24

Lily hatte schon viele Male den Wandel beobachten können, doch wirklich gesehen hatte sie ihn nie. Ereignisse, die außerhalb ihres Vorstellungsvermögens lagen, konnten ihre Augen nicht sehen und ihr Gehirn konnte sie nicht verarbeiten. Doch sie wusste, was sie vor sich sah, oh ja, und taumelte zurück. Weg von der Stelle, wo der Mann in Stücke gerissen wurde.

»Was zur Hölle!«

Das war Scott, der trotz Deborahs keuchendem, wortlosem Ausruf, mit dem sie nach Ruben griff, deutlich zu hören war.

Lily schlug ihre Hand zur Seite. »Bleiben Sie zurück. Bleiben Sie zurück.«

»Was haben Sie getan!«, schrie Deborah. »Was haben Sie mit ihm gemacht?«

Ruben brauchte viel zu lange. Normalerweise zog der Wandel sich nicht so lange hin. Wenigstens nicht, wenn Lily zugesehen hatte. Doch einen ersten Wandel hatte sie noch nie beobachtet.

Guter Gott. Ein erster Wandel.

»Lily«, rief Scott, »ich kann nicht ich komme nicht dagegen an.«

Lily riss den Kopf herum. Scotts Augen waren fast ganz schwarz, nur in den Winkeln waren noch winzige weiße Dreiecke zu sehen. Ruben zog ihn mit in den Wandel hinein. Er war ein Träger der Clanmacht und deswegen in der Lage dazu wohl oder übel, da er sich nicht kontrollieren konnte.

»Lass es zu!«, rief sie. Lass es geschehen. Es kann nicht aufgehalten werden, also kämpfe nicht dagegen an. Und vielleicht würde, wenn Scott aufhörte, sich zu wehren, auch Rubens Wandel zum Ende kommen.

Dort wo Scott stand, begann die Realität einen Stepptanz, faltete und drehte sich wie ein rasend schnelles Möbiusband. Scotts Kleider fielen zu Boden, als sein Körper, der für einen kurzen Moment beinahe wieder seine normalen Dimensionen angenommen hätte, sie nicht mehr trug. Dann hechelte ein großer grauer Wolf in Deborahs Küche.

Und ein großer schwarzer Wolf lag auf dem Boden. Die Flanken des schwarzen Wolfes pumpten, als sei er schnell gelaufen. Er hob den Kopf und schüttelte ihn leicht. Versuchte, sich zu erheben, fiel aber zurück. Zog langsam die Beine an, um es noch einmal zu versuchen.

»Ruben«, flüsterte Deborah und wollte zu ihm gehen.

Lily trat ihr in den Weg. »Bleiben Sie zurück. Das ist ein erster Wandel. Er ist gefährlich.«

Als wenn ihre Stimme einen Energieschub oder eine neue Entschlossenheit in dem Wolf ausgelöst hätte, rappelte er sich auf und blieb dann mit hängendem Kopf stehen.

»Scott«, sagte Lily sanft, »wie groß ist die Gefahr?«

Der graue Wolf antwortete, indem er sich zwischen die Frauen und den anderen Wolf stellte der den Kopf hob, um sie anzusehen. Seine Augen waren strahlend und gelb, sein Blick wild. Ein tiefes Grollen drang aus seiner Brust. Seine Nackenhaare richteten sich auf.

»Aber es ist doch Ruben.« Deborah klang benommen und fassungslos. »Was immer Sie mit ihm gemacht haben, es ist immer noch Ruben.« Sie versuchte, sich an Lily vorbeizudrängen.

Der Wolf bleckte die beeindruckenden Zähne, und das Grollen wurde lauter.

Lily packte Deborahs Arm und zog sie zurück. »Er kennt Sie nicht, weil er sich selber nicht kennt. Er weiß nicht, dass er ein Mann ist. Das Tier ist übermächtig und hat Angst, und Sie «

Mit ungelenken, aber schnellen Bewegungen griff der schwarze Wolf an.

Der graue Wolf stellte sich ihm entgegen, und die beiden fielen in einem Knäuel aus Fell und schnappenden Kiefern zu Boden. Durch eine schnelle Drehung befreite sich Scott und stellte sich erneut vor die Frauen, Nackenhaare aufgestellt, Zähne gebleckt. Dominanzhaltung.

»Zurück«, zischte Lily und zog Deborah mit sich. Deren Atem kam in ängstlichen kurzen Stößen.

Ruben hätte eigentlich durch den selbstbewussten erwachsenen Wolf eingeschüchtert sein müssen. Stattdessen griff er an.

Lily stieß gegen einen der Stühle am Tisch. Hier ging es nicht mehr weiter. Hastig sah sie sich nach einer Waffe um. Sie hatte zwar nicht vor zu schießen, doch sie musste Deborah vor den um sich schnappenden, immer lauter knurrenden Wölfen in der Küche in Sicherheit bringen.

Keine Waffen. »Scott, wir gehen an der hinteren Wand entlang zur Tür in den Garten. Versuch du «

Deborah riss sich los und packte Lily bei den Schultern. »Verwandeln Sie ihn zurück! Was immer Sie getan haben, Sie müssen es rückgängig machen!« Sie schüttelte Lily. »Machen Sie es rückgängig!«

Lily hob beide Hände und riss dann schnell die Arme auseinander, um sich aus Deborahs Griff zu befreien. »Das war nicht ich–« Doch, natürlich war sie es gewesen. Oder besser gesagt, sie hatte zugestimmt. So viel wusste sie, auch wenn sie sich nicht mehr genau erinnerte, wozu sie zugestimmt hatte, als sie gesagt hatte: Okay. »Ich kann ihn nicht zurückverwandeln. Das muss er selbst tun. Doch dazu wird er noch eine Weile brauchen. Er ist ein neuer Wolf, Deborah. Das bedeutet, dass er fürs Erste ausschließlich ein Wolf ist.«

Ein Krachen ließ sie herumfahren. Die beiden kämpfenden Wölfe waren gegen die mit Rollen versehene Kochinsel in der Mitte der Küche geprallt und hatten sie gegen die Schränke gestoßen. Für einen Moment wurden aus dem Fellknäuel wieder zwei Wölfe der Schwarze stand mit gebleckten Zähnen über dem Grauen, und ein drohendes Grollen drang aus seiner Brust.

Der graue Wolf lag ganz still da. Er atmete und hatte keine sichtbaren Verletzungen, aber er regte sich nicht.

Er ergab sich. Scott ergab sich Ruben. Das war unmöglich. Erwachsene Wölfe ergaben sich nicht neuen Wölfen. Scott war ein gerissener und erfahrener Kämpfer. Auf zwei Beinen besser als auf vier, laut Rule, aber trotzdem gut, egal in welcher Gestalt. Eigentlich hätte er einen Wolf, der noch so unsicher auf vier Beinen war, dass er das Laufen neu erlernen musste, mit Leichtigkeit unterwerfen können.

Aber der schwarze Wolf trug die Clanmacht in sich.

Ein neuer Wolf mit einer Clanmacht. Guter Gott. Ein verängstigter, verwirrter und ohne Zweifel sehr hungriger neuer Wolf mit einer Clanmacht.

»Deborah«, flüsterte sie. Die Wölfe konnten sie zwar hören, aber vielleicht war Flüstern weniger bedrohlich. »Haben Sie Fleisch? Etwas Aufgetautes. Es muss nach Fleisch riechen.«

Deborah schüttelte den Kopf, die Wölfe in ihrer Küche anstarrend. »Ein bisschen Huhn. Wir wollten einen Hühnereintopf mit Klößen zu Abend essen. Ich glaube er hat ihn nicht verletzt. Sehen Sie? Ruben hat den den anderen Wolf nicht verletzt. Er ist nicht so gefährlich wie Sie «

Der Kopf des schwarzen Wolfes zuckte vor. Im Bruchteil einer Sekunde hatte er Scotts Vorderbein mit den Zähnen gepackt. Trotz Scotts kurzem, hohem Aufjaulen hörte Lily deutlich das Krachen von Knochen.

Deborah gab einen leisen, erstickten Laut von sich. Scott war ganz still. Ganz still.

Langsam drehte der schwarze Wolf sich zu ihnen um, den Kopf gesenkt, mit aufmerksamem Blick.

»Okay«, sagte Lily und dachte schnell nach. »Ich gehe jetzt zum Kühlschrank. Er wird mir nachgehen, weil ich mich bewege. Versuchen Sie, es zur Hintertür zu schaffen. Scott wird tun, was er kann.« Selbst auf drei Beinen konnte Scott kämpfen. Egal, was für eine Wirkung Rubens Clanmacht gerade auf ihn hatte, sie konnte Scott nicht lähmen, falls Ruben eine von ihnen angreifen sollte. Es war schließlich nicht die Macht seines Clans, oder? Scott war ein Leidolf, kein Wythe. Ruben mochte Scott zwingen können, sich zu ergeben, doch er würde sicher nicht in der Lage sein, ihn tatsächlich zu beherrschen.

Sie dachte nach. Hoffte, dass der Einfall gut war. »Er muss etwas essen. Ich werde ihn füttern. Scott, ich weiß, dass du mich gehört hast. Wedle zur Bestätigung mit dem Schwanz oder tu etwas anderes.«

Scotts Schwanz zuckte einmal hin und her.

»Das werde ich nicht tun.«

Lily sah die törichte, sture Frau neben sich an. »Doch, das werden Sie.«

»Ich werde nicht weglaufen.«

Lily atmete tief durch. »Er hat Scott das Bein gebrochen, weil er eine Bedrohung für ihn darstellt. Wir sind keine Bedrohung. Wir sind Beute.«

»Dann sollten wir ihm wohl etwas zu essen geben. Und zwar schnell.«

»Dann « Lilys Schultern spannten sich an, als sie etwas wahrnahm. Gott sei Dank. Oh, Gott sei Dank. Jetzt mussten sie Ruben nur noch eine kleine Weile länger hinhalten. »Nehmen Sie sich lieber einen Stuhl.«

»Was?«

Der schwarze Wolf setzte sich leicht auf die Hinterbeine.

Lily stieß Deborah fest zur Seite, griff nach dem Stuhl in ihrem Rücken, gegen den sie eben gestoßen war und schwang ihn mit aller Kraft herum. Er traf den Wolf mitten im Sprung. Er fiel, rutschte ein Stück zurück und rappelte sich dann wieder auf. Scott stand ebenfalls aufrecht da und stellte sich erneut zwischen den anderen Wolf und die Frauen. »Rule!«, schrie Lily. »Beeil dich!«

Vorn im Haus rumste es. Der schwarze Wolf schüttelte einmal den Kopf und rannte geduckt auf sie zu. Schnell, schneller als vorher. Er lernte viel zu rasch, sich in dieser Gestalt zu bewegen. Er prallte gegen Scott und stieß ihn zur Seite. Lily wehrte ihn mit dem Stuhl ab doch er verbiss sich in eines der Beine und zog daran.

Riss ihr den Stuhl aus den Händen.

Rule kam ins Zimmer gerannt sprang und wandelte sich und war schon Wolf, als er mit dem schwarzen Wolf kollidierte.

»Es ist Ruben!«, rief Lily ihm zu. »Ich weiß nicht, wie er riecht, aber es ist Ruben. Er ist ein neuer Wolf.«

Der Kampf war kurz. Bei Rule konnte Ruben die Clanmacht nicht einsetzen, konnte ihn nicht einschüchtern oder ihn langsamer werden lassen, und Rule kannte diese Gestalt sehr genau. In wenigen Augenblicken hatte Rule den schwarzen Wolf beim Nacken. Der andere Wolf sank zu Boden. Rule ließ ihn los, und der Wolf rollte sich auf den Rücken, mit dem Bauch nach oben. Rule stellte sich über ihn, öffnete das Maul und packte Ruben bei der Schnauze.

»Oh Gott, oh Gott, oh Gott«, flüsterte Deborah.

»Keine Sorge. Er will ihm nur deutlich zeigen, dass es ihm ernst ist. Auch Ruben muss es ernst damit sein.«

Eine Weile bewegten sich die beiden Wölfe nicht. Dann winselte Ruben leise.

Rule hob den Kopf und sah Lily an. In seinen Augen las sie, so deutlich, als spräche er es laut aus: »Was, zum Teufel, ist hier los?«

»Ich weiß es nicht. Ich weiß es nicht, aber er ist derjenige, den die Dame erwählt hat.« Sie zeigte auf den schwarzen Wolf, der immer noch still in der ergebenen Position dalag. »Als ich hier ankam Ich erzähle es dir später, aber er hat jetzt die Clanmacht.«

Rules Blick wanderte zu Deborah, die wieder Lilys Arm umklammert hielt. Dann zurück zu Lily. Er knurrte kurz.

»Pech gehabt. Wenn die Dame nicht will, dass Deborah von der Clanmacht weiß, hätte sie sie nicht ihrem Ehemann geben sollen. Ist mit dir alles in Ordnung?«

Er nickte einmal und sah sie eindringlich an. Nach einer Sekunde glaubte sie, seine Frage verstanden zu haben. »Mir geht es gut. Eigentlich « Sie brach ab und hob beide Arme. Spannte den Bizeps an. »Geht es mir sogar sehr gut.« Keine Schmerzen. Keine Schwäche im rechten Arm. Nichts. Sie drehte den Arm, um ihn zu untersuchen. Die Narbe war noch da, aber die Kuhle war verschwunden. Der Muskel war nachgewachsen. »Wie eigenartig. Scott? Alles in Ordnung?«

Der graue Wolf nickte langsam. So in Ordnung, wie er mit einem gebrochenen Bein sein konnte.

Rule trat von dem schwarzen Wolf herunter, der sich herumrollte, sodass sein Bauch nicht mehr schutzlos dalag, aber immer noch geduckt blieb und Rule aufmerksam beobachtete. Vorsichtig reckte er den Kopf, um Rule über die Schnauze zu lecken Wolfssprache für: Du hast das Sagen. Lass uns Freunde sein. Rule ließ es einen Moment geschehen und leckte dann einmal zurück. Der schwarze Wolf wand sich wie ein Welpe.

Deborah atmete immer noch zu schnell. Sie stand immer noch am Rand der Panik. »Ich verstehe das alles nicht. Was ist mit Ruben passiert? Was haben Sie mit ihm gemacht? Er verwandelt sich doch wieder zurück, oder nicht?«

»Irgendwann schon. Glaube ich. Ich, äh « Lily suchte nach Worten, um das Unerklärliche zu erklären. »Die Kurzversion ist: Ich habe den Babysitter einer Clanmacht gespielt ein magisches Konstrukt, mit dem Rhos ihre Clans zusammenhalten. Aber Sie dürfen niemandem, wirklich niemandem, jemals von den Clanmächten erzählen.«

»Das ist nicht schwer. Ich weiß ja nicht einmal, was ich weitererzählen könnte.«

»Einzelheiten später. Diese Clanmacht musste ich eine Zeit lang babysitten, weil der Rho dieses Clans ohne Thronfolger gestorben ist. Aus irgendeinem unerfindlichen Grund hat die Dame heute beschlossen, diese Clanmacht an Ruben weiterzugeben. Irgendwie hat das in ihm den ersten Wandel ausgelöst. Wie, weiß ich nicht. Mit mir hat es das ganz sicher nicht bewirkt, und Ruben ist genauso wenig ein Lupus wie ich, also «

Rule jaulte.

»Du meinst, er ist einer? Er riecht nach Lupus?«

Er nickte.

Deborah sah fassungsloser aus denn je. »Ist er geht es Ruben jetzt gut?«

Lily sah Rule an. »Wird Ruben dir gehorchen? Ihr müsst nämlich hier verschwinden. Und ich auch. Ich kam hierher, weil er festgenommen werden soll. Hast du meine Nachricht bekommen?«

Rule jaulte wieder, warf Scott einen Blick zu und beschrieb mit der Schnauze einen kleinen Kreis in der Luft.

Lily runzelte die Stirn. »Warum soll Scott sich wandeln und du nicht?«

Scott war nicht so schwindelerregend schnell wie Rule, aber schnell genug. Ein paar Sekunden später stand er splitterfasernackt da und hielt sich den gebrochenen Arm. »Wo ist das Huhn?«

»Wie bitte?«

»Das Huhn. Rule muss ihn füttern.«

»Im Kühlschrank«, sagte Deborah schnell und lief dorthin. Der schwarze Wolf zitterte, als wenn ihre Bewegung ihn erregen oder erschrecken würde, aber ein Blick von Rule hielt ihn zurück. Deborah nahm ein Paket mit Hühnerbrust heraus. »Soll ich «

»Nein, das mache ich.« Scott nahm ihr das Paket aus der Hand, riss die Plastikfolie ab und tat ein paar Schritte vorwärts, bevor er sich mit gesenktem Kopf vor ihnen auf die Knie hinunterließ, um die Schaumstoffschale auf den Boden zu stellen. Er schob sie den Wölfen zu.

Er unterstrich damit Rules Dominanz, verstand Lily. Zeigte seinen Nacken, unterwarf sich Rule, zeigte dem schwarzen Wolf, dass alle anderen Wölfe im Raum Rule ebenfalls als ihren Boss anerkannten.

Rule trat von dem schwarzen Wolf ein wenig zurück, der begann, sich zu erheben bis Rules Kopf herumschwang und er die Zähne zeigte. Dann duckte er sich wieder. Gemächlich inspizierte Rule die Gabe und beschnüffelte sie ausführlich. Der schwarze Wolf zitterte, machte aber keine Bewegung.

Rule-Wolf wählte ein Stück Fleisch aus, biss ein paar Mal darauf herum und schluckte es hinunter. Dann stupste er die Schale mit der Nase zu dem anderen Wolf hin der ihn ansah, als bitte er um Erlaubnis. Rule machte einen Schritt zurück. Es gehört alles dir.

Schnell wie der Blitz war der schwarze Wolf auf den Beinen und schlang das Fleisch herunter.

Rule gab einen leisen Laut von sich, eine Art Grunzen. Er sah Scott an. Scott machte ein fragendes Gesicht, dann weiteten sich seine Augen. »Ein Auto. Jetzt höre ich es. Vor dem Haus.«

Drummond? Vielleicht. Vermutlich. »Schnell«, sagte Lily und drehte sich zu Deborah um. »Sehen Sie nach, wer es ist. Lassen Sie sie nicht herein, sondern lassen Sie es mich nur wissen.«

Ausnahmsweise widersprach die Angesprochene nicht. Sie lief los. Lily fuhr zu Rule herum. »Wir müssen Ruben hier rausschaffen. Sie wollen ihn festnehmen. Wenn sie ihn hier so finden «, sie zeigte auf den schwarzen Wolf, der jetzt die Verpackung ableckte, »er wird sich nicht unter Kontrolle haben. Er wird nicht verstehen, was vor sich geht. Herrje. Ihr braucht alle Kleidung.« Als sie zur Hintertür lief, rief sie Scott zu: »Kannst du sie begleiten? Trotz deines Arms?«

Er war schon dabei sich zu bücken und mit dem unverletzten Arm das Häuflein der auf den Boden gefallenen Kleider aufzuheben. »Natürlich.«

Rule stupste Ruben mit der Nase an. Der schwarze Wolf knurrte, hörte aber sofort auf, sich weitere Stücke Hühnerfleisch einzuverleiben.

Lily kämpfte mit dem Schloss und riss die Tür auf. »Achten Sie darauf, dass Sie Rules Brieftasche und Handy mitnehmen. Schnell.«

Rule warf Lily nur einen einzigen Blick zu, dann stieß er Ruben mit dem ganzen Körper an, bevor er durch die Tür hinauslief. Der schwarze Wolf folgte ihm wie auf Befehl. Scott war nur ein paar Sekunden später hinter ihnen, unter einem Arm das Bündel Kleider, den anderen vorsichtig darauf abgestützt. Außer Schuhen trug er nichts am Leib.

Lily schloss die Tür hinter ihnen, nahm die Schale, in der die Hühnerbrust gelegen hatte, und stopfte sie in den Mülleimer. Dann rannte sie zum Spülbecken, drehte das Wasser auf und riss an der Rolle mit den Papiertüchern.

»Es sind vier«, sagte Deborah leicht atemlos, als sie zurück ins Zimmer kam. »Al Drummond, der mich befragt hat, und drei, die ich nicht kenne. Sie sind fast «

Die Türklingel ertönte.

»Gießen Sie mir und sich selbst Kaffee ein.« Lily warf einen Stapel Papiertücher unter den Wasserhahn. »Nicht voll so, als säßen wir schon eine Weile beisammen. Stellen Sie die Stühle wieder auf. Ich bin unangemeldet vorbeigekommen«, redete sie schnell weiter, während Deborah sich zur Kaffeemaschine begab. Sie bückte sich und begann die Blutflecken vom Boden aufzuwischen. »Ruben war nicht hier. Er ist vor ungefähr einer Stunde zu einem Spaziergang aufgebrochen, kurz bevor ich kam.« Keiner der Wölfe hatte stark geblutet, doch die Blutflecken waren überall verteilt, verdammt. Lily holte weitere Papiertücher.

»Aber Sie werden Ärger bekommen.« Deborah stellte zwei halbvolle Becher und einen Teller mit Keksen auf den Tisch. Gute Idee. Von einem Keks brach sie eine Ecke ab, zerbröselte sie und verteilte ein paar Krumen auf dem Tisch. »Sie dürften eigentlich gar nicht hier sein.«

»Uns bleibt nichts anderes übrig.« Rules Wagen stand vor dem Haus. Wenn sie einfach durch die Hintertür verschwand, würden sie nach ihm suchen. Das durfte sie nicht zulassen. »Wir haben weder über die Ermittlungen geredet, noch über das, was in Fagins Haus passiert ist. Wir haben über Sie gesprochen wie Sie das alles verkraften und so weiter.«

Deborah trug den zweiten Stuhl durch die Küche. »Meine Eltern sitzen mir im Nacken. Das können Sie ihnen sagen. Dieses Stuhlbein ist kaputt.« Sie öffnete die Tür, offenbar zu einer Speisekammer, und stellte den Stuhl hinein. »Wo bringt Rule Ruben hin? Was passiert jetzt mit ihm?«

Es klingelte wieder.

»Fragen beantworte ich später. Jetzt lassen wir sie lieber herein.« Lily warf die Papiertücher in die Mülltonne und sah sich schnell um. Kein Blut mehr zu sehen. Selbst wenn sie etwas übersehen hatte und Drummond misstrauisch genug sein sollte, es im Labor untersuchen zu lassen, würden die Tests ihm wenig verraten. Nicht über Lupi-Blut.

Die Kochinsel stand immer noch vor dem Schrank. Lily begab sich zu ihr, als Deborah aus der Speisekammer kam. »Öffnen Sie die Tür. Rasch.«

Deborah war blass, aber gefasst. Vielleicht ließ sie sich auch einfach nur nichts anmerken. Beides würde fürs Erste genügen. »Die Tasse. Die, die ich fallen gelassen habe. Da liegen noch Scherben drüben beim Tisch.«

»Ich kümmere mich darum.« Lily schob die Insel vorwärts. »Gehen Sie.«

Deborah gehorchte. Ihre Schuhe klickten laut auf dem Boden. Lily ließ die Kochinsel dort, wo sie ihrer Erinnerung nach ungefähr gewesen war, ging eilig zum Tisch und bückte sich, um die Scherben der zerbrochenen Kaffeetasse aufzuheben. Eigentlich hätte sie sie sehen müssen, als sie das Blut aufwischte.

Stimmen erklangen aus dem vorderen Teil des Hauses. Keine Zeit. Sie stopfte die Porzellanscherben hinter ein grasgrünes Kissen auf der Bank, setzte sich auf den einzigen noch verbliebenen Stuhl und biss von einem Keks ab.

»Ich sagte Ihnen doch bereits«, Deborahs Stimme kam näher, »dass er spazieren gegangen ist.«

»War das vor oder nachdem jemand Ihr Fenster eingeschlagen hat?«, fragte Drummond.

»Bis Sie mich eben darauf hingewiesen haben, wusste ich gar nicht, dass es zerbrochen ist. Ich war länger nicht vorne im Haus.«

Lily spülte den Bissen mit einem Schluck kalten Kaffee hinunter, als Drummond mit Deborah im Schlepptau das Zimmer betrat. Drei weitere Männer folgten den beiden zwei, die sie nicht kannte, plus Mullins, der ganz besonders dümmlich und lustlos wirkte.

»Ruben ist sicher bald zurück«, sagte Deborah. »Ich weiß nicht, was ich Ihnen sonst sagen soll.«

Drummond blieb stehen, als er Lily sah aber nicht, als sei er überrascht. Er lächelte kalt und böse, und in seinen Augen glitzerte Wut. »Sieh mal einer an, wer da schneller gewesen ist. Was für ein Zufall. Ganz zufällig plaudern Sie mit einem Verdächtigen, kurz bevor ich komme, um ihn festzunehmen.«

»Sie nehmen Ruben fest?«

»Anscheinend ist er nicht hier, oder? Wissen Sie etwas darüber?«

Lily blickte in diese glitzernden Augen, und ihr Magen hob sich, als stünde sie in einem in die Tiefe rasenden Aufzug.

Es war nicht Wut, die sie da sah. Es war Triumph. Drummond hatte genau das bekommen, was er wollte. »Wie könnte ich? Ich bin ja nicht mehr an den Ermittlungen beteiligt.«

»Mit Letzterem haben sie recht. Special Agent Lily Yu, Sie sind festgenommen.«