17
Der Himmel war regenverhangen, als Lily den Schlüssel ins Schloss der Hintertür steckte, ihn drehte und die Tür aufdrückte. Sie sehnte sich nach Rule, doch der war nicht hier. Sondern ungefähr fünfzehn Kilometer nordöstlich, dachte sie.
Sie hätte einen der Wächter fragen können, wohin er gegangen war. Die hätten es vermutlich gewusst.
Lieber nicht. Sie zog die Tür zu, schloss ab und ließ ihre Handtasche fallen. Und stand einfach da, ballte die linke Hand und öffnete sie, immer wieder, den Blick auf die Einbuchtung in der Wand neben der Speisekammer gerichtet. Eine faustgroße Einbuchtung.
Rule hatte das dringende Bedürfnis verspürt zu laufen. Das hatte er ihr gesagt, als sie sich wieder auf den Weg zur Arbeit gemacht hatte, und da seine Augen immer wieder drohten, sich schwarz zu färben, hatte sie es für einen guten Plan gehalten.
Offenbar hatte er auch die Faust in etwas schlagen müssen. Sie konnte ihn verstehen. Lily legte ihren Laptop auf den Tisch. »Cullen? Bist du da?«
Sie hörte Schritte auf der Treppe. »Leise«, sagte er im Näherkommen. »Die Rhej schläft. Ich wollte gerade Pizza bestellen.«
»Keine Anchovis.« Das enge Band um ihre Schultern lockerte sich ein wenig. Vielleicht war es ganz gut, dass Cullen hier war, und nicht Rule. Über manche Dinge konnte sie mit ihm leichter reden. »Und sag den Wachen, dass du liefern lässt. Bestell reichlich. Rule ist im Anmarsch.« Jetzt, da sie darauf achtete, wusste sie, dass er in ihre Richtung unterwegs war.
»Rule mag Anchovis.«
»Ich nicht.« Sie holte die Kaffeemühle aus dem Schrank. Mit der linken Hand. Damit konnte sie die Mühle gut halten. »Und die Rhej vielleicht auch nicht. Hast du sie gefragt?«
Schnaubend betrat er die Küche. »Hast du mich nicht gehört? Sie schläft.«
»Du hättest sie fragen können, bevor sie eingeschlafen ist.«
»Hab ich aber nicht. Rule hatte den Rho der Szøs angerufen. Der Anwärter für die Clanmacht der Wythe wird morgen früh eintreffen.«
»Das hat er mir per SMS mitgeteilt.«
»Hm.« Er legte den Kopf schief. »Es ist noch nicht fünf Uhr.«
»Ja. Das stimmt.« Sie öffnete die Dose, in der Rule seine extra georderten, frisch gerösteten Kaffeebohnen aufbewahrte. »Hast du dir den Dolch ansehen können?«
»Ich habe Sherry angerufen und sie gebeten, den Termin auf heute Abend zu verlegen. Wir treffen uns hier gegen acht. Hast du dir eine Pause gegönnt?«
»Ich bin nach Hause geschickt worden. Mullins hat mitbekommen, dass ich eine von diesen verdammten Schmerzattacken hatte, und mich weggeschickt.«
Cullens Augenbrauen wanderten höher. »Dieser Mullins hat gesagt, du sollst nach Hause gehen … und du hast es getan?«
»Ich bin nicht in Ohnmacht gefallen.« Sie überlegte einen Moment. »Doch ich habe sicher nicht gut ausgesehen. Ich, äh, habe ihm gesagt, ich hätte Migräne. Er hat mich vor die Wahl gestellt, entweder nach Hause zu gehen, oder er erzähle Drummond von meinem kleinen Problem.« Unnötig zu sagen, dass Drummond sie abziehen würde, wenn sie die medizinische Untersuchung nicht bestand. Das Überraschende war, dass Mullins sie deckte.
Vielleicht hatte er gelogen. Vielleicht hatte er es doch Drummond erzählt. Nun, sie würde es herausfinden. »Dieses Mal war es anders.«
»Wie anders?«
»Der Schwindel war nicht annähernd so stark, und jetzt bin ich zwar müde, aber weit davon entfernt, das Bewusstsein zu verlieren. Nur …«
»Ja?«
»Es dauerte länger, ich habe verschwommen gesehen, und meine Hand …« Sie streckte sie aus und sah sie so prüfend an, als würde sie nicht zu ihr gehören. »Sie wurde gefühllos. Ich ließ mein Notebook fallen, einfach so, vor Mullins Nase. Und« – sie zog die Augenbrauen zusammen –, »zufrieden?«
»Ja, das bin ich.« Er tätschelte ihre Schulter. »Das sind ausgezeichnete Neuigkeiten. Zumindest glaube ich das. Wenn deine Hand jetzt wieder okay ist und du wieder normal sehen kannst –«
»Es ist alles wieder in Ordnung.« Unwillkürlich ballte sie die Hand zur Faust, wie um noch einmal zu beweisen, dass sie es konnte.
»Dann sind das gute Neuigkeiten. Glaube ich. Setz dich, dann erzähl ich dir, was die Rhej gesagt hat. Wie lange hat der Anfall gedauert?«
»Weniger als zehn Minuten. Mehr als fünf. Was hat sie dir gesagt?«
»Du sitzt noch nicht.«
»Deine gute Beobachtungsgabe erstaunt uns alle immer wieder.« Sie löffelte Kaffeebohnen in die Mühle. »Ich setze mich, wenn es nötig ist. Und jetzt rede schon.«
Er war klug genug nachzugeben und stützte sich mit verschränkten Armen auf den Tresen. »Vergiss aber nicht, dass vieles von dem, was ich dir sage, reine Spekulation ist. Deswegen hat es die Rhej dir und Rule auch nicht früher erzählt. Ich fange an mit dem, was wir sicher wissen. Die Clanmacht heilt deinen Arm.«
»Langsam, ja.«
»Es sieht so aus, als wäre es besser für dich, wenn es langsam und nicht schnell geht. Wir – die Rhej und ich – glauben, dass dieser Heilungsprozess an deinem Arm die erste TIA, also Durchblutungsstörung des Gehirns, ausgelöst hat. Die Rhej sagt, dass jede TIA einen Schaden verursacht. Einen geringen Schaden, so gering, dass die Langzeiteffekte fast gleich null sind. Doch das scheint die Clanmacht nicht zu wissen. Der Heilungsprozess der Lupi setzt Prioritäten, und das Gehirn ist die Nummer eins. Deswegen hat die Macht versucht, diesen Schaden möglichst schnell zu heilen. Aber diese schnelle Heilung war zu anstrengend für dich, deswegen hattest du eine neue TIA, was wiederum den Zyklus am Laufen gehalten hat.«
»Mist.« Sie drückte den Knopf, und die Mühle begann munter zu summen. »Doppelmist. Diese blöde Clanmacht. Kann sie mir nicht sagen, was sie mit mir anstellt?«
»Nein. Die Clanmacht ist ein magisches Konstrukt. Sie hat kein Bewusstsein.«
»Das sagt Rule auch immer, doch sie ist kein Artefakt wie dieser verdammte Stab, den du verbrannt hast.« Mit gerunzelter Stirn legte sie sich die Hand auf den Bauch. »Es ist … sie fühlt sich an, als wäre sie lebendig.«
»Oh, ja.«
»Aber du sagtest –«
»Ich sagte, sie ist ein magisches Konstrukt. Ich sagte nicht, dass sie nicht lebendig sei. Artefakte sind sehr mächtige Talismane. Konstrukte sind – und jetzt pass auf, denn jetzt wird’s kompliziert – konstruiert. Und wenn die Clanmacht ein Bewusstsein hätte –«
»– dann wäre sie zu vernünftigen Überlegungen fähig. Was mir, zugegebenermaßen, im Moment recht schwerfällt.« Sie schüttete das frisch gemahlene Kaffeepulver in die isolierte Pressstempelkanne, die sie Rule vor einigen Monaten geschenkt hatte. »Dann ist die Clanmacht also lebendig, aber sie kann nicht denken.«
»Lass uns lieber nicht versuchen, das Wort denken zu definieren. Es reicht, wenn wir sagen, dass man mit einer Clanmacht nicht vernünftig reden kann und dass sie selbst keine Anzeichen von Vernunft zeigt, was eben der Grund dafür ist, dass sie etwas bewirkt, was dir nicht guttut. Aber Lebewesen sind fähig zu lernen oder sich anzupassen. Die einen mehr, die anderen weniger. Mit der Lernfähigkeit von Pflanzen ist es nicht weit her, aber sie sind in der Lage, sich bis zu einem gewissen Grad anzupassen.«
»Was für ein Lebewesen ist dann die Clanmacht? Pflanze, Virus, Bakterie, süßes kleines Kätzchen?«
»Ein unsterbliches.«
Sie starrte ihn an. »Aber Clanmächte können sterben. Deswegen habe ich doch die Macht der Wythe hier in mir drinnen, die all diese Probleme verursacht – damit sie nicht stirbt.«
»Wenn der Träger der Clanmacht stirbt, ohne dass es einen Erben gibt, der sie übernehmen könnte, dann ist die Macht verloren, nicht tot. Der konstruierte Teil ist zerstört. Der lebendige Teil kehrt dorthin zurück, wo er herkam. Zurück zu der Dame. In den Clanmächten ist immer auch ein bisschen vom Leben der Dame.«
Das ergab auf eine seltsame Weise Sinn. Die Clanmächte bewahrten die Lupi davor, dass das Tier in ihnen die Kontrolle übernahm. Sie verliehen den Rhos eine Autorität, die buchstäblich unbestreitbar war … und die Dame der Lupi war die einzige Autorität, die sie nicht infrage stellen würden oder konnten. »Warum wusste ich das nicht?«, wollte sie wissen. »Wie oft habe ich Rule Fragen über die Clanmächte gestellt! Und mit der Rhej der Nokolai habe ich auch darüber gesprochen. Warum weiß ich das nicht längst?«
Cullens Mundwinkel hoben sich. »Weil es ein Geheimnis ist.«
»Fünfundneunzig Prozent von dem, was euch betrifft, ist ein Geheimnis!«
»Dies ist ein Geheimnis, das fast niemand weiß. Nur die Rhejes und die Träger der Mächte wissen davon.«
»Wie kommt es dann, dass du … oh.« Cullen war als Etorri geboren worden, nicht als Nokolai. Die Etorri waren ein sehr kleiner, sehr ehrenhafter Clan, dessen Thronfolger-Macht – aus komplizierten historischen Gründen – auf alle Clanmitglieder verteilt war und nicht nur bei dem lag, den ihr Rho als Thronfolger ernannt hatte. Das war – wie konnte es auch anders sein – ein Geheimnis, was wiederum bedeutete, dass Cullen einmal einer der Träger der Macht gewesen war. Zwar nur eines kleinen Teils, doch er wusste, wovon er sprach. »Indem du mir das sagst, brichst du die Regeln.«
»Streng genommen trägst du auch eine Macht in dir. Du müsstest eigentlich verstehen, warum Rule die Selbstbeherrschung verliert.«
Ihr Blick flog zu der Vertiefung in der Wand. »Das ist nicht schwer zu verstehen.«
»Wenn er nur hin und wieder eine Delle in die Wand schlägt, können wir uns glücklich schätzen. Rule glaubt, dass die Dame ihn verraten hat.«
»Weil sie mir dieses Ding gegeben hat, ohne uns vorher zu sagen, was das für Folgen hat? Das macht mich auch wütend.« Eigentlich hätte Lily vorher zustimmen müssen, aber anscheinend scherten sich Große Alte nicht um Einverständniserklärungen.
»Lily.« Er seufzte. »Die Clanmacht der Wythe wirkt auf eine Weise, die eigentlich unmöglich sein sollte. Clanmächte schlagen keine Wurzeln. Sie werden von ihren Trägern kontrolliert – in gewissen Grenzen von den Thronfolgern und ganz und gar von den Rhos. Es gibt nur eine Ausnahme, wie diese Macht agieren kann, ohne von einem Rho gesteuert zu werden, denn sie stammt von der Dame. Wenn eine Macht etwas gänzlich Neues tut, müssen wir annehmen, dass sie sie steuert.«
»Sie bringt die Macht dazu, dass sie versucht, mich umzubringen?«
»Das ist nicht sehr wahrscheinlich«, sagte die Rhej der Leidolf.
Beinahe hätte Lily die Kaffeekanne fallen lassen. »Verdammt, wie machst du das? Du bist kein Lupus. Wie kannst du da so leise die Treppe herunterkommen?«
Die Rhej lächelte müde. »Vielleicht geht dir zu viel im Kopf herum.«
Ja, vielleicht. »Warum glaubst du, dass die Dame nicht versucht, mich zu töten?«
»Wenn du stirbst, ist die Clanmacht der Wythe verloren.«
Oh. Das war eine sehr viel bessere Antwort, als »Hab Vertrauen«, womit Lily gerechnet hatte. »Dann ist sie vielleicht nicht sehr gut in dem, was sie tut.«
»Könnte sein. Wir haben keine Ahnung, was sie tut. Soweit wir wissen, hat sie nicht an den Mächten herumgebastelt, seitdem sie die der Etorri geändert hat, aber Cullen sagt, dass sie irgendetwas mit dir anstellt. Doch was immer sie vorhat, ich bin mir sicher, dass sie nicht will, dass du stirbst. Deswegen habe ich mir ja auch mit dem Schönling hier überlegt, was wir tun können, um da ein bisschen mitzumischen.«
»Was meinst du damit?«
»So weit war ich noch nicht gekommen«, sagte Cullen.
»Gut. Machst du Kaffee, Liebes? Ich könnte gut einen gebrauchen.« Als sie zum Tisch ging, bewegte sie sich, als sei ihr Körper doppelt so schwer wie zuvor.
Lily unterdrückte ihre Ungeduld und füllte den Wasserkessel. »Kaffee kommt gleich. Was hast du denn getan, dass du so müde bist?«
»Ich habe ein paar Anrufe gemacht und dann ein bisschen Zeit in den Erinnerungen verbracht.« Mit einem Seufzer ließ sie sich an dem großen runden Tisch nieder.
Wenn die Rhej sagte, sie habe Zeit »in den Erinnerungen« verbracht, meinte sie, dass sie gewisse Ereignisse noch einmal durchlebt hatte. Denn die Erinnerungen waren tatsächlich magisch konservierte Erinnerungen, die von einer Rhej zur anderen weitergegeben wurden. Viele von ihnen stammten aus dem Großen Krieg. Alle handelten von wichtigen Ereignissen, von Katastrophen, Tod, Verrat, Krieg, Schmerz, Leid … und, hin und wieder, Triumphen.
Und auch – hin und wieder – von Zaubern. Zauber, die seit der Säuberung nicht mehr gewirkt worden waren. Zauber, die schon Jahrhunderte vor der Säuberung verloren gegangen waren. Manche von ihnen hatten Meister-Niveau. Und das war auch der Grund dafür, warum Cullen in Anwesenheit von Rhejes so nervös war. Sie wussten über Dinge Bescheid, die er unbedingt erfahren wollte, die sie ihm aber nicht verrieten.
Vielleicht war darunter auch ein Zauber, der Lily jetzt helfen konnte. Sie stellte den Kessel auf den Herd und warf gleichzeitig einen Blick durch das Fenster auf die Straße, bevor sie die Rhej ansah. »Ich hoffe, es hat sich gelohnt. Hast du etwas erfahren?«
»Es gibt eine Technik, die schon seit sehr langer Zeit nicht mehr angewendet wird. Die Rhej der Wythe – sie war eine von denen, die ich angerufen habe – hat sich bereit erklärt, es zu versuchen. Dabei würden wir der Clanmacht so viel Energie entziehen, dass sie den Heilungsprozess verlangsamt. Wenn die Heilung langsamer vonstattengeht, entsteht auch weniger Schaden. Außerdem will ich, dass du in Rules Nähe bleibst. Das Band der Gefährten könnte die Sache erleichtern.«
Lilys Augenbrauen schossen in die Höhe. »Sie kann der Clanmacht Energie entziehen? Ich wusste, dass sie aus dem Clan als Ganzem Energie ziehen kann, aber direkt von der Macht abziehen … das ist noch einmal eine ganz andere Nummer.«
»Das ist es«, sagte die Rhej grimmig. »Und es wird davon abgeraten. Die Macht wird dadurch verwundbar. Lily, du bist von der Dame auserwählt, deswegen darfst du es ruhig wissen, aber du darfst niemandem davon erzählen. Keiner von euch beiden.« Sie sah Cullen mit festem Blick an. »Das Siegel der Rhej.«
»Ich habe nichts gegen Geheimnisse«, sagte er, »solange ich derjenige bin, der sie bewahrt.« Mit einer anmutigen Geste berührte er erst die Lippen, dann sein Herz. »Es ist besiegelt, Serra.«
Der Kessel begann in dem Moment zu pfeifen, als die Rhej Lily ihren gebieterischen Blick zuwarf.
»Klar«, sagte Lily und nahm den Kessel vom Herd. »Außer Rule natürlich.«
Die Rhej schüttelte den Kopf. »Vor allem nicht Rule.«
»Serra –«, begann Cullen.
»Nein. Keiner der Rhos darf davon wissen.«
Zu spät.
»Das kann ich nicht versprechen.«
»Ich auch nicht«, sagte Rule, der in der Tür stand.
»Gutes Timing.« Lily goss dampfendes Wasser in die Presskanne. »Der Kaffee ist fast fertig.«
Rule atmete tief die Gerüche der Küche ein: der starke Kaffee mit einem Hauch Shepherd’s Pie vom Vorabend, das würzig-scharfe Fleisch des Corned Beef, Lupus von Cullen … Und Lily. Es roch nach Lily. »Wenn ich recht verstehe, habt ihr einen Weg gefunden, um der Clanmacht Energie zu entziehen.«
Die Rhej legte die Stirn in unglückliche Falten. »Wenn ich recht verstehe, hast du gelauscht.«
»Ich habe es zufällig mit angehört, das stimmt, aber wie kann ich lauschen, wenn ich mein eigenes Heim betrete?« Er trat hinter Lily und legte die Arme um sie. Sie lehnte sich an ihn. Er schloss die Augen und wünschte, sie könnten einfach so stehen bleiben, eine Stunde oder zwei. »Wenn du dich dann besser fühlst, werde auch ich das Siegel der Rhej nicht brechen, mit dem du dieses Wissen belegt hast.«
»Viel ist es nicht«, sagte sie trocken, »aber wenigstens etwas. Wir hoffen, dass es Lily hilft, wenn wir die Clanmacht schwächen.«
»Es hat geholfen«, korrigierte sie Cullen, »zumindest sieht es so aus.«
Während der Kaffee zog, hörte Rule mit Lily im Arm schweigend zu, wie die anderen ihm von Lilys letztem Hirnblitz – wie sie es bezeichnete – berichteten, dass sie vorübergehend von den Ermittlungen ausgeschlossen worden war und was Cullen und die Rhej besprochen hatten … eine Unterhaltung, von der sie ihn bewusst ausgeschlossen hatten. Er machte sich nicht die Mühe, ihnen deswegen böse zu sein. Es gab wichtigere Ziele für seinen Ärger.
»… im Wesentlichen hoffen wir, dass sie mit einer verlangsamten Heilung auch weniger TIAs hat«, endete die Rhej. »Und die Clanmacht zu schwächen, war die einzige Methode, die uns einfiel, um den Prozess zu verlangsamen.«
»Das scheint auf der Hand zu liegen, ja«, sagte er und trank von dem Kaffee, den Lily ihm gereicht hatte. Sie holte sich ihren eigenen Becher an den Tisch. Er bedachte sie mit einem Lächeln. »Mittlerweile machst du richtig guten Kaffee.«
»Es ist eine Frage der Prioritäten.« Sie setzte sich neben die Rhej. »Kaffee ist wichtig.«
Prioritäten. Ja, über seine hatte er heute auch etwas gelernt. Er setzte sich neben sie. »Ich habe auch gehört, dass wir uns nicht weit voneinander entfernen sollen. Das scheint mir eine gute Idee zu sein. Das Band der Gefährten hat schon manches Mal geholfen.«
Die Rhej hob die Augenbrauen. »Bist du ganz von allein daraufgekommen, Rule? Dass es der Heilungsprozess ist, der die Probleme verursacht?«
»Ja, nachdem ich ein paar Kilometer gelaufen war. Zumindest habe ich es vermutet. Sam ist derselben Ansicht.«
»Sam?« Dieses Mal schossen Lilys Augenbrauen in die Höhe. »Ich bin mir ziemlich sicher, dass er keine Telefonverbindung hat.«
»Sam ist in der Lage, durch jeden der anderen Drachen in Gedankensprache zu sprechen, wenn sie es ihm erlauben. Ich habe Mika davon überzeugen können, dass die Sache wichtig genug ist, um einen solchen Kontakt herzustellen. Wir drei, äh … haben deinen Zustand diskutiert.« Doch vorher hatte Mika Sam über das informiert, was er während seiner Trainingseinheit mit Lily beobachtet hatte.
Wenn informieren das richtige Wort war. Ihre Kommunikation hatte, soweit Rule sie wahrnehmen konnte, ohne Worte, Gedanken oder Bilder stattgefunden. Mika hatte vergessen, diesen Kanal von der Verbindung, die die drei teilten, zu trennen, und Wolfsgehirne waren physisch nicht in der Lage, diese Art der Kommunikation zu verarbeiten.
Rule war froh, dass sein Körper sich so schnell erholte. Der Kopfschmerz würde noch für eine Weile bleiben. »Sam sagt, das Verhalten der Clanmacht habe Auswirkungen auf Lilys Gabe.«
»Aber wozu?«, sagte Cullen und setzte sich aufrechter.
Rule drehte die Hand hin und her, als wollte er sagen: einerseits und andererseits. »Wir wissen nicht, welche Wirkung die Wurzeln haben. Vielleicht heilen sie sie. Vielleicht tun sie auch etwas anderes.«
»Zum Beispiel?«
»Das weiß ich nicht. Sam wollte keine Vermutungen anstellen. Um ihn genau zu zitieren, sagte er, er wolle ›sich nicht anmaßen, zu vermuten, welchen Zweck eine Große Alte verfolgt, oder ihr dabei in die Quere kommen.‹ Ich nehme an, er meint, dass er nicht weiß, was die Dame tut, dass er aber auch der Meinung ist, dass sie etwas vorhat.«
»Das schließt auch Lilys Tod ein«, sagte die Rhej bestimmt. »Die Dame möchte diese Clanmacht nicht verlieren.«
»Ich habe noch nie gehört, dass das Gehirn desjenigen, der die Clanmacht hat, auf allen Zylindern laufen muss«, sagte Lily, »und der letzte Rho der Leidolf war wohl auch eher ein Beweis für das Gegenteil. Deshalb finde ich die Tatsache, dass die Dame mich am Leben halten will, nicht so besonders beruhigend.«
»Ja.« Rules Stimme war wüstentrocken, bar jeder Emotion. Das einzige Ziel der Clanmacht war es, einen lebenden Wirt zu finden. Ob das Gehirn des Wirts beschädigt war, war ihr egal. »Das ist auch meine Schlussfolgerung.«
»Rule –«
»Mir geht es gut. Lass mich das so formulieren, wie Sam es mir gesagt hat. Wir wussten bereits, dass die Dame etwas getan hat, damit die Clanmacht der Wythe in Lily bleiben kann, ohne dass Lilys Gabe sie aufsaugt. Sam sagt, dass die Dame Lilys Magie davon überzeugt hat, dass die Clanmacht ein Teil von Lily ist. Auf diese Weise beeinflussen sich die beiden Magien nicht gegenseitig. Das Problem kam erst durch den Heilungsprozess auf, doch auch aufgrund der Natur von Lilys Gabe. Sehr junge Drachen können ihre Heilung noch nicht kontrollieren, sodass –«
Cullen zog die Brauen hoch. »Erwachsene Drachen kontrollieren ihre Heilung?«
»Anscheinend. Wenn ein Drache, der diese Kontrolle noch nicht erlernt hat, ernsthaft verletzt wird, kommt er in einen Zustand namens netha, in dem seine natürliche Immunität gegen Magie geschwächt ist, weil für die Heilung sehr viel Energie gebraucht wird. Was Lily jetzt erlebt, ist netha sehr ähnlich.«
Lily schüttelte den Kopf. »Meine Gabe scheint prima zu funktionieren.«
»Darauf hätte es auch keine Wirkung. Sam verglich netha mit einer allergischen Reaktion, während das Immunsystem des Körpers überempfindlich oder verwirrt ist und auf irgendeinen Stoff überreagiert. Deine Gabe reagiert zu stark auf die Heilung.«
»Du willst mir also sagen, dass meine eigene Gabe die TIAs verursacht?«
»Im Wesentlichen, ja.«
Lily zog ein finsteres Gesicht und trommelte mit den Fingern auf den Tisch. »Wenn Sam all das aus einer Entfernung von dreitausend Kilometern erkennen kann, dann müsste eure Dame doch wohl in der Lage gewesen sein, so etwas vorauszusehen, als sie mir die Clanmacht gegeben hat. Große Alte, großes Wissen, sollte man meinen, oder?«
Oh, ja. Ja, die Dame musste es gewusst haben. Die wilde Wut erhob sich wie ein Sandsturm, wirbelte Gedanken durcheinander, zerrte an seiner Selbstbeherrschung –
»Rule.« Lily schloss fest ihre Hand um seine.
Langsam holte er Luft. Blickte hinunter auf den Tisch, auf ihre Hand, die auf seiner lag. Ich bin nicht ganz. »Ich möchte mit meiner nadia unter vier Augen sprechen.«
»Natürlich.« Cullen schob den Stuhl zurück.
»Das«, sagte Lily, »hast du ganz auf Art eines Rho geregelt.«
Verständnislos sah er sie an.
Sie drückte seine Hand. »Du hast uns nicht entschuldigt, damit wir in ein anderes Zimmer gehen können. Du hast einfach alle anderen wissen lassen, was du willst.«
Er verstand nicht, was sie ihm sagen wollte. »Ich war höflich.«
Ihr Mund verzog sich zu einem ironischen Lächeln. »Ja, das warst du. Schon gut.« Sie sah Cullen an. »Was die Pizzas angeht … bestellen wir für die Wachen welche mit?«
Sechs Wachen plus die vier hier im Raum … »Bestell am besten ein Dutzend.« Rule stand auf, um seine Brieftasche zu zücken.
»Ich kümmere mich darum«, sagte Cullen.
Es war Rules Aufgabe, seine Leute zu ernähren. »Nein.«
»Doch. Ich habe deine Kartennummer.«
Natürlich. Rule nickte.
Auch die Rhej erhob sich und trat hinter Lily, um ihr beide Hände auf die Schultern zu legen. »Ich sage dir nicht, du sollst an die Dame glauben. Glauben tut man nur an Gott. Aber sie ist gut. Sie wird dich gut behandeln.«
Lily fühlte sich unbehaglich. Vermutlich mehr, weil die Rhej Gott ins Gespräch gebracht hatte, und weniger, weil sie anderer Meinung war. Sie nahm einen großen Schluck Kaffee, um ihr Unbehagen zu überspielen. »Ich werde es mir merken. Wie lautet denn deine Meinung zu Anchovis?«
»Fiese kleine …« Die Rhej hielt inne. Erstarrte. »Mach das noch einmal.«
»Was?« Lily verdrehte den Kopf, um zu ihr hochzublicken. »Über Anchovis reden?«
»Nimm noch einen Schluck Kaffee. Einen ordentlichen, großen.«
»Äh … okay.« Lily tat, wie ihr geheißen.
Lange Zeit sagte niemand etwas, und keiner von ihnen rührte sich. Dann nickte die Rhej langsam. »Liebes, ich glaube, das, was ich dir verschreiben werde, wird dir gefallen. Ich will, dass du sehr viel Kaffee trinkst.«
»Ich hatte ja schon immer den Verdacht, dass Kaffee eine Wirkung auf dich hat.« Lily füllte ihren Becher auf.
Rule lehnte am Tresen und betrachtete stirnrunzelnd seinen eigenen Becher. »Ganz überzeugt bin ich noch nicht.«
Lily lächelte und schüttelte den Kopf. Dickkopf. »Die Rhej kann spüren, was passiert, wenn ein Lupus Kaffee trinkt. Wenn sie sagt, es hat eine Wirkung auf mich, dann genügt mir das.«
»Ich tue mich eher schwer damit, dass es angeblich die Clanmacht, die ich in mir trage, beeinflusst. Nichts beeinflusst die Clanmächte.«
Rule hatte immer behauptet, Kaffee wegen seines Dufts und seines Geschmacks zu trinken. Koffein habe ebenso wenig eine Auswirkung auf ihn wie andere Drogen. Seine Selbstheilungskräfte würden ihrer Wirkung zu schnell entgegenwirken. Lily hatte schon immer vermutet, dass er sich etwas vormachte.
Jetzt stellte sich heraus, dass sie recht gehabt hatte … wenn man der Rehj glaubte, und sie musste es ja wissen.
So ganz weit hergeholt war es ohnehin nicht. Lupi waren zwar gegen fast alles immun, doch ein paar Kräuter bildeten die Ausnahme, wie zum Beispiel Eisenhut. Nach Aussage der Rhej der Leidolf wirkte Kaffee sowohl anregend als auch beruhigend auf Lupi, indem er ihre Konzentration erhöhte und sie gleichzeitig entspannte. Anders als bei Menschen war der Duft – der Dampf des Getränks – der Auslöser. Den Kaffee zu trinken verstärkte den Effekt, aber nicht, weil er hinuntergeschluckt wurde. Die Dämpfe wanderten vom Mund durch die Nasennebenhöhlen hoch zu den Duftrezeptoren in den Nasengängen, sodass beim Trinken noch mehr Kontakt mit den Dämpfen hergestellt wurde.
Bei einem Lupus lief alles über den Geruch.
Die Rhej glaubte, dass Kaffee auch auf die Clanmacht selbst einwirkte, weil der Effekt am stärksten bei ihrem Träger war. Mit Sicherheit konnte sie es allerdings nicht sagen. Sie erspürte das Körperliche, und die Clanmacht bestand nur aus Energie, hatte keine Substanz, sodass sie nicht beobachten konnte, was tatsächlich ablief. Doch sie war sich sicher, was die Wirkung anging.
Auch hatte sie keinen Zweifel an dem positiven Effekt von Kaffee auf Lily. Sie hatte es ganz deutlich gespürt, als diese aus ihrem Becher getrunken hatte. Ob nun, weil er eine Wirkung auf die Wythe-Clanmacht hatte oder aus irgendeinem anderen Grund – Kaffee erleichterte die Blutzufuhr zu Lilys Gehirn. Und das senkte die Wahrscheinlichkeit für eine TIA.
»Die Rhej hat Victor mit Kaffee behandelt«, sagte Lily. »Es hat ihn beruhigt, sagt sie.«
»Ich bin nicht Victor.«
»Gott sei Dank.« Der Mann, der vor Rule der Rho der Leidolf gewesen war, war hinterhältig und skrupellos gewesen … bevor er total übergeschnappt war. Nachdenklich nahm Lily einen Schluck von ihrem Kaffee.
Hatte sie in letzter Zeit mehr Lust auf das Zeug gehabt? Vielleicht. Wahrscheinlich, gestand sie sich ein, als sie zusammenzählte, wie viele Tassen sie heute schon getrunken hatte. Die Rhej hatte sie danach gefragt. Sie glaubte, dass Lily unbewusst nach etwas gesucht hatte, das ihr half.
Die Rhej und Cullen waren ins Wohnzimmer gegangen, nachdem Rule sie auf so überaus höfliche Weise hinausgeschickt hatte. Bisher hatte er nicht viel gesagt. Lily trat zu ihm, stellte ihren Becher auf den Tresen und legte die Arme um ihn. »Ich weiß, dir wäre es lieber, wenn die Clanmächte unverwundbar wären, aber ich würde lieber glauben, dass die Rhej recht hat.«
Sein Becher gesellte sich zu ihrem. Er zog sie fest an sich und legte das Kinn auf ihren Kopf. »Es ist mir ein Bedürfnis, Kaffee zu trinken, wenn ich arbeite. Das hilft mir. Ich brauche ihn so nötig, dass ich einfach nicht daran zu glauben wage.« Er hielt inne. Sein Atem war warm auf ihrem Haar. »Ich habe Sam gebeten, dass er dir die Clanmacht abnimmt.«
Ihr Kopf fuhr hoch. »Wie bitte? Du hast was? Sam kann noch nicht … Oder doch?«
»Er kann nicht. Oder will nicht. Ich bin nicht sicher, was von beidem zutrifft. Er hat mich einen Dummkopf genannt und gesagt, es sei ein Glück, dass er nicht auch einer ist. Ich habe ihn gefragt, ob er dir auf irgendeine andere Weise helfen kann. Das war der Punkt, als er sagte, er würde sich nicht in die Pläne der Großen Alten einmischen. Lily.« Er fuhr sich mit beiden Händen durch das Haar. »Ich verstehe jetzt besser, warum dir die Entscheidung, der Schatteneinheit beizutreten, so schwerfällt.«
Seine Augen waren dunkel, als er sie mit einem eindringlichen Blick ansah. Sie legte ihm die Hand auf die Brust. Sein Herz schlug regelmäßig und langsam. »Okay. Warum?«
»Du weißt nicht, wer du bist, wenn du nicht an erster Stelle ein Cop bist. Ich wusste das zwar, aber ich habe nicht …« Er strich mit gespreizten Fingern durch ihr Haar, als könnte er dort die richtigen Worte finden. »Ich habe es nicht tief in meinem Inneren verstanden. Jetzt schon. Ich habe erfahren, dass ich nicht … ich gehöre nicht mehr zuallererst der Dame. Ich diene ihr immer noch, aber sie steht nicht an erster Stelle. Wenn ich zwischen dir und ihr wählen muss –«
»Tu das nicht. Versuche nicht zu wählen.«
Er legte seine Hand auf ihre. »Zu spät. Das habe ich bereits.«