18

Lily beugte sich über den jungen Mann, der auf einem der Küchenstühle saß, und blies ihm in den Mund.

Nichts. Diese blöde verflixte Clanmacht. Sie seufzte und richtete sich auf. »Das war peinlich.«

»Hey, mir hat’s gefallen.« Chad Emerson von den Szøs hatte hellbraunes Haar, babyblaue Augen und wusste sehr wohl, dass sein freches Grinsen charmant war. »Vielleicht sollten wir es mit einem Kuss versuchen.«

»Das würde auch nicht helfen, und mir wäre es unangenehm.«

»Da bin ich andere Reaktionen gewöhnt.«

Das glaubte sie ihm gern. Chad sah ein wenig so aus wie Harrison Ford als Han Solo. »Lass mich es anders ausdrücken. Es wäre mir unangenehm, wenn du weiter mit mir flirten würdest.«

»Auch da kenne ich andere Reak–«

»Chad«, sagte Rule, »hat Andor dir gesagt, warum wir dich gebeten haben, früher als geplant herzukommen?«

»Er sagte, etwas Unvorhergesehenes sei passiert. Was, hat er nicht gesagt.«

»Die Clanmacht macht Lily krank. Deshalb müssen wir dringend einen Lupus finden, der sie übernehmen kann.«

»Mist, das tut mir leid.« Er ließ den Kopf hängen wie ein gescholtener Welpe. »Ich wollte nicht um die Wahrheit zu sagen, will ich eigentlich nicht die Szøs verlassen. Damit will ich nichts gegen die Wythe sagen, aber ich bin schon mein ganzes Leben lang ein Szøs. Und ich weiß auch nicht, ob ich wirklich ein Rho werden will. Das ist eine große Verantwortung, und bei einem anderen Clan als meinem eigenen Rho zu sein Ich weiß, dass er dann meiner werden würde, aber jetzt ist er es noch nicht. Ich bin mir nicht sicher, ob ich das kann. Aber, na ja, ich habe zwar meine Zustimmung gegeben, wie du weißt, aber vielleicht meinte ich es aufgrund meiner Zweifel nicht wirklich ernst damit.« Er lehnte sich vor. »Jetzt meine ich es ernst. Vielleicht sollten wir noch einmal bei der Zustimmung anfangen.«

Lily sah zu Rule. Er zuckte mit den Achseln warum nicht? Also versuchten sie es noch einmal. Chad stimmte sehr ernsthaft zu, die Clanmacht zu übernehmen, sollte die Dame willens sein, ihn damit zu betrauen.

Doch das Resultat blieb dasselbe. Die Clanmacht rührte sich nicht ein einziges Mal.

Chad war besorgt und Lily müde nach unzähligen Tassen Kaffee war die Nacht nicht sehr erholsam gewesen. Rule zeigte keine Emotionen. Er dankte dem jungen Mann und zückte sein Handy, um ein Taxi zu rufen. Jetzt, da Cullen und die Rhej bei ihnen wohnten, war kein Gästezimmer mehr frei, deshalb hatte Rule für Chad ein Hotelzimmer gebucht. Auch Lily dankte Chad, und Rule brachte ihn zur Tür. Sie hörte, wie Rule ihm versicherte, er könne gerne noch ein oder zwei Tage in D.C. auf Kosten der Nokolai bleiben, wenn er es wünschte.

Lily goss sich Kaffee nach. Dann stand sie einfach da und starrte nachdenklich in ihren Becher.

Chad war jung und forsch. Und was noch wichtiger war: Er war dominant. Was dieser Begriff genau für Lupi bedeutete, das hatte Lily immer noch nicht ganz verstanden, aber es hieß unter anderem, dass jemand bereit war, Verantwortung zu übernehmen, das wusste sie genau. Außerdem war Chad intelligent genug, zu verstehen, dass der Status und die Macht eines Rho viele Opfer forderte, und ehrlich genug, um sich einzugestehen, dass er nicht wusste, ob er bereit für diese Verantwortung war. Und er war so großherzig, »es wirklich ernst zu meinen«, sobald er wusste, dass Lily durch die Clanmacht der Wythe Schaden nahm.

Wenn er nicht gut genug für die Clanmacht war, wer war es dann?

Sie nippte an ihrem Kaffee und trat ans Fenster, um hinaus in den Garten zu sehen. Es war immer noch früh. Der Regen von gestern Nacht hatte die Wolkendecke nicht vertrieben; vielleicht versuchte die Sonne gerade, sich ihren Weg an den Himmel zu bahnen, doch die Düsternis hatte sie noch nicht hindurchgelassen. Den, der jetzt gerade Wachdienst hatte, konnte sie nirgends entdecken doch das tat sie ohnehin nur selten.

Über ihrem Kopf schepperten die Rohre, als jemand die Dusche andrehte. Die Leidolf-Rhej war aufgestanden. Lily wusste, dass sie es war, weil Cullen schon seit zwei Stunden auf war. Er hatte Chad vom Flughafen abgeholt, ihn irgendwo zum Frühstück eingeladen und ihn dann hier abgesetzt, bevor er wieder aufgebrochen war, um irgendwelchen geheimnisvollen Geschäften nachzugehen.

Vielleicht hatte es etwas mit dem Dolch zu tun? Über das, was er gesehen hatte, als er ihn gestern Abend zusammen mit Sherry untersucht hatte, hatte er sich sehr bedeckt gehalten. Lily schüttelte den Kopf, als wollte sie ihre Gedanken wieder in die richtigen Bahnen lenken.

Die Sache war die: Lily sah Chad heute zum ersten Mal. Er kannte sie nicht und war trotzdem bereit gewesen, sein Leben von Grund auf zu ändern, um ihr zu helfen. Vielleicht zum Teil aus einem Gefühl für Fairness und Verantwortung heraus: Die Clanmacht hatte ihren Platz bei einem Lupus, nicht bei einer viel zu menschlichen Auserwählten. Es entsprang einem tief verwurzelten Bedürfnis der Lupi, Frauen zu schützen und, dachte sie, seinem persönlichen Bedürfnis, das Richtige zu tun.

Sie verstand dieses Bedürfnis. Rule sagte, er verstünde jetzt, warum es so schwer für sie sei, der Schatteneinheit beizutreten. Er hatte recht, doch das war nicht alles.

Wenn sie nicht zuallererst ein Cop war, woher sollte sie dann wissen, was das Richtige war? Welche Maßstäbe sollte sie anwenden? Wenn man sich solch mächtigen Gewalten entgegenstellte, wenn so unerhört viel auf dem Spiel stand, dann konnte es geradezu unmoralisch erscheinen, wenn man ethische Grundsätze über Zweckmäßigkeit stellte. »Der Zweck heiligt die Mittel« das wurde zum Leitsatz, wenn man keine eindeutigen und zwingenden Gründe hatte, anders vorzugehen.

Lily war sich ziemlich sicher, dass genau dies seit ein paar Äonen der Grundsatz der Erzfeindin war: Der Zweck heiligt die Mittel.

Trotzdem hatte es sich für sie nicht wirklich ausgezahlt, würde man meinen. Sie war einmal besiegt worden und hatte sich aus dieser Welt zurückziehen müssen, um ihre Wunden zu lecken. Was immer sie in den letzten dreitausend Jahren getan hatte, sie hatte es tun müssen, weil »Der Zweck heiligt die Mittel« nicht funktioniert hatte.

Verstand die Dame der Lupi, dass »Der Zweck heiligt die Mittel« ein Grundsatz war, der versagt hatte?

Die Haustür schloss sich. Lily hörte nicht, dass Rule zurück in die Küche kam, aber sie spürte, wie er sich näherte. Sie wandte sich vom Fenster ab. Sie mussten einfach hoffen, dass die Dame sie verstand, sonst waren sie mit ihrer Weisheit am Ende Lily früher als alle anderen. Wenn die Große Alte, die auf ihrer Seite war, sich genau wie die andere auf der Gegenseite an den Grundsatz hielt »Alles ist erlaubt«, dann sah es düster für sie alle aus.

»Wir haben noch nicht alle Möglichkeiten ausgeschöpft«, sagte Rule, als er die Küche betrat. »Ich habe meinen Vater angerufen, als Chad und ich auf das Taxi gewartet haben. Er wird darauf drängen, dass die anderen Rhos sich mit ihrer Suche beeilen.«

Sie nickte. Sie taten alles, was sie konnten. Doch konnten sie nur hoffen, dass es genug war und in der Zwischenzeit würde sie viel Kaffee trinken. Und die Rhej der Wythe würde vermutlich immer wieder die Clanmacht »runterdrehen«. »Seit gestern Nachmittag hatte ich keinen Schmerzblitz mehr.«

»Stimmt.« Sein Lächeln wirkte, als fiele es ihm nicht schwer. Es war leicht zu glauben, dass er so unbesorgt war, wie er wirkte. Falsch, aber leicht.

Es war wie ein Geschenk, dieses Lächeln. Er wollte nicht, dass sie sich Sorgen machte, dass sie ihre Zuversicht verlor, deswegen unterdrückte er seine Gefühle, um diese Zuversicht zu vermitteln. Obwohl Lily ihn durchschaute, half es ihr. »Ich liebe dich.«

Er blinzelte. »Ah ja?«

Sie lachte. Es kam so selten vor, dass er verwirrt war. »Das war’s schon. Ich liebe dich. Du tust alles, was möglich ist, und alle anderen auch, und wir werden diesem Ding zeigen, wer hier das Sagen hat.« Man musste nur daran glauben. Wozu sonst taugte Denken? Sie trat zu ihm, legte ihm die Hand auf die Schulter und stellte sich auf die Zehenspitzen, um seine Lippen mit ihren berühren zu können. »Nein, halte mich nicht fest. Ich hole nur schnell meine Waffe, dann muss ich los.«

»Es ist noch nicht einmal sieben.«

»Ich muss früh in der Zentrale sein.« Sie begab sich zur Treppe. Ihr Schulterholster befand sich oben in ihrem Schlafzimmer.

Er folgte ihr. »Du hast noch nichts gegessen.«

»Ich esse im Wagen. Das ist kein Problem, schließlich habe ich einen Chauffeur. Ich will einen von diesen riesigen Muffins von der Bäckerei auf der Jefferson.«

Das nun folgende Wortgefecht war kurz und gutmütig und beruhigend vertraut. Rules Verstand sagte ihm, dass sie nicht aß wie ein Lupus, doch er weigerte sich zu akzeptieren, dass ein Muffin eine richtige Mahlzeit war.

»Ein Muffin reicht mir«, wiederholte sie, als sie ihr Schulterholster umschnallte. »Wie sieht denn dein Zeitplan für heute aus? Bist du bereit für eine Planänderung?«

»Möglicherweise. Warum?«

»Ich dachte, du könntest mich vielleicht begleiten.«

Seine Augenbrauen schossen in die Höhe. »Du willst, dass ich den Lakaien kennenlerne?«

»Ich werde mit Croft sprechen. Es ist zwar Samstag, aber ich weiß, dass er trotzdem da sein wird. Ich müsste es Drummond selbst sagen«, gab sie zu, »aber ich bringe es einfach nicht über mich. Außerdem wird Croft verstehen, dass es ein Clan-Geheimnis ist und mich nicht drängen, ihm mehr zu sagen, als ich kann.«

»Lily, ich weiß nicht, wovon du sprichst.«

Sie seufzte. Manchmal war es so fürchterlich schwer, das Richtige zu tun. »Im Moment bin ich nicht hundertprozentig einsatzfähig. Ich hatte zwar seit sechzehn Stunden keinen Anfall mehr, doch es kann mich jederzeit wieder treffen. Vielleicht mitten in einer Befragung. Herrgott, wer weiß mitten in einer Verhaftung oder einer Verfolgung oder ich kann ja nicht einmal sagen, was der nächste Schmerzblitz anrichten wird. Ob ich etwas fallen lassen werde, anfange zu sabbern, einfach umkippe oder alles zusammen. Vielleicht wird es auch irgendetwas Neues sein. Ich muss Croft informieren, damit er jemand anderem die Leitung der Einheit übertragen kann.«

»Du ziehst dich selbst aus den Ermittlungen zurück.«

»Offiziell ja.«

Mehrere Herzschläge lang schwieg er. »Und inoffiziell?«

»Deswegen möchte ich, dass du mich begleitest. Rule « Sie kam näher, damit sie seine Hand ergreifen konnte. »Chad wusste, dass die Clanmacht nicht auf ihn übergehen würde, wenn die Dame nicht mit ihm als Träger einverstanden gewesen wäre, richtig?«

»Ja, wir haben ihm erklärt, dass die Dame möglicherweise die Clanmacht selbst bewegen muss. Normalerweise geht das natürlich anders vonstatten.«

Lily nickte. »Also wusste Chad, dass es das Werk der Dame gewesen wäre, wenn die Clanmacht auf ihn übergegangen wäre. Und er wollte die Entscheidung der Dame akzeptieren. Er wollte es aber er war erst ernstlich willens, als er erfuhr, dass ich darauf angewiesen bin. Dass mir Gefahr droht, wenn ich die Clanmacht weiter in mir trage.«

»Ja.« Er sah verwirrt aus. »Natürlich wollte er dir helfen.«

»Weil ich eine Frau bin.« Sie lächelte trocken. »So seid ihr alle gepolt Frauen müssen beschützt werden. Eure Dame kennt euch ziemlich gut. Ich nehme an, sie hat das in euch bewirkt. Du sagtest, du habest eine Wahl getroffen? Deswegen kann sie dir nicht böse sein. Sie wusste, dass du mich beschützen willst. Es dauert vielleicht eine Weile, bevor du dich damit abfindest, was es bedeutet, aber glaub nicht, dass deine Dame überrascht oder enttäuscht ist.«

»Lily.«

Sie legte den Kopf auf die Seite.

Er hob die Hand, mit der sie die seine umfasst hielt, an seine Lippen und küsste sie. »Ich liebe dich.«

Rule war schon oft im Hauptquartier des FBI gewesen. In der Vergangenheit war der Mann hinter dem großen zerschrammten Schreibtisch in diesem fensterlosen Büro Ruben Brooks gewesen. Heute saß dort ein schlanker Mann mit einer Haut in der Farbe des Kaffees in Lilys Thermoskanne.

Martin Croft wirkte eher wie ein Dozent von Harvard, nicht wie ein Cop. Das grau gesprenkelte Haar unternahm einen strategischen Rückzug aus seiner hohen Stirn, und er war zu gut gekleidet, um dem Klischee eines Cops zu entsprechen. Sein Hemd war perfekt gebügelt, seine Krawatte aus Seide und sein Anzug vielleicht von der Stange, aber von exzellenter Qualität und Passform. Rule hatte den Verdacht, dass er maßgeschneidert war. Alles in allem sah Croft nicht aus wie ein Mann, der schon so manchen Verdächtigen zu Boden gerungen hatte.

Insofern täuschte sein Äußeres. Doch er war genauso intelligent wie er aussah und hatte keinerlei Gabe, auch wenn er mehr über Magie wusste als die meisten praktizierenden Hexen.

Mit ernster Miene lauschte er, als Lily ihm erklärte, warum sie ihn so dringend und zu so früher Stunde hatte sprechen müssen. Sie sah müde aus.

Das war nicht überraschend. Sobald sie aus dem Haus gewesen waren, hatte sie einen erneuten Anfall eine TIA gehabt. Er hatte länger gedauert als die anderen, die Rule miterlebt hatte, was angeblich ein gutes Zeichen war, weil es bedeutete, dass der Heilungsprozess sich verlangsamte. Er selbst konnte es nicht so sehen.

Selbstverständlich hatte Rule sie sofort nach Hause gebracht. Selbstverständlich unter Protest ihrerseits. Die Rhej der Leidolf hatte sie untersucht, doch mehr als ihnen zu versichern, dass bisher kein bleibender Hirnschaden festzustellen sei, konnte sie nicht tun.

Lily beendete ihre stark zensierte Erklärung. Croft sagte: »Wie ernst ist Ihr Zustand?«

»Er kann ernst werden, aber wir haben eine Heilerin, die bei uns wohnt. Sie ist zuversichtlich, dass sie mir helfen kann. Das hat sie auch schon getan, doch eine, äh, endgültige Lösung für meinen Zustand haben wir noch nicht gefunden.«

»Und Ihr Zustand steht auf eine Art, die Sie nicht näher spezifizieren können, mit einer Clanangelegenheit in Zusammenhang, über die Sie nicht sprechen können.«

»Das ist richtig.«

»Und Sie sind sich sicher, dass die Schulmedizin Ihnen nicht helfen kann.«

»Absolut sicher.«

»Warum haben Sie Rule mitgebracht?«

»Sie wissen vielleicht, was das Band der Gefährten bedeutet?«

Er nickte. Croft kannte es, weil er ein ospi der Wythe war. Seine Mutter war die Tochter eines Wythe-Lupus, und entweder sie oder sein Großvater waren ein bisschen freimütiger mit Clangeheimnissen umgegangen, als sie hätten sollen.

»Wir glauben, dass es meine Symptome mildert, wenn Rule in meiner Nähe bleibt.«

»Hmm.« Als er die Fingerspitzen aneinanderlegte, erinnerte er auf irritierende Weise an Ruben. Machte er seinen Boss nach, oder war es ihm gar nicht klar? »Wir müssen Sie beurlauben.«

Sie seufzte. »Ich fürchte, ja.«

»Nun gut. Ich werde Drummond informieren.«

»Wer wird mich ersetzen «

Aber er schüttelte den Kopf. »Wenn Sie nicht an den Ermittlungen teilnehmen, ist das vertraulich. Und vor Rule kann ich darüber erst recht nicht sprechen. Es tut mir leid.«

Lily presste die Lippen aufeinander, aber sie widersprach nicht. Rule hätte gerne ihre Hand ergriffen, um sie wissen zu lassen, dass sie das Richtige getan hatte, doch er wusste, dass es besser war, das nicht zu tun. Kein Händchenhalten vor ihrem Boss. Das hielt sie für unprofessionell. Rule verstand das, auch wenn er es anders ausdrücken würde. Professionell zu sein, bedeutete für ihn: »Zeig nicht deinen Bauch«.

»Drummond werde ich sagen, dass Ihnen Ihre Verletzung erneut zu schaffen macht«, sagte Croft. »Es hat wenig Sinn, ihm zu sagen, dass es etwas ist, über das ich nicht reden kann, weil Sie nicht darüber reden können. Er sperrt sich gegen alles, was mit Magie zu tun hat. Ich will ihn nicht auf falsche Gedanken bringen.«

»Warum eigentlich? Hat er etwas gegen Magie selbst oder «

»Genug.« Croft verzog das Gesicht. Es kam ein müdes Lächeln dabei heraus, aber es war ein echtes Lächeln, das erste, das Rule heute von dem Mann gesehen hatte, das nicht seiner Position geschuldet war. Professionalität wieder mal. »Ich werde nicht mit Ihnen tratschen. Lily, Sie machen mir Sorgen. Ganz inoffiziell: Können Sie mir nicht mehr sagen?«

Konnte sie nicht, natürlich nicht. Von seiner Mutter oder seinem Großvater wusste er zwar jetzt schon mehr, als er eigentlich wissen dürfte, doch auch sie waren nicht so weit gegangen, ihm von den Clanmächten zu erzählen. Also verneinte Lily so taktvoll wie möglich und erhob sich. »Ich möchte nicht noch mehr von Ihrer Zeit in Anspruch nehmen. Ich weiß, Sie haben viel zu tun.«

Auch Croft stand auf, was eigentlich das Signal dafür hätte sein sollen, dass dieses Treffen, von dem Rule wusste, wie schwer es Lily gefallen war, beendet war. Doch er ging um den Schreibtisch herum und berührte Lily leicht am Arm. »Ich werde dafür sorgen, dass Sie so lange beurlaubt werden, wie nötig. Kümmern Sie sich jetzt nur um sich selbst.« In seinen dunklen Augen lag Besorgtheit. Er wandte sich Rule zu. »Ich kann sicher auf Sie zählen, dass Sie ihr alle erdenkliche Hilfe zukommen lassen?«

»Das können Sie.« Rule beschloss, dass es nun gut sei mit der professionellen Zurückhaltung. »Sie sehen müde aus, Martin.«

Croft zuckte mit den Schultern. »Ich hoffe, dass Ruben bald zurückkommen kann. Natürlich um seinetwillen, aber auch aus ganz eigennützigen Gründen. Mir fehlt die Arbeit vor Ort.«

»Sie werden hier dringend gebraucht.«

»Die Schreibtischarbeit ist kein Problem für mich, aber ich war ein verdammt guter Ermittler. Ich will wieder das tun, was ich am besten kann, aber «

»Aber wenn Sie diesen Job nicht machen würden, würde ihn jemand tun, der die Einheit nicht so gut versteht. Oder einer der Agenten mit einer Gabe würde an diesen Schreibtisch befördert, und die werden da draußen gebraucht.«

»Ganz genau.« Er strich sich mit der Hand übers Haar. »Bei Ihnen haben die Rhos dasselbe Problem, nicht wahr? Zwischen einem Rho und den anderen muss es eine Distanz geben, und aus Sicherheitsgründen müssen sie auf den Clangütern bleiben. Doch Sie tun das nicht. Auf dem Clangut bleiben, meine ich. Wie kommen Sie damit durch?«

»Zwei Clans«, sagte Rule. »Verschiedene Pflichten. Und ich kann nicht das öffentliche Gesicht für mein Volk sein, wenn ich das Clangut nie verlasse.«

»Hmm. Rule, ich werde Sie nicht fragen, ob Lily Ihnen etwas über die Ermittlungen, mit denen sie beauftragt war, erzählt hat. Doch ich möchte klarstellen, dass die Anweisung, darüber Stillschweigen zu bewahren, vom Direktor selbst kam.«

»Ich verstehe.« Dies war als eindeutiger Hinweis zu verstehen, dass er sich raushalten sollte doch Lily hatte andere Pläne. »Mal angenommen, einer meiner Leute hält sich zufälligerweise gerade in dem Park gegenüber vom Haus des Senators auf, wären Sie dann daran interessiert zu erfahren, ob ihm ungewöhnliche Gerüche aufgefallen sind?«

Martin schüttelte den Kopf. »Sie sind genauso stur wie sie, aber diplomatischer. Rein hypothetisch: Ja, ich wäre daran interessiert.«

»Ich werde daran denken. Ich hoffe, wir sehen uns bald wieder, Martin, wenn die Dinge für uns alle weniger schwierig sind.«

Croft begleitete sie hinaus, blieb aber an Idas Schreibtisch stehen, um ihr zu sagen, welches Formular er für Lilys Beurlaubung unterzeichnen müsse.

Rule und Lily gingen den langen Flur hinunter. »Eine gute Idee«, sagte sie, »jemanden die Fährte aufnehmen zu lassen, der ich gefolgt bin.«

»Das ist mir auf dem Weg hierher eingefallen.« Er warf ihr einen Blick zu. »Du siehst erleichtert aus. Bist du froh, dass du es hinter dich gebracht hast?«

»Oh ja.« Sie sprach so leise, dass nur er sie hören konnte. Es waren noch andere im Flur. »Und verdammt froh, dass Croft nicht zu sauer sein wird, wenn er herausfindet, was wir vorhaben.«

»Und doch ist er noch einmal auf der Schweigepflicht herumgeritten.«

»Wohl eher darauf, dass die Anweisung vom Direktor kam. Das bedeutet, dass er anderer Ansicht ist. Er muss sie durchsetzen, aber das gefällt ihm nicht. Und vielleicht hat er auch vermutet, dass ich nicht den Rest des Tages im Krankenbett verbringen werde.«

»Ah.« War diese verdrehte Methode, etwas nicht anzusprechen, typisch für die menschliche Kommunikation? Oder für Cops? Oder wurde sie vor allem von Bürokraten in großen Organisationen verwendet? »Wie hätte er signalisiert, dass er die Anweisung für richtig hält?«

»Mir hätte er es gesagt, dir nicht. Und er hätte es so formuliert, als sei es seine Anweisung. Wenn er später«, murmelte sie. »Wir reden später darüber.«

Sie waren vor dem Aufzug angekommen. Drei andere Personen warteten bereits: eine große Frau mit randloser Brille, ein kleiner Asiate und ein glatzköpfiger Mann in den mittleren Jahren, möglicherweise ein Pakistaner. Lily grüßte den Glatzkopf und drückte den Knopf mit dem Pfeil nach unten. Unnötigerweise, denn er leuchtete bereits, aber wenn Menschen einen Knopf sehen, dann müssen sie einfach daraufdrücken.

Die Türen öffneten sich. Eine kleine blonde Frau in einem strengen schwarzen Hosenanzug und mit rotem Brillengestell trat heraus. Ihr Mund hatte einen perfekten Amorbogen. »Lily!« Anna Sjorensens Freude war nicht zu übersehen. »Ich hatte noch gar keine Gelegenheit, Ihnen richtig zu danken. Aber wahrscheinlich haben Sie jetzt gar keine Zeit zum Plaudern.«

»Eine Minute oder zwei vielleicht. Wir müssen uns später Zeit für einen Kaffee oder so nehmen.« Lily unterdrückte ihre Ungeduld und trat zur Seite, um die anderen in den Aufzug einsteigen zu lassen. Eine freundliche Reaktion Sjorensen gegenüber, fand Rule, vor allem da Lily gar nicht klar war, wie sehr sie sie anhimmelte. »Aber mir zu danken ist nicht nötig. Sie brauchen die Ausbildung.«

»Die ich niemals bekommen hätte, wenn Sie nicht gewesen wären.« Sjorensen hielt inne und sagte höflich, wenngleich kühl: »Hallo, Mr Turner.«

»Sagen Sie Rule, bitte.« Er bezweifelte, dass sie seinem Angebot nachkommen würde. Doch da sie ohnehin nur ungern mit ihm sprach, würde sie kaum je in Verlegenheit kommen, es zu tun.

Und tatsächlich konzentrierte sich Sjorensens Aufmerksamkeit sofort wieder auf Lily. Rule hörte zu, wie die zwei über die Ausbildung redeten, die die jüngere der beiden wegen ihrer leichten Gabe, Muster zu sichten, gerade durchlief. Er hörte zu, doch nicht nur mit einem Sinn, wobei es ihm zu seiner Befriedigung gelang, ein kleines Rätsel zu lösen.

Der Aufzug kam und ging, und es hatte sich bereits wieder ein kleines Grüppchen von Wartenden angesammelt, als Lily schließlich einen Blick auf ihre Armbanduhr warf. »Es ist zehn vor acht. Den nächsten Aufzug muss ich nehmen. Schön, dass ich Sie zufällig getroffen habe, Anna.«

»Oh, ja. Und ich habe Ihnen zu danken, ob es Ihnen gefällt oder nicht. Wenn Sie mich nicht zur Ausbildung hierhergeschickt hätten, wäre ich jetzt nicht bei den Ermittlungen dabei.« Sie beugte sich näher zu ihr hin, um leise hinzuzufügen: »Wir haben einen neuen Anhaltspunkt, den Dolch betreffend.«

»Oh?« Lily zuckte mit keiner Wimper. »Vielleicht können Sie mir später mehr darüber erzählen.«

»Ja, später wäre sicher besser.« Sjorensen machte eine niedliche kleine Grimasse. Alles, was die arme Frau tat, war niedlich, was auch der Grund war, warum sie stets strenge Hosenanzüge und ihr Haar kurz trug. »Ich muss jetzt auch weiter. Croft erwartet mich um zehn in seinem Büro. Bis bald, hoffe ich.«

Lily runzelte die Stirn, als sie mit Rule und drei anderen den Aufzug betrat. »Sie gehört nicht zur Einheit.«

»Croft könnte sie jetzt versetzen, wenn er wollte.«

»Ich weiß. Und sie ist intelligent genug, aber «

»Unerfahren.«

Lily nickte geistesabwesend. Im Erdgeschoss stiegen sie aus und wandten sich nach links. Das Hauptquartier verfügte über vier Eingänge: einen für Frachtgut, zwei für Personal und einen für Besucher. Normalerweise mied Lily den Besuchereingang, weil sie dort durch zwei Sicherheitskontrollen durchmusste, doch Rule musste seinen Besucherausweis abgeben.

Mit gesenkter Stimme sagte er: »Du hast Anna gegenüber nicht erwähnt, dass du nicht mehr Teil des Teams bist.«

»Wenn du denkst, das hätte ich tun sollen «

»Ich bin froh, dass du deine Neugier nicht verloren hast. Wenn Croft sicherstellen wollte, dass niemand mit dir spricht, würde er es ihnen schon sagen. Was Sjorensen angeht sie ist bi, weißt du das?«

»Was?«

»Bisexuell.«

»Wovon redest du da? Warum sagst du mir das?«

»Deswegen mag sie mich nicht. Nicht, weil ich ein Lupus bin, wie wir vermutet hatten. Sie ist heftig verknallt in dich und eifersüchtig, nicht intolerant. Möglicherweise hält sie sich selbst für eine Lesbe, was heißen würde, dass ihr die Tatsache, dass sie sich zu mir hingezogen fühlt, unangenehm und suspekt ist. Vielleicht glaubt sie, dass ich sie mit einem geheimnisvollen magischen Sexzauber belegt habe.«

»Ich habe keinen blassen Schimmer, warum du mir das erzählst.«

»Du musst die Menschen, die deine Verbündeten sind, verstehen. Wenn du Lily?« Er hielt inne und packte ihren Arm. »Hast du «

»Du siehst ihn nicht.« Sie starrte vor zu dem Kontrollpunkt, durch den man den Bereich betrat, in dem sie sich befanden. Ein Wachmann prüfte, ob jeder, der in den Sicherheitsbereich hineinwollte, einen Ausweis oder einen Besucheranstecker hatte. Die Ausweise wurden gescannt; die Besucher mussten sich ein- und wieder austragen. »Natürlich siehst du ihn nicht.«

»Wen denn?«

»Den Geist. Er hat seinen Ausweis über den Scanner gezogen, dem Wachmann im Vorbeigehen zugenickt und ist dann verschwunden.«