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Rock Creek Park war ein freundliches, langgestrecktes Waldgebiet, das mit seinem grünen Finger bis in Washingtons Betonhintern hineinreichte. Teile des Parks waren mit Fahrradwegen, Pfaden, Brücken, einem Planetarium, mehreren kulturhistorischen Sehenswürdigkeiten und Tennisplätzen herausgeputzt worden. Die wilderen Ecken zogen Vögel, Waschbären und dann und wann sogar ein Reh oder einen Kojoten an.
Und einen Drachen.
Nicht, dass Mikas Höhle zu den wilderen Ecken gezählt hätte. Ursprünglich war es ein altes Amphitheater gewesen – das sich wohl, vermutete Lily, in Mikas Augen, als er im Dezember eintraf, um seine Arbeit als magischer Schwamm aufzunehmen, am besten für den Bau einer Höhle geeignet hatte. Eigentlich war der Ort nur als vorübergehende Lösung gedacht gewesen, doch dann hatte es Mika hier gefallen.
Warum, wusste keiner so genau. Der Park war zwar hübsch, doch Lily bezweifelte, dass Drachen dasselbe ästhetische Empfinden wie Menschen hatten. Dass Mika Bäume mochte, wusste sie immerhin. Sie betrat einen betonierten Weg, über dem sich die verschränkten Äste der Eichen, die bereits begannen, sich in ihre Herbstfarben zu kleiden, zu einem Dach wölbten … ein Weg, der nur deshalb noch unversehrt war, weil Mika die Bäume nicht hatte beschädigen wollen, die ihn in so enger Umarmung hielten. Denn den meisten Beton in dieser Gegend hatte er entfernt.
Als er sich dann auch noch den Parkplatz vorgenommen hatte, war es der Parkverwaltung dann wohl zu weit gegangen, hatte sie gehört.
Und jetzt wollte sie ihn zurück. Genauso wie ihr Amphitheater.
Doch sie konnten nichts dagegen tun – das Abkommen erlaubte es den Drachen, sich ihre Plätze auf dem Land, das sich in öffentlichem Besitz befand, frei auszuwählen. Aber auch die Stadtverwaltung war alles andere als glücklich. Und Lily konnte verstehen, warum. Menschen stellten sich eben manchmal erstaunlich dumm an. Da konnte man so viele Schilder mit dem Warnhinweis »Gefahr: Drachenhöhle« aufstellen, wie man wollte, es gab immer ein paar Idioten, die trotzdem über den Zaun kletterten.
Gefressen hatte Mika bisher keinen der Eindringlinge, soweit Lily wusste. Doch es hatte ein paar unerfreuliche Zwischenfälle gegeben.
Das hatte die Behörden der Stadt Washington immerhin so in Sorge versetzt, dass sie sich deswegen an Sam gewandt hatten. Sam – auch bekannt als Sun Mzao – war der größte, älteste und mächtigste der Drachen, die nach ihrem langen Aufenthalt in der Hölle auf die Erde zurückgekehrt waren. Er war es gewesen, der das Tor mit seinem Gesang weit genug geöffnet hatte, um Lily und Rule mit hindurchnehmen zu können … oder sie ihn, wenn man so wollte.
Sam war es auch gewesen, der damals aus dem Nachthimmel auf den Rasen des Weißen Hauses hinabgestiegen war, als er die Zeit für Verhandlungen für gekommen gehalten hatte. Mit der Wende war in einem solchen Ausmaß Magie in die Welt geströmt, dass die menschlichen Techniker ihrer nicht mehr Herr wurden. Drachen absorbierten nicht nur freie Magie – sie brauchten sie auch zum Leben. Und sie brauchten eine neue Heimat, denn in der Hölle war es für sie zu gefährlich geworden, nachdem ein gewisser Dämonenfürst den Avatar der Erzfeindin verschlungen hatte und daraufhin wahnsinnig geworden war.
Deshalb war es nicht überraschend, dass Washingtons Bürgermeister Sam für den Anführer der Drachen hielt. Falsch, aber nicht überraschend. Die Menschen verstanden einfach nicht, wie Drachen tickten.
Trotzdem war Sam – für seine Verhältnisse – recht höflich zu den Menschen gewesen, die quer durchs Land geflogen waren, um bei ihm vorstellig zu werden. Zwar hatte er den Bürgermeister und seine Leute nicht in seine Höhle gebeten, aber er hatte sich herabgelassen, mit ihnen zu sprechen, während sie am Eingang standen.
Mika ist jung, hatte Sam gesagt. Irgendwann wird er dieses seltsamen Ortes, den er sich ausgesucht hat, müde werden.
»Aber ›irgendwann‹ könnte auch Jahre bedeuten, vielleicht auch Jahrzehnte, habe ich gehört. Die Leute wollen jetzt den Park nutzen. Die Kinder. Da ist die Katastrophe so gut wie vorprogrammiert.«
Hat Mika jemanden gefressen, den er nicht hätte fressen dürfen? Ein Haustier? Eure Regierung hat sich Sorgen um die Haustiere gemacht, wenn ich mich recht erinnere.
»Nein, aber die Gefahr besteht trotzdem. Er hat –«
Nicht gegen die Bedingungen des Abkommens verstoßen. Wenn er gegen das Abkommen verstößt, könnt ihr es irgendeinem von uns sagen, und wir kümmern uns darum. Bis dahin geht es mich nichts an. Geht jetzt.
»Wenn du ihm nicht befehlen möchtest, sich eine andere Höhle zu suchen, dann könntest du ihn vielleicht davon überzeugen, dass es das Beste wäre. Oder einfach mit ihm reden. Er hört nicht auf uns, aber es gibt da einen sehr schönen Platz mit einem kleinen See und –«
Und ganz plötzlich waren der Bürgermeister und vier seiner Begleiter eingeschlummert. Dem fünften – ein stämmiger Angestellter der Parkverwaltung – wurde befohlen, die Bewusstlosen wegzubringen. Was er auch tat. Eilig.
Doch der Washingtoner Bürgermeister war bewundernswert beharrlich. Deswegen wusste Lily überhaupt nur von der Unterhaltung mit Sam. Denn nachdem er aufgewacht war, hatte er sich an ihre Großmutter gewandt, mit der Bitte zu intervenieren.
Großmutter hatte ihm Tee serviert – wenn auch nicht mit der vollständigen Zeremonie –, hatte sich seine Geschichte angehört und ihm dann die Wahrheit gesagt. »Angesichts einer solchen groben Unhöflichkeit hat Mika bewundernswerte Selbstbeherrschung bewiesen. Sie müssen lernen, mit seiner Anwesenheit zu leben. Hören Sie auf, ihn oder irgendeinen der anderen Drachen deswegen zu piesacken. Niemand schreibt einem Drachen vor, wo er seine Höhle zu bauen hat. Nicht einmal ein anderer Drache.«
Lily lächelte, als sie das Ende des Baumtunnels erreichte. Großmutter hatte es sichtlich genossen, ihr diese Geschichte zu erzählen.
Bäume und Weg endeten vor einer Wand aus Erde und Stein, begrünt mit hohem Gras und dem, was Gärtner optimistisch als Wildwuchs oder einheimische Pflanzen bezeichneten. Unkraut für die meisten Menschen. Lily hob den Blick. Für einen Hügel war dieser hier ziemlich steil. Viele Felsbrocken, so wie die Felsformationen bei ihr zu Hause, doch diese hier waren arrangiert, nicht auf natürlich Weise aus den Gebeinen der Erde gewachsen.
Da sie über diesen Aspekt von Mikas baulichen Verbesserungen vorgewarnt war, hatte sie sich entsprechend angezogen: Jeans, Nikes, ein T-Shirt, eine leichte Jacke, die ihre Waffe verbarg und eine sichere Innentasche für ihr Handy hatte. Nach einem Moment entdeckte sie zu ihrer Rechten einen offenbar wenig begangenen Pfad und begann, ihn hochzusteigen.
Es gab zwei Zugänge ins Innere von Mikas Höhle, von denen einer über den Parkplatz führte, der nun keiner mehr war, sondern ein riesiger Viehstall. Doch da man Lily gesagt hatte, sie sollte sich vom Speisezimmer fernhalten, quälte sie sich nun den von Mika angelegten Abhang hinauf. Er war abschüssig, aber nicht allzu schwierig zu bewältigen – nur an einem kurzen Abschnitt musste sie sich mit beiden Händen festhalten.
Oben angekommen, spürte sie das schwache Schwirren von Magie auf der Haut. Mikas Schutzbann wahrscheinlich. Sie blickte in die Tiefe. Hier ging es viel weiter hinunter, als sie aufgestiegen war.
Jetzt erinnerte nur noch wenig daran, dass dies einmal ein Amphitheater gewesen war. Dort, wo früher die Sitzreihen zur Bühne hinuntergeführt hatten, stützten nun Steine die Wand aus Erde, die sie erklettert hatte. Kein solider Stein und auch keine mit der säuberlich-geometrischen Ordnung der Menschen aufgestellte Felsbrocken, sondern hier dickere, dort kleinere, und dazwischen auch gelegentlich ein Block, der ganz offensichtlich nicht aus dieser Gegend stammte. Künstlerische Freiheit vielleicht. Am Fuß der Wand war nackte Erde – Mikas Landestelle und Sonnendeck. Jenseits davon war die Kuppel, unter der einst das Orchester gespielt hatte, teilweise unter festgestampfter Erde verschwunden, die jemand dort angehäuft hatte. Das Dach der Kuppel war ebenfalls unter einer Erdschicht verborgen. In der ersten Schrecksekunde musste Lily an eine riesige Krabbe denken, die versucht, sich in den Sand einzugraben, um zu flüchten.
Drachenhöhlen bestanden immer aus Erde und Stein. Beides hielt die mentale Kakofonie von ihnen fern. »Hallo, Mika«, sagte Lily – und wäre beinahe vor Schreck zusammengefahren, als etwas Kleines, Graues an ihren Füßen vorbeihuschte. Eine Katze.
Ich habe sie Beelzebub getauft, sagte Mika. Seine mentale Stimme war anders als Sams – kühl und präzise, gewiss, aber ohne Sams rasiermesserscharfe Klarheit, dafür aber mit einem leichten Aroma. Ein Unterschied wie zwischen arktischem Eis und einem Waffeleis mit ein paar Tropfen Bahama Mama obendrauf. Zuerst wollte sie mehr Silben, aber ich finde, ihr Name sollte nicht länger sein als sie selbst. Beelzebub ist natürlich ein Rufname.
»Ach, haben auch Katzen echte Namen?« Lily betrachtete skeptisch den Steinhang. Der Abstieg würde schwieriger werden als der Aufstieg. Ihr verletzter Arm zwickte, als wollte er schon einmal vorsorglich protestieren.
Deine Frage ist dumm. Ich kenne doch nicht alle Katzen.
»Nein, wahrscheinlich nicht. Hör zu, muss ich wirklich zu dir runterkommen zum Unterricht? Geht das nicht auch hier oben?«
Nein. Neun Meter tiefer und doppelt so weit in der Horizontalen begann sich etwas Glänzendes aufzurollen. Mika war nicht so groß wie Sam – er war nicht länger als ein Haus, dachte sie, inklusive des Schwanzes, und Drachen bestanden zu achtzig Prozent aus Schwanz, Hals und Schwingen. Doch er war atemberaubend schön.
Seine Schuppen waren rot – rubinrot, magentafarben, purpurn … bis hin zu einem strahlenden Orange an den Schwingen, die er jetzt auf dem Rücken gefaltet hatte. Wie ein kostbares Juwel glimmerte und glitzerte er im Sonnenlicht.
Sam sagte mir, dass du eine Verletzung am Arm davongetragen hast. Ich bemerke, dass sie noch nicht geheilt ist. Menschen genesen so langsam. Behindert sie dich? Halt still. Ich hole dich.
»Das ist nicht nötig, ich kann –« Doch Drachen können schnell sein, wenn sie wollen. Noch bevor Lily sein Angebot ganz ablehnen konnte, hatte Mika sich mit angewinkelten Hinterbeinen in die Luft geschwungen, um die beinahe achtundzwanzig Meter, die sie trennten, mit einem einzigen Satz zu überspringen, und landete wie ein schimmernder Lichtschauer mit den hinteren Klauen leicht auf zwei vorstehenden Felsblöcken, die Schwingen ausgestreckt, um das Gleichgewicht zu halten.
Mit den vorderen Klauen packte er sie. Sie gab einen zutiefst entrüsteten Laut von sich, mehr ein Quieken als ein Schrei.
Du bist sehr laut, sagte Mika missbilligend. Und schob sich über den steinigen Damm zurück.
Die Fahrt abwärts war furchterregend und unbequem – seine Klauen waren rau und hielten sie zu fest – aber glücklicherweise nur kurz. Mit einem leichten Ruck und einer Staubwolke aus seinen Schwingen landeten sie. Er stellte sie ab und legte die Schwingen wieder an.
Lilys Beine wollten nachgeben, doch sie spannte sie fest an. Ich habe nicht geschrien.
Du denkst laut. Oder hast es getan. Deine Gedankensprache ist gar nicht so schlecht. Sie ist schlecht, aber nicht so schlecht, wie ich befürchtet hatte.
Oh. Sie hatte es schon wieder getan – Gedankensprache benutzt, ohne es zu wollen. Drei Mal war ihr das diesen Monat schon passiert. Jetzt das vierte Mal. Die anderem drei Male mit Rule, Gott sei Dank. Andere Leute würden es vielleicht nicht so gut aufnehmen, wenn sie plötzlich fremde Gedanken hörten.
Du hast es nicht gewollt? Drachen schüttelten nicht den Kopf, aber aus Mikas Antwort war etwas wie ein abschätziges Kopfschütteln herauszuhören.
»Sam wollte nicht, dass ich alleine übe.«
Natürlich nicht. Bei deinem jetzigen Stand würdest du dir schlechte Gewohnheiten aneignen. Setz dich, wir fangen gleich an.
Sie gehorchte. »Ich weiß, warum Sam mich unterrichtet. Aber warum hast du ebenfalls zugestimmt?«
Du weißt sehr wenig. Da ist es nur natürlich, dass du auch viele Fragen stellst. Mikas Kopf stieß nach rechts, und als er zurückschwang, hatte er einen kleinen Zweig im Maul. Er ließ ihn vor sie hinfallen, und er ging in Flammen auf.
Na toll. Anderer Lehrer, andere Methoden, hatte sie gehofft. Seufzend blickte Lily in das kleine Feuer.
Ihr linker Knöchel juckte. Die Flammen waren so hell, dass sie die Augen zusammenkneifen musste. Warum verflixt noch mal hatte sie die Gedankensprache erlernen wollen? Weil Rule es so wollte? Da musste es doch noch bessere Gründe geben.
Oh ja. Weil Sam es ihr befohlen hatte. Aber das erinnerte sie daran … Ich habe Rule versprochen, dass ich dir von meinem Kopfschmerz erzähle.
Das war erbärmlich. Du hast vielleicht ein Wort in dreien geschickt. Wenn ich nicht ohnehin deine Gedanken lesen könnte, hätte ich jetzt nichts verstanden. Was für ein Kopfschmerz?
»Hast du schon einmal jemanden unterrichtet?«
Nein. Ich dachte, es könnte interessant sein. Bisher ist es das nicht.
»Seinen Schülern sollte man eigentlich nicht sagen, dass sie erbärmlich sind.«
Sie fuhr fort, indem sie ihren kurzen Schädelschmerz beschrieb, und endete mit den Worten: »… da ich dieselben Probleme mit der Verwandtensprache hatte, möchte Rule sich erst vergewissern, dass mein Kopfschmerz nichts mit diesem Unterricht zu tun hat.«
Verwandtensprache ist keine Gedankensprache.
»Sam sagt, sie seien verwandt.«
Du bist mit Beelzebub verwandt, denn ihr beide seid Säugetiere, aber du bist nicht Beelzebub. Wenn Gedankensprache dir schaden könnte, hätte Sam mich gewarnt. Finde mich in der Flamme.
Als Mika die Sitzung schließlich beendete, hatte Lily ihn dreimal gefunden – und ihn jedes Mal wieder verloren. Trotzdem fühlte sie sich ermutigt, denn sie hatte Zweifel gehabt, ob sie nach dem Training mit Sam auch in der Lage wäre, Mika zu finden. Aber wie sich herausstellte, war es nicht viel anders … so als würde sie versuchen, im Dunkeln mit den Zehen eine Feder aufzunehmen, die Hände auf dem Rücken zusammengebunden. Meistens gelang es ihr nicht, doch wenigstens wusste sie jetzt, wie die Feder sich anfühlte, wenn sie sie dann doch einmal unvermutet entdeckte.
Und ihr Kopf tat nicht weh. Obwohl sie Rule gegenüber behauptet hatte, die Gedankensprache wäre nicht schuld an ihrem kurzen Anfall, war sie erleichtert.
Das war interessanter, als ich gehofft hatte.
»Ach?« Lily war so erschöpft, als wäre sie eine Stunde gejoggt.
Nicht deine Gedankensprache. Die ist immer noch erbärmlich. Aber menschliche Gehirne sind interessant – glücklicherweise viel elastischer als der menschliche Verstand, was wohl, nehme ich an, auch nötig ist, da euch nur wenig Zeit gegeben ist. Sonst würdet ihr kaum die Möglichkeit haben, etwas zu lernen. Deines bildet recht schnell neue synaptische Verbindungen.
»Du hast mein Gehirn beobachtet?«
Wahrgenommen, beschreibt es besser. Ich bin ungewöhnlich gut darin.
»Ist diese Wahrnehmung so ähnlich wie das, was ein physischer Empath tut?«
Eher so wie das, was eure Heiler tun. Das muss ich mir näher ansehen. Ich kenne den genauen Zeitrahmen nicht, aber da es meine Aufgabe sein wird – oh. Davon weißt du ja noch nichts.
»Wovon?«
Wenn du es nicht weißt, kann ich es dir nicht sagen. Diese Gedanken fühlten sich grüblerisch an. Diese Aufsplitterung der Zeit kann einen ganz durcheinanderbringen. Ich bin nicht daran gewöhnt.
Alarmiert setzte sie sich auf. »Was für eine Aufsplitterung? Was sollst du – hat das irgendetwas damit zu tun, dass –«
Dass Ruben Brooks Unruhen vorhergesehen hat? Natürlich. Oh. Du glaubst, ich hätte gemeint, dass die Zeit selbst splittert. Er schnaufte, vielleicht amüsiert. Sein heißer Atem roch metallisch und würzig. Nein. Ich bin gerade angekommen in … dir fehlt der Bezugspunkt. Es ist eine Zeit, in der ein Drache anfängt, Fäden aus dem Nicht-Jetzt zu fassen zu bekommen. Eine verwirrende Zeit. Diese Fäden werden ganz ähnlich wie Erinnerungen erlebt, doch sie kommen verworren an und bevor die Ereignisse stattfinden. Natürlich sind »bevor« und »danach« unzulängliche Begrifflichkeiten für eine außerzeitliche Wahrnehmung, aber wie gewöhnlich mangelt es deiner Sprache an genaueren Bezeichnungen.
Lily blinzelte. »Redest du von Präkognition?«
Nein, bei mir manifestieren sich diese Fäden nicht auf dieselbe Weise wie bei Ruben Brooks. Nicht, dass du auch nur im Ansatz verstehen würdest, was er tut, deshalb ist eine Diskussion darüber sinnlos. Du musst deine Heilerin zu mir bringen. Oh, und jemanden, der verletzt ist, damit ich den Prozess beobachten kann.
»Leider habe ich keine Heilerin«, sagte Lily trocken. »Du weißt von Rubens –«
Ich verstehe. Sie ist Rule Turners Heilerin. Ich werde ihm sagen, dass ich sie brauche.
Rule »hatte« ebenfalls keine Heilerin, aber er stand mit zweien in Kontakt. Nettie Two Horses war Rules Nichte, die Heilerin der Nokolai, und sie wohnte an der anderen Küste. Die Rhej der Leidolf war ebenfalls eine Heilerin und wohnte sehr viel näher, denn das Clangut der Leidolf lag in Virginia.
Sie wird mir genügen. Ich glaube, die Untersuchung deines Gehirns erlaubt mir nun ein besseres Verständnis deiner wirren Gedanken. In diesem Gedanken lag ganz deutlich wahrnehmbar ein Anflug von Zufriedenheit. Warum glauben die Menschen alle, sie seien ihre Gedanken?
»Keine Ahnung. Du weißt von Rubens Visionen?«
Warum sonst sollten wir ein Bündnis mit ihm eingehen? Die Wölfe verwechseln nicht ihr Denken mit ihrem Sein, doch wenn sie Menschen sind, begehen sie denselben Irrtum. Li Lei hat selbstverständlich den Vorteil, dass sie selbst einmal ein Drache gewesen ist, aber ich hätte gedacht, dass ein Mensch mit einem wahren Namen den Unterschied kennt. Und doch kennst du ihn nicht.
»Warte, warte. Ihr seid ein Bündnis mit Ruben eingegangen?«
Ein verächtliches Schnauben. Wir leiten seine Mitteilungen nicht allein um des Vergnügens willen weiter, eure wirren Gedanken zu lesen. Wenn du ein bisschen schneller Gedankensprache lernen könntest … oh. Da war ein Hauch von Verdruss. Das wusstest du noch nicht. Nicht-Jetzt ist sehr verwirrend.
»Ihr – Ruben und seine Schatteneinheit – kommuniziert über euch miteinander? Mit dir und den anderen Drachen?« Natürlich. Mithilfe von Drachen Nachrichten zu übermitteln, das war eine nicht nachweisbare Methode.
Es ist Zeit für dich, zu gehen.
»Mika –«
Doch wenn ein Drache sagt, es sei Zeit zu gehen, dann war es so, ob es einem passte oder nicht. Mika schaufelte Lily mit den Vorderklauen auf und drückte sich vom Boden ab. Seine Schwingen fuhren hoch und aus. Der Ruck, als sie zum ersten Mal die Luft nach unten drückten, war enorm. Und das zweite Mal. Und das dritte.
Auch der Schreck, der sie durchfuhr, als die Erinnerung zurückkam, war ziemlich groß. Lily war schon einmal so durch die Lüfte getragen worden, in der Hölle, ohne zu wissen, wer sie war, ohne ihren Namen zu kennen. Verletzt und verloren und voller Angst. Nichts tun zu können, außer es zu ertragen …
Du bist laut!
»Lass mich runter!«, schrie sie in Gedanken und mit der Stimme gleichzeitig.
Er gehorchte. Er landete ungefähr zwanzig Meter von dem Gewimmel einer Horde Vier- und Fünftklässler und einigen Erwachsenen entfernt, die deutlich in der Unterzahl waren und verzweifelt versuchten, die Kinder zusammenzuhalten, setzte sie ab und schwang sich wieder in die Lüfte.
Das Gekreisch war ohrenbetäubend. Sie konnte es sich nicht leisten, ihren weichen Knien nachzugeben, sie musste die Miniaturzivilisten beruhigen und … Oh, Mist. Nicht alle diese Schreie waren Angstschreie und hier kam …
»Tawny!«, rief eine der Erwachsenen. »Komm sofort zurück!«
Die Sprinterin mit den Zöpfchen hatte lange Beine für ihr Alter, die ihr einen guten Vorsprung vor der korpulenten, ihr hinterherhastenden Frau verschafften. Da Lily sich vorstellen konnte, wie das enden würde, begann sie, dem Mädchen entgegenzugehen. Dabei rief sie: »Alles in Ordnung. Ich bin, äh, eine Freundin von Mika. Er hat mir nichts getan. Alles in Ordnung, kein Grund zur Sorge.«
Das kleine Mädchen kam mit einem Ruck vor Lily zum Stehen. Ihre Haut war dunkel. Ihre Augen leuchteten vor Aufregung und Begeisterung. »Ich will ihn kennenlernen! Rufen Sie ihn zurück. Ich will mit ihm reden, mit …, mit … er ist Ihr Freund? Dann könnten Sie mich ihm vorstellen. Ich heiße Tawny. Ich muss unbedingt mit dem Drachen reden!«
»Ähm, na ja, ich glaube nicht, dass ich da was machen kann. Aber du hast ihn ja gerade von ziemlich nah gesehen. Das ist doch auch etwas, oder? Ich … oh, oh.« Tawnys Entkommen und die Verfolgung durch ihre Lehrerin hatte die Herde in Aufruhr versetzt, und nun stürmten fünfzig Kinder oder mehr direkt auf sie zu.
Die Lehrerin war als Erste bei ihr, eine große Frau, grauhaarig und außer Atem. »Tawny, du gehst sofort zurück zur Klasse, hast du mich verstanden?«
»Die Klasse ist doch hier, Ms Pearson.« Tawnys Augen waren klar und unschuldig. »Die meisten zumindest.«
Ms Pearsons Hautfarbe färbte sich zu einem tiefen Schokoladenton. Böse funkelte sie Lily an. »Ich weiß nicht, was Sie sich dabei gedacht haben, diesen Drachen so nah an die Kinder heranzufliegen –«
»Ich habe nicht ihn, sondern er mich geflogen.«
»Aber außer Tawny, die von allem, was mit Drachen zu tun hat, übermäßig fasziniert ist, haben sich alle anderen Kinder zu Tode erschreckt, als Sie über uns hinweggeflogen sind! Es war schockierend unverantwortlich von Ihnen, zu –«
»Ma’am, ein Drachen ist kein Pferd. Ich habe Mika nicht gelenkt.«
Die Horde hatte sie erreicht. Alle schrien durcheinander, wollten wissen, ob sie auch einmal mitfliegen konnten und ob es wehgetan hatte und was gewesen wäre, wenn der Drache sie hätte fallen lassen, und was Drachen fraßen und ob seine Klauen wehtaten. Ich sehe gar kein Blut. Wo ist er jetzt hin … Aber es war auch eine Stimme darunter, die Lily fragte, ob sie unversehrt sei.
»Alles in Ordnung«, versicherte sie dem einzelnen Wohlwollenden. »Es tut mir leid, wenn Mika einigen von euch Angst eingeflößt hat. Er ist nicht immer sehr rücksichtsvoll. Oh. Pardon, da muss ich rangehen.«
Selten war Lily so froh gewesen, ihr Telefon klingeln zu hören. Sie zog es aus der Innentasche. »Entschuldigt, den Anruf muss ich annehmen, und dazu muss ich kurz beiseitetreten … Nein, Ma’am, das ist mir vollkommen klar. Ja –« Einer der Lehrer oder Aufsichtspersonen hatte sie erkannt. »Ich bin Special Agent Yu. Geht weiter, bitte. Entschuldigen Sie mich.« Endlich konnte sie sich von der Horde befreien und ans Telefon gehen. »Lily Yu.«
Es war Martin Croft. Sein weicher Tenor war gänzlich monoton. »Ich muss Sie fragen, wo Sie heute zwischen acht Uhr dreißig und zwölf Uhr dreißig waren.«
Einen kurzen Moment war sie wie vor den Kopf geschlagen. Damit hatte sie gar nicht gerechnet. »Aha. Okay. Ich bin um acht Uhr im Hauptquartier angekommen und bin bis fünf nach elf geblieben. Dann habe ich mich auf den Weg zum Rock Creek Park gemacht, wo ich mit Mika verabredet war. Dort bin ich gegen elf Uhr fünfzehn angekommen – was der Wachmann am Tor sicher bestätigen kann –, und bei Mika war ich bis …« Sie warf einen Blick auf ihre Armbanduhr; es war ein Uhr. »… zwölf Uhr fünfundvierzig oder fünfzig.«
»Mika.« Crofts Stimme hatte einen seltsamen Unterton. »Ich nehme an, das reicht, obwohl ich nicht derjenige sein möchte, der seine Aussage aufnimmt, falls das nötig sein sollte.«
»Was ist denn passiert?«
»Ich beordere Sie mit sofortiger Wirkung in den vollen Dienst zurück. Sie geben Ihren Bericht an Special Agent Drummond in 14321 Camber Lane in Georgetown. Er hat die Leitung.«
»Ja, Sir. Die Leitung wovon?«
»Senator Robert Bixton wurde ermordet.