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Lily war immer froh, wenn sie im Oktober nach Washington musste. Im Sommer war es in D.C. glühend heiß und im Winter viel zu kalt, doch der Oktober war schön. Fast so schön wie in San Diego, wenngleich das Wetter nicht so beständig war. Außerdem war D.C. zugestandenermaßen viel grüner. Bei ihrem letzten Aufenthalt in der Hauptstadt war Lily endlich schwach geworden und hatte sich ein Paar Gummistiefel gekauft.
Nicht, dass sie sie heute für die Party brauchen würde. Einem Präkog durfte man wohl zutrauen, dass er sich ein Wochenende mit perfektem Wetter aussuchte.
Ruben Brooks, der Leiter der Einheit 12 der Magical Crimes Division des FBI, der Abteilung für magische Verbrechen, hatte nicht nur einfach eine Gabe. Seine seherischen Fähigkeiten waren erstaunlich. Er wohnte in Bethesda, einer Gegend, die sich kein Angestellter des FBI, egal wie hochgestellt er sein mochte, leisten konnte. Doch die Familie seiner Frau hatte Geld. Altes Geld, nicht moderne dicke Kohle, die Art von Reichtum, die von der Zeit wie Flusssteine zu Treuhänderfonds und Erbschaften glatt gespült wurde. Und das Haus der Brooks in Bethesda war ein Hochzeitsgeschenk ihrer Eltern gewesen.
Es hatte mehr Zimmer als die meisten Häuser, die Lily kannte, und war vollgestellt mit Antiquitäten, und doch wirkte es nicht protzig, sondern gemütlich. Das Grundstück und die Lage – beides trieb den Preis in astronomische Höhen. Bethesda war eben eine teure Gegend. Das Haus aus Stein und Holz, von dem aus es nur eine kurze U-Bahnfahrt bis ins Stadtzentrum war, stand auf drei Morgen Land und war umgeben von alten Bäumen. Die Anlage um das Haus war wunderschön – üppig und ideenreich gestaltet.
Eine Grillparty? Vielleicht, aber nicht in einer Umgebung, wie Lily sie gewohnt war.
Hier gab es sogar genug Platz für ein spontanes Softballspiel, um sich die Wartezeit bis zum Essen zu vertreiben. Als die Dämmerung sich herabsenkte, ließen sie sich an langen Gartentischen nieder, die auf dem Rasen aufgestellt waren. Die Gäste waren bunt gemischt: Agenten der Einheit mit ihren Lebens- und Ehepartnern oder Dates, normale FBIler und auch zahlreiche Gäste, die nichts mit dem FBI zu tun hatten. Ein paar der Ehepartner und Dates kannte Lily schon – wie zum Beispiel Margarita Karonski – ein Name wie ein Zungenbrecher. Karonskis Frau war ungefähr vierzig, hatte große Brüste, ein lautes Lachen, glänzendes schwarzes Haar und ein Diplom im Fach Elektrotechnik.
Alles war sehr auf Gleichheit bedacht. Lily aß Rippchen und Kartoffelsalat zusammen mit Rule, einer Lehrerin, einem anderen Agenten der Einheit, dem Leiter eines kleinen Priesterseminars, Rubens Sekretärin und dem Direktor des Statistischen Amtes.
Der Direktor und die Lehrerin waren, wie sich herausstellte, interessante Menschen, auch wenn sie sich bei einigen wichtigen Themen die Köpfe heiß redeten. Wie zum Beispiel Baseball. Nach dem Dessert blieben sie und die beiden am Tisch sitzen und debattierten weiter über Videobeweise.
»Lily Yu!«, brüllte jemand hinter ihr. »Es ist schon viel zu lange her!«
Lily drehte sich um. Ein Mann mit Einstein-Frisur, Benjamin- Franklin-Brille und arglosen braunen Augen in einem Nest aus Falten unter buschigen Brauen strahlte sie an. Er trug sackartige Shorts und Birkenstockschuhe. Und das nicht zu übersehende Bäuchlein bedeckte ein Hawaiihemd. »Dr. Fagin!«
»Fagin, meine Liebe, nur Fagin, es sei denn, Sie wollen es wie Sherry machen und mich Xavier nennen. Sonst stehe ich doch da wie ein herablassender Wichtigtuer, wenn ich Sie Lily nenne.«
Sie lächelte, schwang die Beine über die Bank und stand auf. »Annette und Carl«, wandte sie sich an ihre Tischnachbarn, »kennen Sie Dr. Xavier Fagin? Er arbeitet manchmal als Berater, ist aber eigentlich in Harvard –«
»Ich bin jetzt im Ruhestand. Letzten Monat bin ich nach D.C. gezogen.«
»Das wusste ich gar nicht. Es muss eine große Veränderung für Sie sein.«
»Leben heißt Veränderung.« Dazu lächelte er das freundlich unbestimmte Lächeln eines kauzigen alten Professors. Es war seine Art, weitere Nachfragen im Keim zu ersticken.
Lily verstand den Wink und ließ das Thema fallen. »Fagin, das sind Annette Broderick und Carl Rogers.«
»Annette kenne ich bereits. Erfreut, Sie wiederzusehen, meine Liebe.« Fagin wandte das freundliche Lächeln dem Direktor des Statistischen Amtes zu. »Und Sie sind Carl? Schön, Sie kennenzulernen. Ich fürchte, ich muss so unhöflich sein, Ihnen Lily zu entführen. In einer Forschungsangelegenheit.«
Lily musste lachen. »Forschung, ach so –«
»Sagen wir, es geht um ein Forschungsprojekt persönlicher Art. Es fällt mir schwer, Lily, dem Drang zu widerstehen, Sie einfach beim Arm zu nehmen und sanft wegzuziehen. Männer in meinem Alter kommen gewöhnlich mit einem solchen Benehmen straflos davon. Das ist eine der wenigen Annehmlichkeiten des Älterwerdens. Aber in Ihrem Fall –«
»Wäre das keine gute Idee.«
Dr. Xavier Fagin – ein B.A., M.A., MFA, Ph.D. und obendrein noch DDT, LOL und RAM, wer weiß, was noch? – war einer der führenden Experten für magische Geschichte in der Zeit vor der Säuberung. Er hatte den von der Präsidentin einberufenen Arbeitskreis geleitet, der sich mit den Folgen der Wende befasste. Dort hatte Lily seine Bekanntschaft gemacht. Zudem war er der einzige andere Berührungssensitive, den sie kannte. Dass es da besser war, wenn sie sich nicht die Hand schüttelten, hatten sie am eigenen Leib erfahren müssen.
»Ja, leider. Also muss ich auf Ihre Neugier setzen, um Sie wegzulocken, statt auf Ihre Nachsicht mit den Absonderlichkeiten eines alten Mannes. Ich habe gehört, Sie haben einen Geist gesehen?«
Sofort wollte Carl alles darüber wissen. Annette sagte, dass ihre Cousine Sondra eine leichte mediale Gabe habe und deshalb manchmal Geister sehe. Dass Lily ebenfalls diese Gabe besitze, habe sie gar nicht gewusst.
»Das ist ja auch nicht der Fall«, sagte Lily. »Deswegen ist die Sache ja so verwirrend.«
»Und deswegen«, sagte Fagin zu den anderen beiden, »möchte ich Lily ein oder zwei schrecklich persönliche Fragen stellen, die sie zweifellos nicht beantworten will, aber ich glaube, wenn ich sie zwei Minuten für mich habe, kann ich sie vielleicht zu einer Antwort bewegen.«
Nun war Lily doch neugierig geworden. Sie und Dr. Fagin schlenderten zu den Wannen, in denen Bier und Limonade auf der Terrasse kalt gehalten wurden. »Sie haben mit Rule gesprochen.«
»So ist es. Außerdem sammle ich Informationen und Berichte von Menschen, die keine Medien sind, die Geister gesehen haben oder angeben, sie gesehen zu haben.«
Ihre Augenbrauen wanderten höher. »Dann geht es also tatsächlich um ein Forschungsprojekt.«
Er winkte ab. »Aus rein persönlichem Interesse. Ich bezweifle, dass ich es je veröffentlichen werde. Zu viele der Berichte sind rein anekdotisch.«
»Und warum haben Sie ein persönliches Interesse an der Frage, wer Geister sieht?«
Er stieß einen langen Seufzer aus. »Ich nehme an, es ist nur fair, dass ich darauf antworte, wenn ich Sie nachher bitte, meine indiskreten Fragen zu beantworten. Vor fünfzehn Jahren habe ich den Geist meiner Mutter gesehen.«
»Oh.« Sie waren bei den Getränkewannen angekommen. Lily nahm sich eine Dose Diätcola und zog den Verschluss auf. »Da Sie kein Medium sind, muss es wohl die enge emotionale Bindung gewesen sein. Ich habe gehört, das gibt es manchmal.«
»Sie war nicht tot.«
Die Dose verharrte kurz auf halbem Wege zu Lilys Lippen. Erst dann nahm sie einen Schluck. »Dann könnte es … ich weiß nicht … eine Astralreise gewesen sein? Hatte sie eine Gabe?«
»Nein. Ich sah ihren Geist um fünf Minuten nach Mitternacht – eine ausgesprochen passende Zeit, nicht wahr? – und sie starb um zwölf Uhr neunundvierzig.«
Das verlieh der Geschichte eine unerwartete Wendung.
»Interessant ist auch«, fuhr er fort, »dass sie Alzheimer im fortgeschrittenen Stadium hatte. Sie lebte zu diesem Zeitpunkt bereits seit zehn Jahren in einem Pflegeheim in Cambridge und hatte seit einem Jahr nicht mehr gesprochen. In dieser Nacht hielt ich mich hier in Washington auf, um mich mit einem, ähm, Mitglied der Regierung zu treffen, und schlief tief und fest in meinem Hotelzimmer. Plötzlich wachte ich auf und hatte das Gefühl, dass sich jemand über mich beugte … und da war sie. Sie trug ein blassblaues Nachthemd und einen Bademantel, wie damals, als ich noch klein war, und sie roch nach White Shoulders. Mein Vater schenkte ihr jedes Jahr zu Weihnachten White Shoulders, und sie trug den Duft jeden Tag bis zu seinem Tod. Danach nie wieder. Ihr Haar war braun und gelockt. Und die Brille, die sie die letzten vierzig Jahre ihres Lebens getragen hatte, war weg. So wie auch alle anderen Zeichen des Alterns … Sie deckte mich zu«, endete er schlicht. »Gab mir einen Kuss, lächelte, und dann war sie fort. Als ich mich umsah, fiel mein Blick auf den Wecker, dessen Anzeige in diesem Moment auf zwölf Uhr sechs wechselte.«
»Meine Güte.«
»Der Duft von White Shoulders war noch ein paar Minuten danach zu riechen.«
»Das ist ja unglaublich. Das war bestimmt …« Lily schüttelte den Kopf. Ihr fiel kein anderes Wort als »überwältigend« ein, um eine solche Erfahrung zu beschreiben. »Hat sie Sie tatsächlich zugedeckt? Ich meine, hat sich die Decke wirklich bewegt? Haben Sie den Kuss gespürt?«
»Beides Mal: nein. Ihre Handlungen hatten keine Wirkung auf die stoffliche Welt.«
»Aber Sie haben ihren Lieblingsduft gerochen.« Duft war stofflich, aber auch die Erinnerung an einen Duft konnte im Gehirn ausgelöst werden. Das war also kein Beweis, dass sie tatsächlich körperlich anwesend gewesen war. »Sie erwähnten die Farbe ihres Haars und ihres Nachthemdes. Sah sie aus, als wäre sie fest?«
»Fast.« Sein Ton wurde träumerisch. »Sie war ungewöhnlich klar und deutlich zu sehen, aber nicht ganz fest, nein. Ich wusste sofort, dass sie ein Geist war.«
»Und Sie sind sich sicher, was die Uhrzeit betrifft?«
»Wie ich schon sagte, ich sah, dass die Anzeige umsprang. Sobald sie verschwunden war, rief ich das Pflegeheim an und bat darum, nach ihr zu sehen. Man stellte fest, dass sie unter Atemnot litt, aber nach den Werten, anhand derer wir Leben feststellen, noch am Leben war. Von da an kümmerte sich medizinisches Fachpersonal um sie. Um zwölf Uhr neunundvierzig setzten Herz und Atmung aus.«
»Ein Geist, der vor dem Tod erscheint. Das habe ich noch nie gehört.« Sie überlegte. »Ist ein solcher Besucher wirklich ein Geist? Eine Bekannte, die ein hochbegabtes Medium ist, würde wohl sagen: Das hängt davon ab, wie wir den Begriff Geist definieren.«
»Ganz genau.« Er lächelte – wie der kleine Junge, der er gewesen war, damals, als eine Frau im blassblauen Nachthemd ihn jeden Abend zugedeckt hatte. »Damals begann ich mit meinem kleinen Hobby, Geistergeschichten zu sammeln. Zuerst war ich nach denen auf der Suche, die meiner eigenen ähnelten – und fand auch ein paar –, dann aber fing ich an, mich für die Frage zu interessieren, wie und warum Menschen ohne mediale Gabe Geister sehen. Sie tragen Achat.«
Sie blinzelte. »Ach ja?«
»Ihre Halskette. Die weißen Steine sind Achate. Haben Sie sie auch getragen, als Sie Ihren Geist gesehen haben?«
»Es ist nicht mein Geist.« Lily war es leid, das immer wieder zu hören. »Und nein, habe ich nicht.«
»Haben Sie sie angelegt, um sich vor dem Geist zu schützen?«
»Ich habe sie angelegt, weil Rule sie mir geschenkt hat. Heute Abend. Kurz bevor wir herkamen.«
Er schmunzelte. »Vielleicht verwechsle ich Ursache mit Zufall. Weißer Achat soll Träume und die Konzentration fördern. Aufgrund seiner Verbindung mit dem Kronenchakra glauben viele, dass er die spirituelle Kommunikation verbessert. Wieder andere tragen ihn als Schutz vor böswilligen oder verwirrten Wesen. Mit anderen Worten: Geistern.«
»Oh. Nun, wenn Rule nicht plötzlich eine präkognitive Gabe wie Rubens entwickelt hat, ist es reiner Zufall, dass ich die Kette heute Abend trage. Sie sagten, Sie hätten eine Theorie.«
»Und indiskrete persönliche Fragen. Diese hier ist allerdings nicht indiskret. Würden Sie mir bitte von dem Geist, den Sie gesehen haben, erzählen?«
Lily beschrieb ihn mit knappen Worten. »… Sie sehen, es war keine Erfahrung wie Ihre. Nebelartig, farblos, nur eine Gestalt, und soweit ich weiß, habe ich keine persönliche Verbindung zu dem Verstorbenen.«
»Hmmm. Sind Sie schon einmal gestorben?«
»Ich …« Ein paar Herzschläge lang wusste Lily nicht, was sie sagen sollte. Die Geschichte, die einem »Ja« folgen musste, war kompliziert und nicht für andere Ohren bestimmt, denn darin kam auch die Öffnung eines Höllentors vor. »Das ist keine Frage, die ich jeden Tag gestellt bekomme. Ich neige dazu, sie mit Ja zu beantworten, kann Ihnen aber keine Einzelheiten berichten.«
»Ausgezeichnet.« Er strahlte. »Die Geistersichtungen, die ich zusammengetragen habe, können in drei Kategorien aufgeteilt werden. In der ersten besteht eine enge Verbindung zwischen der Person und dem Geist. In der zweiten scheint der Geist selbst die Fähigkeit erworben zu haben, sich sichtbar zu machen. Aus irgendeinem Grund«, fügte er hinzu, »kommt das besonders häufig in England vor. Die dritte Kategorie jedoch besteht aus Menschen, die das erlebt haben, was man gemeinhin eine Nahtoderfahrung nennt.«
Lily nahm noch einen Schluck Diätcola. Sie fühlte sich unbehaglich und war zugleich fasziniert. »Ich habe guten Grund anzunehmen, dass meine, äh, meine Nahtoderfahrung …« Sie schüttelte den Kopf. »Nah« war das falsche Wort. Denn ein Teil von ihr war tatsächlich gestorben, doch dieser Teil war zu dieser Zeit von ihr körperlich getrennt gewesen. »Meine eigene Erfahrung hat mich dem Spirituellen geöffnet, könnte man sagen –«
»Fagin, lassen Sie doch die arme Lily … Oh, Pardon.« Deborah Brooks zog eine drollige Grimasse. »Ich habe Sie unterbrochen.«
»Von einer schönen Frau lasse ich mich immer gern unterbrechen.«
Und das war Deborah. Ihre Schönheit war eine klassisch englische, mit Haut wie Milch und weichem braunem Haar, das ihr gerade über die Schultern reichte. Große Augen, lange dichte Wimpern, ein herzförmiges Gesicht mit absolut symmetrischen Zügen. Männer würden sich nicht auf der Straße nach ihr umdrehen, nein, sie würden eilig nach einer Pfütze Ausschau halten, um ihren Umhang darüberzubreiten. Obschon sie sich aus Mangel an Umhängen in diesen Zeiten vermutlich damit begnügen mussten, ein T-Shirt zu benutzen, damit sie trockenen Fußes darüber gelangte.
Das absolut symmetrische Gesicht setzte ein zurückhaltendes Lächeln auf. »Danke.«
»Deborah!« Fagin stürzte sich auf sie wie ein freundlicher Bär, packte sie bei den Schultern und gab ihr einen lauten Kuss auf die Lippen. »Tun Sie das nicht!«
Deborah gab ein erschrockenes Lachen von sich. »Sie sind unmöglich!«
»Nein, nur verrückt. Ihre Mutter ist heute Abend nicht hier. Sie können das Kompliment annehmen, mich schlagen – aber nicht ins Gesicht, bitte! –, mir sagen: ›Ja, ich weiß‹, oder: ›Verziehen Sie sich endlich‹, oder aber mich bitten, mit Ihnen in die Karibik zu fliegen, um dort ein paar heiße Tage und wilde Nächte zu –«
Deborah lachte. »Oh, hören Sie auf. Für Letzteres bin ich zu beschäftigt; zu gehemmt, um jemandem zu sagen, dass er sich verziehen soll, und ich kann Ihnen ganz unmöglich zustimmen!«
»Mir ist nicht entgangen, dass Sie die Option mich zu schlagen, nicht ausgeschlossen haben.« Er tätschelte ihren Arm. »Braves Mädchen. Lily, ich überlasse Sie vorerst unserer Gastgeberin, behalte mir aber das Recht vor, Sie später noch einmal zu belästigen.«
»Danke für die Vorwarnung.«
Fagin schlenderte davon. Immer noch lächelnd, drehte sich Deborah zu Lily um. »Eigentlich wurde ich geschickt, um Sie zu holen. Rule möchte Ihnen gern jemanden vorstellen.«
Ganz automatisch warf Lily einen Blick zu dem fünfzehn Meter entfernten Swimmingpool hinüber. Damit verriet sie sich, auch wenn Deborah ihre Reaktion sicher nicht zu deuten wusste. Dass Lily stets wusste, wo Rule gerade war, war eine der praktischeren Eigenschaften des Bandes der Gefährten. Im Moment sprach Rule mit zwei Männern – der eine war groß und dunkelhäutig in Kakihose und gelbem Polohemd, der andere klein, schlank und dunkelhaarig mit einem kurzen Schnurrbart. Er trug Jeans, ein weißes Hemd und eine Sportjacke. Lily war sich ziemlich sicher, dass er beim Softball-Spiel noch nicht dabei gewesen war.
Es sah Rule gar nicht ähnlich, jemanden nach ihr zu »schicken«. Musste er etwa wieder einmal seinen Status herauskehren? »Croft kenne ich, also muss es der in der Sportjacke sein.«
»Dennis Parrott. Er ist Senator Bixtons Stabschef.«
Lily verzog das Gesicht.
»Ich weiß«, sagte Deborah mitfühlend, »aber es kann von Vorteil sein, wenn man seine Feinde auch privat kennt.«
Überrascht sah Lily sie an. »Sie sehen Dennis Parrott als Feind?«
Die weiche, blasse Haut färbte sich rosa. »Das hätte ich nicht sagen sollen.«
»Warum nicht?«
Deborah spitzte die Lippen. »Ich weiß nicht, aber es ist so. Fagin hat ein Talent, mich aus der Reserve zu locken, und dann kann mir immer etwas Unbedachtes entschlüpfen. Machen Sie sich keine Gedanken. Es stimmt, Rule möchte Ihnen Mr Parrott vorstellen, aber ich hatte noch einen anderen Grund, Sie zu sehen.« Sie holte Luft, als wollte sie einen Kopfsprung aus großer Höhe machen. »Ich wollte mich entschuldigen.«
»Entschuldigung angenommen, aber wofür entschuldigen Sie sich?«
»Für mein Benehmen, als wir uns kennenlernten. Ich …« Wieder wurden ihre Wangen rosig. »Ich wollte Ihnen nicht die Hand geben. Nicht mit Ihnen sprechen. Ich habe Ihnen nur zugenickt und bin weggelaufen. Sie müssen gedacht haben, ich wollte Sie brüskieren.«
Ja, genau das hatte sie gedacht.
»Es tut mir leid.« Deborah streckte ihr die Hand hin.
Lily ergriff sie und lächelte über das, was die Berührung ihr verriet. Und vor Erleichterung. Ruben hatte keine hochnäsige Zicke verdient. »Sie haben mich nicht brüskiert. Sie waren nur schüchtern.« Nicht nur misstrauisch oder sich selbst schützend – was beides erlernte Verhaltensweisen waren. Schüchternheit dagegen war angeboren.
»Der moderne Fachterminus lautet soziale Phobie, aber mir gefällt der alte Begriff besser. Ja, ich bin schüchtern.«
»Das ist sicher nicht einfach, wenn man Lehrerin ist.«
Ein plötzliches Lächeln erhellte ihr Gesicht. »Vor einer Klasse zu stehen, ist anders. Es hat mir sogar geholfen, mich ein wenig zu überwinden. Mittlerweile komme ich ganz gut klar, aber dann und wann kommt es einfach über mich, wie bei Ihnen. Dann quäle ich mich mit Vorwürfen, wie dumm oder kalt oder unfreundlich ich gewirkt haben muss. Schüchternheit ist eigentlich sehr selbstsüchtig, sehr nach innen gerichtet.«
»Das ist Trauer auch, aber wir werfen es niemandem vor, wenn er trauert.«
Deborah blinzelte. »Ich mag Sie«, sagte sie, als würde sie die Erkenntnis überraschen. Sie legte den Kopf schräg. »Als wir uns die Hände gaben, hatte ich eigentlich erwartet, dass Sie etwas zu meiner … nun ja, meiner kleinen Gabe sagen würden.«
»Ich spreche nicht über das, was ich bei einer Berührung empfinde, es sei denn, es gibt gute Gründe dafür. Manche Menschen mögen es nicht, dass andere etwas über ihre Gabe erfahren.« Erdmagie fühlte sich für Lily warm an, warm und sandig und langsam. Eine stark ausgeprägte Erdgabe war auch schwer, so als würden Erdreich und Gestein von unten gegen die sandige Oberfläche drücken. Deborahs Gabe war nicht stark, aber klar und deutlich erkennbar, ein Zeichen, dass sie ihre Gabe regelmäßig nutzte.
»Es ist mir ein wenig unangenehm, darüber zu sprechen«, gab Deborah zu, als sie sich auf den Weg zum Pool machten. »Es ist nicht so, dass meine Eltern orthodox sind. Sie sind eigentlich überhaupt nicht religiös, aber ich glaube, für sie ist Magie so etwas wie Schummeln. Auf jeden Fall ist es geschmacklos, etwas, über das man in der Öffentlichkeit nicht spricht. Ich wurde dazu erzogen, meine Fähigkeit geheim zu halten.«
»So wie ich.« Lily hatte gewusst, dass Ruben Jude war, doch sie hatte immer angenommen, er sei es eher durch seine Herkunft als durch seinen Glauben – vielleicht, weil das Thema Religion zwischen ihnen nie aufgekommen war. Dass Deborah in beiderlei Hinsicht jüdisch war, war ihr neu. »Als ich noch bei der Mordkommission war, habe ich verschwiegen, dass ich eine Sensitive bin. Zum einen, weil ich so erzogen wurde, zum anderen aber auch, weil ich Angst hatte, man könnte mich dazu benutzen, jemanden zu outen, verstehen Sie?«
Deborah nickte. »Torquemada.«
»Unter anderen, ja.« Sensitive waren vor, während und nach der Säuberung dazu benutzt worden, Andersblütige und von Magie »Verunreinigte« aufzuspüren. Der spanische Großinquisitor war einer der bekanntesten Sensitiven. Als Massenmörder wurde ihm zwar der Rang durch Hitler, Lenin und Pol Pot abgelaufen, aber er hatte sehr viel mehr gefoltert als die neun- oder zehntausend, die er auf dem Scheiterhaufen verbrannt hatte. »Es dauerte ein bisschen, bis ich mich daran gewöhnt hatte, mich nicht mehr zu verstecken, aber mir gefällt es so besser. Sehr viel besser.«
»Ich verstecke meine Gabe nicht. Ich rede nur nicht darüber.«
Lily warf ihr einen belustigten Blick zu.
Deborah schnitt ein Gesicht. »Ich nehme an, das kommt auf dasselbe heraus. Liegt Magie bei Ihnen in der Familie?«
»In der Familie meines Vaters ja, aber er selbst hat keine Gabe. Warum?«
»Oh, ich interessiere mich für Genetik. Insbesondere, nachdem wir herausgefunden haben, welche Wirkung die Abstammung von den Sidhe auf Ruben hat – zuerst hatte er diese Allergie, dann hat es ihm das Leben gerettet. Kennen Sie Arjenie Fox?«
»Natürlich.« Dass Arjenie die neue Gefährtin von Rules Bruder Benedict war – die einzige andere Auserwählte in Nordamerika –, musste natürlich unter allen Umständen geheim bleiben, aber Lily hatte Arjenie auch vorher schon gekannt. Sie arbeitete als Rechercheurin für das FBI.
»Ich war sehr überrascht, als sie nach Kalifornien zog. Aber wie sagt man doch: Wo die Liebe hinfällt … nicht wahr? Sie hat mir geholfen. Aus Gefälligkeit, in ihrer Freizeit«, ergänzte Deborah hastig. »Nicht während der Arbeitszeit und ohne Arbeitsmittel zu nutzen.«
Lily unterdrückte ein Lächeln. So wie sie Arjenie kannte, würde sie alle Mittel nutzen, die sie wollte. Sie hatte zwar feste moralische Grundsätze, doch die stimmten nicht unbedingt mit denen ihres Arbeitgebers überein. »Jetzt, da ich Ihre Gabe kenne, frage ich mich, wie viel von dem da« – Lily deutete auf den Garten – »Sie eigenhändig geschaffen haben. Eine wunderschöne Anlage. Meiner Erfahrung nach mögen es die meisten Erdbegabten gar nicht, wenn ihnen andere Leute ins Handwerk pfuschen.«
»Ich habe jeden Zentimeter Erde selbst bepflanzt«, sagte Deborah mit dem ganzen Stolz einer leidenschaftlichen Gärtnerin.
Offenbar durfte man Deborah keine Komplimente wegen ihres Aussehens machen. Das verschreckte sie. Aber wenn man ihren Garten lobte, blühte sie auf. »Das gefällt mir besonders«, sagte Lily, als sie zu einem runden, mehrstufigen Beet kamen. »Es sieht aus wie eine Hochzeitstorte oder eine Fontäne aus Pflanzen statt aus Wasser.« Sie blieb stehen und dachte nach. So spät im Jahr blühten die meisten Pflanzen nicht mehr, aber … »Ist das ein weißer Garten?«
»Oh, Sie sind auch Gärtnerin! Ja, ich liebe es, wenn die vielen weißen Blumen in der Dämmerung schimmern. Ich wünschte, Sie hätten sie vor einem Monat sehen können. Ich fürchte, selbst die Zimterle hat den Höhepunkt ihrer Blüte bereits überschritten.«
»Zimterle?«, fragte Lily. »Ich kenne mich nicht gut in der hiesigen Pflanzenwelt aus, aber ich dachte immer, sie blühe nur im Sommer.«
Ein verschmitztes Grübchen zeigte sich in Deborahs linker Wange. »Kann sein, dass es mir gelungen ist, sie zu überzeugen, länger zu blühen.«
»Da nenne ich mal einen nützlichen Trick. Den außerdem nicht viele Erdbegabte beherrschen.«
»Den hat mir ein Naturgeist beigebracht.«
Lilys Augenbrauen schossen in die Höhe. »Ein Naturgeist?«
»Sie besuchen mich manchmal. Ich glaube, sie finden mich interessant.«
»Ah.« Lily stellte fest, dass sie sich viel lieber weiter mit Deborah unterhalten würde, als sich bei Bixtons Stabschef lieb Kind zu machen. »Ich habe keinen eigenen Garten, aber meine Großmutter lässt mich in ihrem werkeln, wie ich will. Nichts ist beruhigender, als ein paar Quadratmeter Unkraut zu zupfen.«
»Genau. Aber Bermudagras –!« Deborah verdrehte die Augen. »Die Vorbesitzer des Hauses haben es gepflanzt. Sogar nach zwanzig Jahren finde ich noch Ausläufer, die ich ausgraben muss.«
»Ein hartnäckiges Zeug. Man nutzt es wohl auch in der chinesischen Landwirtschaft. Wer immer auf die Idee kam, Bermudagras sei eine Lösung –«
»– der hat noch nie einen Garten gestaltet, das ist sicher. Es breitet sich überall aus. Dann kennen Sie es aus Kalifornien?«
»Oh, das gibt es überall. Ich habe gehört«, sagte Lily düster, »dass man es sogar auf dem Grund des Grand Canyon gefunden hat. Was für eine Grassorte verwenden Sie für Ihren Rasen? Die kenne ich nicht aus Kalifornien.«
»Wiesen-Rispengras. Wenn man es nicht zu kurz mäht, ist es beinahe unkrautfrei.«
Zwanzig Minuten später begutachteten Lily und Deborah einen traurig aussehenden Rhododendron an einer östlichen Ecke der Rasenfläche in der Nähe des Waldes und plauderten über Mulch und Kompost und Wurzelfäule.
»… kein großes Problem in dem Teil des Landes, in dem ich wohne«, sagte Lily gerade. »Doch ich weiß, dass eine gute Entwässerung entscheidend ist. Aber wenn Sie den Boden schon mit Ihrer Magie aufgepeppt haben, dann könnte vielleicht eine andere Sorte Mulch –«
Ein klarer Tenor unterbrach sie trocken. »Ich hätte es wissen müssen.«
Deborah blickte über die Schulter zurück zu ihrem Mann. Wieder blitzte das Grübchen auf. »Lily gefällt der Garten.«
Ruben Brooks sah nicht aus wie ein Mann, der erst vor Kurzem einen Herzanfall erlitten hatte … der ihn beinahe das Leben gekostet hätte und der Grund für seine unbefristete Beurlaubung aus gesundheitlichen Gründen war. Ein Herzanfall, ausgelöst durch einen Zaubertrank, den ihm, wenn man Zeit und Gelegenheit bedachte, nur jemand aus dem FBI-Hauptquartier verabreicht haben konnte. Ein Verräter.
Heute Abend jedoch sah Ruben gesund aus. Zwar immer noch eher mager als schlank, Hakennase, zerzaustes Haar und eine Brille, die eher an einen Computerfreak als an einen Macher denken ließ. Doch er war nicht mehr so ausgemergelt. Und er saß nicht mehr im Rollstuhl. Als Lily ihm im letzten November zum ersten Mal begegnet war, hatte er an einer mysteriösen Krankheit gelitten, die zu fortschreitender körperlicher Schwäche führte. Diese Krankheit hatte er immer noch. Sie war genetisch bedingt und würde ihn sein ganzes Leben lang begleiten, doch heute wusste er, was sie auslöste und konnte diese Auslöser vermeiden … mehrheitlich. Eisen und Stahl ganz zu meiden war unmöglich.
Er lächelte sie fragend an. »Ich wusste gar nicht, dass Sie einen grünen Daumen haben. Sie haben doch gar keinen Garten.«
»Nein, aber wie ich Deborah schon sagte, darf ich mich in dem meiner Großmutter austoben.« Wenn sie Zeit dazu fand. Wenn sie in San Diego und nicht in Washington war.
»Schön, dass Sie Gelegenheit haben, sich schmutzig zu machen. Lily, bitte versuchen Sie sich Ihre Reaktion auf das, was ich Ihnen jetzt sage, nicht anmerken zu lassen. Wenn die anderen Gäste gegangen sind, würde ich gerne mit Ihnen und Rule sprechen. Wenn Sie bleiben könnten, ohne dass es auffällt … vielleicht kann Deborah ihnen den Ficus zeigen, der versucht, den Wintergarten in Beschlag zu nehmen. Dann könnten Sie im Haus bleiben, während die anderen sich verabschieden.«
Deborah seufzte schwach. »Es ist Zeit, nicht wahr?«
»Ich fürchte, ja.«
Lily lächelte und nickte, als hätte Ruben eine Bemerkung über das Wetter gemacht. Jetzt erst bemerkte sie, dass die Anzahl der Gäste abgenommen hatte, während sie mit Deborah gesprochen hatte. Ein halbes Dutzend Fragen schoss ihr durch den Kopf, doch sie stellte sie nicht. Wenn Ruben ihr hätte sagen können, was los war, hätte er es getan. »Okay.«
Obwohl er keine Gedanken lesen konnte und sie, wie sie glaubte, ihr Mienenspiel im Griff gehabt hatte, beantwortete er eine ihrer Fragen. »Es geht um den Krieg.«