendigkeit sahen einzugreifen.
Die Fluktuation war hoch. Die Frau mit den schlechten Zähnen war längst fort. So wie auch alle anderen, die in der Zelle gewesen waren, als die Tür sich hinter Lily geschlossen hatte.
Lily hatte einen der besten Plätze ergattert: an der Tür mit dem Rücken an der Wand neben den Gitterstäben, dort wo die Luft ein wenig besser war. Einen Meter vor ihrem Gesicht befanden sich die zerrissenen Jeans eines Mädchens, das vermutlich nicht einmal achtzehn war. Offensichtlich war sie auf Entzug, denn sie trat unaufhörlich von einem Fuß auf den anderen und starrte mit wildem Blick durch die Gitterstäbe. »Ich muss hier raus. Ich muss hier raus.«
Es hätte schlimmer kommen können. Lily hatte schon Schlimmeres erlebt. Die Zelle war nie so voll gewesen, dass man sich nicht hätte setzen können, und einen Teil der Zeit hatte sie sich sogar ausstrecken können. Dann war sie zu schläfrig geworden, hatte es aber nicht gewagt einzuschlafen – ob aus gesundem Menschenverstand oder schierer Paranoia mochte dahingestellt sein.
Ja, sie war hier, weil sie Mist gebaut hatte. Und weil sie von der Dame manipuliert worden war, damit sie die verdammte Clanmacht zu Ruben trug. Aber tief in ihrem Inneren war sie sich sicher, dass sie auch deshalb hier war, weil jemand das so wollte.
Man hatte ihr eine Falle gestellt. Und sie war hineingetappt.
Davon war sie fest überzeugt, auch wenn sie es nicht beweisen konnte. Trotzdem überlegte sie immer wieder, wer als Verdächtiger infrage kommen könnte. Drummond? Sjorensen? Mullins? Sie hatte nichts in der Hand.
Fast nichts. Seit sie hier eingesperrt war, hatte sie nichts anderes zu tun gehabt als sich Gedanken zu machen, und einige waren tatsächlich nicht schlecht gewesen. Immerhin stand jetzt ihre Liste der noch offenen Fragen, und sie hatte ein paar Ideen, wo sie als Nächstes ansetzen wollte, falls sie je hier rauskam.
Lily rutschte hin und her; sie war es leid herumzusitzen. Aber sie konnte nirgends hin. Hatte nichts zu tun. Fast einen ganzen Tag war sie nun schon hier. Man hatte ihr erlaubt, einen Anruf zu machen, doch mittlerweile begann sie zu glauben, dass sie die falsche Person angerufen hatte. Keine der anderen war schon so lange hier wie sie. Eigentlich hätte sie gar nicht so lange hier festgehalten werden dürfen.
Und außerdem hätte sie gar nicht hier sein dürfen. Und das nicht nur aus naheliegenden Gründen.
Ihre Inhaftierung hatte Drummond an seinen Lieblingslakai delegiert. Doug Mullins war es gewesen, der sie hierher gebracht hatte, nicht ins Hauptquartier oder in eine andere bundesstaatliche Einrichtung, nicht in einen Vernehmungsraum. Sie war überhaupt nicht vernommen worden. Entweder aus reiner Bosheit oder aus einem anderen, ominöseren Grund. Wenn man sie befragt und sie sich geweigert hätte, die Fragen zu beantworten, ohne dass ein Anwalt anwesend wäre, hätte man sie in eine reguläre Zelle bringen müssen, nicht in die stinkende Hölle dieser Arrestzelle in einem County-Gefängnis. Das bedeutete, dass man sie genau hier haben wollte – doch warum? Sollte sie einfach nur eine schlaflose Nacht verbringen? Oder gab es noch einen ganz anderen Grund dafür, sie beiseitezuschaffen, zwar ganz nach Vorschrift, aber nicht dorthin, wo niemand sie suchen würde?
Die Gründe, die ihr eingefallen waren, waren vermutlich total absurd. Trotzdem hatte sie es nicht gewagt zu schlafen.
Einmal hatte sie Rule gesagt, sie wüsste gern, wie es wäre, ihn zu vermissen. Sie hatte angenommen, durch das Band der Gefährten würde sie es nie erfahren. Außerdem hatten sie es nie darauf ankommen lassen. Manchmal ließ sie es zu, dass sie sich weiter voneinander entfernten, doch da sich das schnell wieder ändern konnte, hatten sie immer darauf geachtet, sich in derselben Stadt aufzuhalten.
Jetzt war er viele Meilen entfernt. Zweihundert? Dreihundert? Sie wusste es nicht. Warum so weit? Wo war er, und wo wollte er hin? Es war ihnen keine Zeit geblieben, darüber zu sprechen, was er vorhatte – außerdem hätte er es in seiner damaligen Gestalt gar nicht gekonnt.
Doch eines war sicher: Die große Entfernung bedeutete, dass er und Ruben hatten entkommen können. Wenigstens war Rule nicht in dieser übel riechenden Zelle eingesperrt. Und Ruben … guter Gott. Die Dame wollte tatsächlich ihn als Rho der Wythe? Er war ein Lupus? Das konnte doch nicht sein. Man musste als Lupus geboren werden. Und um die Clanmacht zu übernehmen, musste man ein direkter Nachfahre des Clangründers sein.
Fang mit dem an, was ist, und arbeite dich von da aus zurück, sagte sie sich. Ruben hatte seinen ersten Wandel durchgemacht. Er roch nach Lupus. Vorher nicht, jetzt schon. Das alles ergab eindeutig und ohne jeden Zweifel: Ja, was immer mit ihm geschehen war, er war jetzt ein Lupus. Zweiter Fakt: Er trug die Clanmacht der Wythe in sich, doch nicht so wie Lily, als passiver Passagier. In ihm war sie aktiv. Scott hatte sich nicht gegen ihn durchsetzen können, hatte ihn im Kampf nicht besiegen können. Bedeutete das, dass etwas vom Blut des Gründers in seinen Adern floss? Wusste sie irgendetwas, das dem widersprach?
Mit Sicherheit wusste sie gar nichts, Punkt. Doch es war ein Punkt, den sie überprüfen musste … wenn sie je hier herauskam. Wenn sie je … Ihr Kopf ruckte. Sie war eingedöst. Nur für eine Sekunde, aber sie konnte nicht ewig wach bleiben. Es war besser, sie stand auf und ging ein wenig herum, machte ein paar Streckübungen oder Sit-ups oder so, damit sie wach wurde.
Gleich, in einer Minute. Obwohl es vermutlich verrückt war zu glauben, dass ihr Gefahr drohte. Das einzig Bedrohliche in den fünfzehn Stunden, die sie bisher hier verbracht hatte, war die Frau mit den schlechten Zähnen gewesen, und die war auf »Gefallen« aus gewesen, nicht auf Mord. Trotzdem würde sie aufstehen und sich bewegen und …
Ihr Kopf ruckte wieder.
Eine der Wärterinnen, eine mollige Frau, die seit dreißig Jahren nicht mehr gelächelt hatte, kam zur Tür. »Lily Yu.«
Lily blinzelte und stand langsam auf. »Ja?«
»Schätze, Sie haben einen guten Anwalt.« Die Frau schloss die Zellentür auf.
Die Wärterin hielt keine Handschellen für sie bereit. »Ich … werde freigelassen?«
»Auf Kautionsversprechen. Folgen Sie mir, bitte.«
Die Anklageerhebung, während der die Kaution festgelegt wurde, es sei denn, der Richter entschied, sie auf eigenes Kautionsversprechen freizulassen, hatte noch nicht stattgefunden. Lily schüttelte den Kopf, um wach zu werden, und verließ die Zelle.
Die Freilassung war bei Weitem nicht so demütigend und zeitraubend wie die Aufnahme, trotzdem dauerte sie eine Weile, denn sie musste den Empfang eines jeden Gegenstandes, der ihr ausgehändigt wurde, bestätigen – Schuhe, Jacke, Halskette und Verlobungsring. Handy. Die Handtasche samt Inhalt. Schulterholster. Waffe. Sie bekam alles zurück.
Außer dem, was ihr am wichtigsten war. Ihr Leben konnten sie ihr nicht zurückgeben. Andererseits hatten sie es ihr auch nicht genommen. Sie hatte es aus freiem Willen weggeworfen.
Ob sie noch mehr Zeit als diesen einen Tag in Haft würde verbringen müssen, wusste Lily nicht. Behinderung von Ermittlungen war eine ernste Beschuldigung, die aber schwer und nur unter großen Kosten zu beweisen war; es fanden sich nur wenige Bundesstaatsanwälte, die auch die nicht so aufsehenerregenden Fälle verfolgten. Wenn sie Deborah nicht dazu brachten, ihre Geschichte zu ändern, hatten sie keinen Beweis dafür, dass Lily Ruben gewarnt hatte. Sie konnten zwar vorbringen, dass sie starken Anlass zu der Vermutung hatten, doch jeder gute Anwalt würde vermutlich ihre Verhaftung verhindern können. Und jeder halbwegs anständige Staatsanwalt würde das wissen. Selbst wenn Friar hinter all dem steckte, selbst wenn er einen Staatsanwalt in der Tasche hatte, selbst wenn er Lily noch so gerne hinter Gitter bringen wollte – zu einer Verurteilung würde es vermutlich nicht reichen.
Das war auch nicht nötig. Ihre Anwesenheit in Rubens Haus war völlig ausreichend, um sie zu suspendieren.
Sie war kein Cop mehr.
Lily verspürte keinerlei Erleichterung, als sie schwindlig vor Erschöpfung ein paar Schritte vor der stämmigen Wärterin den Flur hinunterging. Sie versuchte, sich wenigstens ein wenig für ihre Freilassung zu interessieren, doch es schien ihr irgendwie unwichtig zu sein. In einer Minute würde sie den Anwalt treffen, der alles arrangiert hatte, und er oder sie würde sie dann schon über die Lage informieren.
Sie trat in einen kleinen, nackten Raum, wo ein weiterer Wärter wartete … und ein Mann. Der, den sie angerufen hatte, doch sie hätte nie gedacht, dass er persönlich kommen würde. Ein stämmiger Mann mit dunkler Hose, einem gebügelten Hemd, ohne Krawatte. Mit seinem Bart, dem rotbraunen Haar und der Brust und den Schultern eines Schmieds sah er aus wie ein verkleideter Waldgott.
Isen Turner. Rules Vater. Der Rho der Nokolai. Isen, der nur höchst selten das Clangut der Nokolai verließ und niemals Kalifornien. Und doch war er hier, durchquerte den hässlichen kleinen Raum und zog sie in seine Arme.
»Lily.« Er drückte sie fest an sich, tätschelte ihren Rücken und rückte dann so weit von ihr ab, dass er sie anlächeln konnte, ohne sie loszulassen. »Du riechst fürchterlich. Komm, lass uns gehen.«
Auf dem Parkplatz wartete ein Mercedes-Benz auf Isen. Die Vorliebe für diese Marke musste in der Familie liegen. Direkt vor der Tür des Gerichtsgebäudes stand ein drahtiger Zwei-Meter-Riese namens Pete Murkowski, stellvertretender Leiter des Sicherheitsteams auf dem Clangut. Pete hatte babyfeines Haar von der Farbe alten Elfenbeins und lange, sehnige Muskeln. Es war seltsam, ihn angezogen zu sehen, fand Lily. Sie kannte ihn nur in kurzen Hosen.
»Rule«, sagte sie zu Rules Vater. »Hast du von ihm gehört? Wo ist er?«
»Er ist immer noch Wolf – also nein. Ich habe mit Cullen gesprochen, der bei Rule und dem neuen Wolf ist. Es geht ihnen gut, sie sind auf dem Clangut der Wythe angekommen. Darüber sprechen wir später, wenn man uns nicht belauschen kann. Das ist hier zwar unwahrscheinlich, aber nicht unmöglich. Du hast morgen um neun eine Verabredung mit deiner Anwältin.«
»Die Anklageerhebung.« Lilys Magen zog sich zusammen.
»Die findet morgen Nachmittag statt.« Sie waren beim Wagen angekommen. Als Pete ihnen die Tür öffnete, nickte er Lily zu und lächelte sie an. »Miriam Stockard hat deinen Fall übernommen. Vielleicht hast du von ihr gehört? Sie bedauert, dass sie dich heute Morgen nicht treffen kann, aber sie hat einen Termin vor Gericht. Doch ihr Partner scheint sich gut um dich gekümmert zu haben.«
»Stockard. Ja, ich habe von ihr gehört. Hallo, Pete.« Ein wenig benommen stieg Lily auf den Rücksitz. Miriam Stockard gehörte zu den besten Strafverteidigern des Landes und wurde von den Staatsanwälten an beiden Küsten gefürchtet.
Automatisch rutschte sie weiter, damit Isen sich neben sie setzen konnte. Was er auch tat. Pete ging um den Wagen herum zur Fahrerseite, stieg ein und fuhr an. Lily legte den Sicherheitsgurt um, wandte sich Isen zu und stellte die Frage, die ihr schon die ganze Zeit auf der Zunge gelegen hatte: »Was tust du hier?«
Isen hob die buschigen Augenbrauen. Er war entspannt, zufrieden mit sich selbst, so, als habe er bisher einen wunderbaren Tag verbracht und erwartete noch viele weitere Annehmlichkeiten.
»Abgesehen davon, dich aus dem Gefängnis zu holen, meinst du?«
»Darum hat sich die Anwältin gekümmert. Ich meine … ich weiß es zu schätzen, dass du sie engagiert hast. Und ich würde gerne wissen, wie sie es angestellt hat, dass ich noch vor der Anklageerhebung freigelassen wurde, aber sie hat sicher nichts anders gemacht, weil du quer durchs ganze Land geflogen bist.« Lily hielt inne. »Ich will gar nicht wissen, was sie kostet.«
Isen drückte Lilys Schulter. »Das können die Nokolai sich leisten.«
»Ich will nicht, dass die Nokolai –«
»Du hast deinen Rho um Hilfe gebeten. Natürlich werden die Nokolai Ms Stockards Rechnung bezahlen.«
Lily schwieg. Es lag nahe, dass Isen so dachte. Aber hatte sie das wirklich getan? Als sie ihn anrief, wen hatte sie da angerufen? Rules Vater oder …
Auch wenn der Gedanke beunruhigend war – Isen hatte recht. Als sie nur einen Anruf gehabt hatte und wusste, dass sie Rule nicht würde erreichen können, war ihre Wahl auf Isen gefallen. Nicht, weil er Rules Vater war. Sondern weil sie ihm vertraute. Sie vertraute ihm – nicht nur, weil er ihr einen Anwalt beschaffen würde, sondern weil er wusste, was zu tun war, wie es zu tun war, wer benachrichtigt werden musste, was für Auswirkungen es haben würde und wie sie zu minimieren waren. Und vor allem vertraute sie ihm, weil er die Dinge in die Hand nahm, denn das war seine Aufgabe. Weil er der Rho war. »Ich schätze, du holst nicht zum ersten Mal jemanden aus dem Gefängnis.«
Er schmunzelte. »Das stimmt, obwohl wir versuchen, es zu vermeiden.«
»Ich bin überrascht, dass Stockard den Fall übernommen hat. Das sind doch Kinkerlitzchen für sie.«
»Nun ja, sie ist jemandem aus dem Clan einen großen Gefallen schuldig. Den haben wir jetzt eingefordert. Unsere Gegner sollen wissen, dass wir auch die großen Geschütze auffahren können, wenn es nötig ist.«
Sie wechselten einen langen Blick. Isen war zu demselben Schluss gekommen wie sie – dass ihr Fall vermutlich nie zur Verhandlung kommen würde, auch wenn ihre Festnahme sie in anderer Hinsicht ruinierte. Vor allem, wenn der Staatsanwalt wusste, dass er es mit Ms Miriam Stockard zu tun bekommen würde. »Hast du je als Anwalt gearbeitet?«
»Das wäre ein Interessenkonflikt gewesen.«
Weil er den Eid nicht hätte ablegen können, ohne zu lügen? Vermutlich. Isen teilte nicht ihren Respekt für das Gesetz, doch sein Wort war bindend. Niemals würde er auf etwas schwören, wenn er nicht vorhätte, dem Schwur Folge zu leisten. Selbst jetzt vermied er es, offen die Unwahrheit zu sagen. »Ich nehme an, dass du meine Eltern angerufen hast.«
»Tut mir leid, ich bin deiner Bitte nicht ganz genau gefolgt. Ich rief deine Großmutter an. Ich war der Ansicht, solche Neuigkeiten sollte lieber sie überbringen.«
»Was hat sie gesagt?«
»Sie war sehr verärgert.« Er tätschelte Lilys Hand. »Nicht über dich. Ich kann nicht wiederholen, was sie als Erstes gesagt hat. Chinesisch ist nicht eine der Sprachen, die ich beherrsche. Aber ich glaube, unsere Feinde wurden ausgiebig verwünscht. Nachdem wir ein paar Worte gewechselt hatten – in Englisch glücklicherweise –, hat sie mir einige Anweisungen für dich aufgetragen. Ich soll dir sagen, du sollst nicht überstürzt handeln, insbesondere, wenn es um das Töten von Menschen geht.«
Lily verschluckte sich vor Lachen. »Das gehört nicht zu meinen Gewohnheiten.«
»Möglicherweise hat sie da etwas von sich auf dich projiziert – so nennt man das doch –, weil sie selbst das dringende Verlangen verspürte, gewissen Leuten an die Kehle zu gehen. Außerdem sollst du dir keine Sorgen um deine Eltern machen. Um die wird sie sich kümmern.«
Immerhin: ein Strohhalm, an den sie sich klammern konnte. Großmutter war auf ihrer Seite. Aber selbst Großmutter würde nicht verhindern können, dass die Nachrichten ihre Eltern erschütterten. Mittlerweile wusste ihre Mutter sicher schon, dass sie suspendiert war und arbeitslos sein würde, sobald das FBI den Papierkram erledigt hat. Und ihr Vater auch. Croft würde sie feuern müssen. Ihm blieb gar keine andere Wahl.
Lily lehnte sich zurück, auf einmal unbeschreiblich müde. Sie schloss die Augen und versuchte, nicht nachzudenken.
Leider war das noch nie ihre Stärke gewesen. So viele Fragen gingen ihr durch den Kopf, dass sie wieder die Augen öffnete. »Du hast mir meine erste Frage noch nicht beantwortet. Warum bist du hier? Und warum mit Pete statt mit Benedict? Wer kümmert sich um Toby?«
»Toby geht es gut. Benedict und Arjenie sind bei ihm. Und Pete ist durchaus in der Lage, für meinen Schutz zu sorgen.«
»Das bezweifle ich nicht, aber wenn du einmal das Clangut verlässt, begleitet dich immer Benedict.« Pete war gut – Lily hatte ihn schon beim Boxtraining gesehen –, aber Benedict war nicht nur besser, er war der Beste.
»Oh, zuerst war Benedict auch nicht einverstanden, aber er ist zu vernünftig, um darauf zu bestehen, mich unter diesen Umständen zu begleiten. Es wäre nicht klug, wenn sowohl ich als auch meine beiden Söhne über eine längere Zeit abwesend wären.«
Wegen der Clanmacht. Denn wenn Isen und seine beiden Söhne getötet würden, wäre die Clanmacht der Nokolai verloren. »Und doch bist du hier.« Es war ein enormes Risiko, nicht nur für Isen, sondern auch für den ganzen Clan.
»Und bald werde ich auf dem Clangut der Wythe sein. Die Wythe haben keinen Benedict, deshalb ist ihr Sicherheitssystem nicht so gut wie unseres, doch auch dort würden unsere Feinde nur mit großen Schwierigkeiten eindringen können. Die Gefahr ist sehr viel kleiner, als du denkst.« Wieder tätschelte er ihre Hand. »Du hast dir Sorgen um den Clan gemacht, nicht wahr? Das freut mich.«
Sie blinzelte verwirrt. »Du bist auf dem Weg zum Wythe-Clangut?«
»Selbstverständlich. Dort sind Rule und der neue Wolf. Rule sagt, dass der neue Wolf –«
»Du meinst Ruben. Warum nennst du ihn nicht bei seinem Namen?«
Seine Augen funkelten unvermindert gut gelaunt. »Weißt du, dass mich jahrelang niemand unterbrochen hat, bevor du in unseren Clan aufgenommen wurdest? Ja, den meine ich. In den ersten zwei Wochen nach dem Wandel wird ein ganz neuer Wolf nicht bei dem Namen genannt, den er in seiner anderen Gestalt hat. Bei Neumond wird sein Lehrer ihn mit diesem Namen ansprechen, um ihn in diese andere Gestalt zurückzurufen. Dieser neue Wolf ist ein Rho. Auch wenn es das noch nie gegeben hat, wissen wir schnell, was es für Folgen hat. Er kann nur von einem Träger der Clanmacht unter Kontrolle gehalten werden, doch das muss so lange sein, bis er in der Lage ist, sich selbst zu beherrschen. Ich bin hierhergeflogen, um Rule diese Aufgabe abzunehmen.«
Wärme durchflutete sie, eine Schwäche, die sie schwindlig machte. Er hatte es für sie getan. Oh, möglicherweise hatte er noch ein Dutzend anderer Gründe, schließlich war er Isen. Nein, ganz sicher hatte er noch andere Gründe. Aber eigentlich hatte er den Kontinent überquert, damit sie nicht allein war in diesem fremden neuen Leben, in das sie gestoßen worden war. Das Leben als Nichtcop.
Sie berührte seine Hand. Sofort schloss er sie um die ihre – eine breite Hand, warm und voller Magie. Es war ein ganz anderes Gefühl, als Rules Hand zu halten, und doch war es tröstlich. Für eine Weile schwiegen sie gemeinsam. Endlich sagte sie: »Ich brauche wirklich eine Dusche. Was meinst du?«
Er lachte leise. »Oh, ja.«