28
Die Rhej sollte recht behalten. Mist.
Nachdem Isen gegangen war, ging Lily zurück in die Küche, wo die Rhej Deborah einen Einführungskurs in die Welt der Lupi gab. Sie sprachen gerade darüber, was aus einem Clan einen Clan mache – mit anderen Worten: die Clanmächte. »Rule hat mich zwar schief angesehen, als ich ihm sagte, dass ich Deborah von den Mächten erzählt habe«, sagte Lily, »aber gescholten hat mich deswegen niemand.«
Die Rhej schenkte ihr ein müdes Lächeln. »Du bist eine Auserwählte. Ich bin eine Rhej. Uns hat die Dame erwählt, deswegen haben wir das Recht, das Geheimnis der Dame preiszugeben. Die meisten Lupi würden denken, dass du nur das getan hast, was die Dame wollte.«
»Nicht immer, wenn ich den Mund aufmache, spricht die Dame durch mich. Ich habe sie nur einmal gehört.«
»Ein Mal, von dem du weißt«, sagte die Rhej freundlich und wandte sich wieder Deborah zu.
Wenn Deborah die Rhej an ihrer Seite hatte, war Lilys Hilfe nicht nötig, deswegen begab sie sich ins Wohnzimmer und brachte es hinter sich: Sie rief ihre Eltern an.
Was sowohl besser als auch schlechter lief, als sie erwartet hatte. Ihr Vater bestand darauf, als Erster mit ihr zu sprechen, und konnte sich tatsächlich gegen ihre Mutter durchsetzen. Leise fragte er sie: »Ganz ehrlich, hast du den Eindruck, dass du das Richtige getan hast?« Lily bejahte. »Dann bin ich stolz auf dich. Sei kein Opfer oder eine Märtyrerin. Kämpfe, aber suche dir deine Gegner klug aus.« Während Lily die Tränen in die Augen traten, verlangte ihre Mutter fordernd das Telefon und erläuterte ihr ihren ehrgeizigen Plan von gerichtlichen Klagen – gegen das FBI, den festnehmenden Beamten, das Gefängnis, in dem sie gewesen war, und möglicherweise sogar den Senat der Vereinigten Staaten, auch wenn Lily nicht verstand, warum ihre Mutter dachte, insbesondere der Senat sei verantwortlich für die Ungerechtigkeit, die Lily durch diese Haft widerfahren war.
Also weinte sie ein bisschen und lachte dann – auch wenn ihre Mutter nicht verstand worüber – und fand anschließend, dass sie nun auch genauso gut Nägel mit Köpfen machen und ihre Großmutter und ihre beiden Schwestern anrufen konnte. Und dann Toby. Isen hatte ihn zwar schon darüber informiert, dass sie nicht mehr im Gefängnis war, aber er würde es sicher gern noch einmal von ihr persönlich hören.
Toby wollte wissen, wie es so im Gefängnis gewesen sei, und ob sie irgendwelche Mörder kennengelernt habe und ob es ihrem Arm jetzt wieder besser ging. Und war es nicht cool, dass Mr Brooks ein Lupus geworden war? Und würden sie und Dad bald nach Hause kommen können?
Ihrem Arm ging es wirklich besser. Im Gefängnis hatte es gestunken, und es war langweilig wie sonst nirgendwo, und die meisten Menschen, die dort waren, waren bedauernswerte Menschen, die Mist gebaut hatten, keine Mörder, auch wenn manche von ihnen sauer waren, dass sie dort waren, und glaubten, jemand anders sei schuld daran. Und zur letzten Frage: nein, sie glaube nicht, dass sie bald nach Hause kommen könnten.
Als sie schließlich den letzten Anruf beendet hatte, wollte Deborah aufbrechen. Lily versuchte, sie zu überreden, die Nacht über zu bleiben, nur zur Sicherheit, doch das lehnte sie ab, erklärte sich aber bereit, Lily am nächsten Tag in Fagins Krankenhauszimmer zu treffen.
Als Deborah schließlich um zehn nach sieben ging, war Lily erschöpft. Trotzdem machte sie sich noch an die Arbeit. Sie musste dringend ihre Gedanken zu Papier bringen. Auch wenn sie sich während ihres Aufenthalts im Gefängnis die meiste Zeit gelangweilt hatte, war ihr doch einiges klar geworden. Außerdem musste der weitere Verlauf der Ermittlung geplant werden … die sie mit oder ohne Marke weiterführen würde. Denn das war, verdammt noch mal, ihre Aufgabe.
Eineinhalb Stunden später wollte ihr Hirn nicht mehr mitmachen. Sie gab auf und stellte die Nachrichten an.
Einer von Friars Lieutenants sprach gerade mit einem scharfen Kritiker des rechten Flügels. Paul Chittenden war sehr blond und sehr gepflegt; er erinnerte sie ein wenig an Dennis Parrott, auch wenn sie sich abgesehen von ihrer gelackten Art äußerlich nicht ähnelten. Er versicherte dem sehr blonden Interviewer, dass die Demonstrationen von Humans First friedlich verlaufen würden. »Auch wenn Humans First das Recht, Waffen zu besitzen und zu tragen, gemäß dem zweiten Zusatzartikel zur Verfassung der Vereinigten Staaten, verteidigt, unterstützen wir doch keine Gewalt.« Er sprach darüber, wie wichtig diese Demonstrationen seien, wenn man bedachte, wie korrupt die intransparente Einheit der Bundespolizei ganz offensichtlich war. Damit meinte er selbstverständlich Rubens Flucht vor der Verhaftung.
Lily hörte so lange zu, bis ihr Name genannt wurde, dann schaltete sie aus, stieg aus ihren Kleidern und ins Bett, zu müde, um noch in ihren Pyjama zu schlüpfen, obwohl noch andere im Haus waren.
Doch das erste Mal seit beinahe einem Jahr war Rule nicht an ihrer Seite, und es gelang ihr nicht, ihren Verstand zum Schweigen zu bringen. Dabei tat er eigentlich nichts Nützliches, drehte sich nur im Kreis, verlor sich in verschiedenen Katastrophen: in einigen, die tatsächlich passiert waren – wie zum Beispiel, dass man sie verhaftet hatte –, und anderen, die noch nicht passiert waren, aber passieren würden. Wie zum Beispiel, dass Croft sie feuern würde, und ein paar wenigen, die tatsächlich nur Hirngespinste eines überdrehten Hirns waren, das im Dunkel der Nacht alle möglichen »Was wäre wenn«-Szenarien heraufbeschwört. Schließlich stand sie auf und machte ein paar Stretchübungen und Ausfallschritte, in der Hoffnung, das würde ihr helfen einzuschlafen.
Als sie aufwachte, fühlte sie sich gut. Ein Gefühl der Furcht nagte an ihr, aber ihr Kopf war klar.
Bevor sie duschte und die erste Tasse Kaffee des Tages trank, warf sie einen Blick auf ihr Handy. Kein Anruf von Rule. Eigentlich hatte sie damit gerechnet, sobald sein Vater bei ihm war und er wieder eine Gestalt annehmen konnte, in der er sich besser artikulieren konnte. Aber vielleicht war Isen noch nicht angekommen.
Ja, das musste es sein. Bis zum Clangut der Wythe waren es fast siebenhundertfünfzig Kilometer, und Isen wollte einige Umwege machen, damit man ihm nicht folgen konnte.
Das Telefon klingelte, als sie tropfnass der Dusche entstieg. Sie wickelte sich ein Handtuch um und nahm eilig ab … und wünschte sofort, sie hätte es nicht getan.
Es war Croft, um ihr mitzuteilen, dass sie vorübergehend beurlaubt sei, bis die Untersuchung abgeschlossen sei. Sie würde eine offizielle Benachrichtigung per Mail erhalten, in der auch ihre Rechte und Pflichten aufgeführt seien. Sie antwortete, sie habe verstanden und legte auf. Dann stand sie mit dem Telefon in der Hand da und starrte ins Leere.
Es piepte. Eine SMS. Als sie auf das Display sah, erkannte sie eine von Isens Nummern.
Hier ist Rule. Ich liebe dich. Fahre jetzt ab. Isen behält beide Telefone ohne GPS. Meins stelle ich ab. Liebe dich.
Lily rollte die Schultern und nickte kurz und heftig. Zwischen ihr und Rule war alles in Ordnung. Mit dem Rest ihrer Welt ging es gerade den sprichwörtlichen Bach hinunter, doch zwischen ihr und Rule stimmte es.
Als sie nach unten ging, fand sie dort die Rhej vor, die an der Tür neben ihrem Koffer wartete. »Du reist ab.« Das klang nicht sehr intelligent, also versuchte sie es noch einmal. »Warum reist du ab?«
Die Rhej setzte eines ihrer sirupartigen Lächeln auf. »Ich fürchte, meine Begründung wird dir nicht gefallen. Ich muss mich um eine Sache kümmern, die Rhejes betrifft und über die ich nicht sprechen kann.«
Die die Rhejes betrifft, soso. »Du hast recht. Das gefällt mir nicht. Bei allem, was im Moment hier vorgeht, solltest du es mir wirklich sagen, falls du mehr weißt.«
»Das kann ich nicht. Ich hoffe, du nimmst es mir nicht übel. Ich musste mein Bankkonto leer räumen, um den Flug bezahlen zu können. Bewahrt Rule hier Bargeld der Leidolf auf, von dem du mir etwas geben kannst?«
Er bewahrte Geld im Safe im ersten Stock auf. Lily hatte keine Ahnung, ob das Geld den Leidolf, den Nokolai oder Rule selber gehörte, doch sie kannte die Kombination. »Sind fünfhundert genug?«
»Oh, ich glaube, ja. Danke, Lily.«
»Du solltest nicht alleine reisen. Ich finde, dass dich ein Leibwächter begleiten sollte.«
Sie schüttelte den Kopf. »Ich nehme niemanden mit, aber Mark fährt mich zum Flughafen.«
Lily versuchte noch einmal, etwas aus ihr herauszubekommen, doch sie antwortete nur mit einem Lächeln und einer Umarmung.
Lilys Treffen mit ihrer Anwältin war um neun Uhr. Sie war fünf Minuten zu früh, wurde aber trotzdem sofort zu ihr hineingeschickt. Miriam Stockard war knapp über eins fünfzig groß, hatte graues Haar, trug eine strenge Brille und ein blassgelbes Kostüm, das vermutlich mehr gekostet hatte, als Lily im Monat verdiente. Mehr als sie im Monat verdient hatte, zumindest. Denn im Moment war sie arbeitslos.
Außerdem hatte die Anwältin, wie sich herausstellte, eine leichte Gabe, die Lily nicht benennen konnte, die aber in Verbindung mit Luft stand. Lily hatte schon vorher Menschen mit dieser Art von Magie getroffen – einer Art aufkeimender telepathischer Gabe, noch so schwach und so wenig ausgeprägt, dass die Menschen, die sie hatten, sich nicht dadurch gestört fühlten. Ms Stockard konnte keine Gedanken lesen, lag aber, Lily hätte darauf wetten können, manchmal erstaunlich richtig mit ihrer Vermutung über das, was ein Staatsanwalt oder ein Zeuge gerade dachte.
Oder, wie in diesem Fall, ein Mandant. Lily ließ tapfer alle Fragen über sich ergehen. Keine von ihnen war auf dicke Freundschaft aus, beide wollten sie gewinnen, und Ms Stockard war genauso intelligent und eisig und zielstrebig wie ihr Ruf. Ursprünglich war die Anklageerhebung auf diesen Nachmittag gelegt worden. Stockard sagte, sie habe eine Verschiebung erreichen können. Sie stehe in Verbindung mit dem Staatsanwalt. Möglicherweise würde dieser in der Zwischenzeit die Anklage fallen lassen. Zu viel Hoffnung wolle sie Lily nicht machen, aber einen Versuch sei es wert. Sie werde sich wieder bei ihr melden.
Um zwanzig vor zehn schüttelten Lily und Ms Stockard sich zum zweiten Mal die Hände, und Lily ging.
Sie hatte Rules gemieteten Mercedes genommen, nicht ihren Dienstwagen, den Ford. Den würde sie wahrscheinlich bald abgeben müssen. Es war ein seltsames Gefühl, hinter dem Steuer eines Wagens zu sitzen, der nicht ihr gewohnter war. Sie musste erst einmal innehalten, Luft holen und sich sagen, dass sie sich von nun an daran gewöhnen müsse.
Dabei bemerkte sie etwas anderes, das langsam stärker wurde – etwas, das nichts mit der Anklageerhebung oder dem drohenden Verlust ihrer Marke zu tun hatte. Sie spürte dem nach … und tatsächlich, Rule war jetzt näher. Viel näher, und er bewegte sich schnell. Er musste einen Flieger genommen haben.
Das half ihr. Dadurch kam nicht alles wieder in Ordnung, aber es war ein Lichtblick.
Dreißig Minuten vor ihrer Verabredung mit Deborah kam sie am Krankenhaus an. Mit Absicht. Lily ahnte, dass Deborah über die Schatteneinheit Bescheid wusste. Doch wie viel wusste sie? Das wollte sie zuvor in einem kurzen Gespräch klären.
Fagin hatte ein Einzelzimmer. Und ein Officer bewachte ihn. Was gut war, aber zugleich ein Problem aufwarf, denn Lily konnte nicht mehr einfach ihre Marke zücken, um hineinzukommen. Genau genommen war sie zwar noch nicht gefeuert, doch sie fand es nicht richtig. Außerdem hatte der Officer vielleicht von ihrer Festnahme gehört und … aber es half alles nichts. Sie lächelte den Officer an und hob leicht die Stimme. »Ich bin Lily Yu. Würden Sie bitte Dr. Fagin fragen, ob er mich sehen möchte?«
»Besucher sind nicht erlaubt, Ma’am.«
Sie hörte gedämpfte Stimmen aus dem Zimmer. »Ist es Ihnen auch nicht erlaubt, ihn danach zu fragen?«
»Ich muss Sie bitten, weiterzugehen.«
Die Tür öffnete sich. Ein schlanker, dunkelhäutiger Mann in einer gebügelten Kakihose warf dem Cop mit ernster Miene einen Blick zu, wandte sich aber an Lily. »Dr. Fagin wird in einer Minute hier sein. Ich muss ihm in den Rollstuhl helfen.«
»Moment mal«, begann der Cop.
Der Mann sah ihn an. »Dr. Fagin weiß Ihren Schutz zu schätzen, Officer, aber er ist kein Gefangener. Er möchte mit Ms Yu sprechen. Wenn Sie sie nicht hineinlassen, kommt er eben heraus.«
»Ich habe eine Liste«, sagte der Officer störrisch. »Die, die auf der Liste stehen, dürfen rein, nachdem sie sich ausgewiesen haben. Sonst niemand.«
Aus dem Zimmer rief Fagin: »Ich selbst habe diese Liste aufgestellt, Sie Schwachkopf. Lilys Name steht darauf. Und wenn er nicht draufsteht, hat ihn jemand ohne mein Wissen oder mein Einverständnis gestrichen. In diesem Falle muss ich sofort mit Ihrem Vorgesetzten sprechen.«
Der Officer musste um die dreißig sein, aber in diesem Moment sah er aus wie ein Junge, der zum Direktor gerufen worden war. »Ja, Sir. Ich bin Lieutenant Collins, Sir. Sechstes Revier.«
»Danke. Und jetzt treten sie zur Seite und erlauben Sie meiner entzückenden Besucherin, meine müden alten Augen zu erfrischen.«
Diese müden alten Augen sprühten Funken, als Lily das Krankenhauszimmer betrat. Fagin hatte seinen Spaß. »Offenbar fühlen Sie sich besser«, sagte sie.
»Schmerzen verderben mir die Laune. Mich über die Bürokratie zu ärgern ist da eine angenehme Ablenkung. Und dass Sie jetzt da sind, wird mir noch mehr guttun. Setzen Sie sich, meine Liebe. Ah …« Er blickte sich um. Es gab nur einen Stuhl, der vor dem Fenster stand und auf dem eine große Einkaufstüte lag. »Samuel, wenn Sie bitte …«
»Natürlich.« Er brachte den Stuhl herbei.
Fagin sah besser aus. Sein Gesicht hatte wieder Farbe, und seine Augen waren klar. Er saß aufrecht im Bett, die Beine ausgestreckt, und sein verbundener Fuß ragte aus einem Meer von Zeitungsseiten heraus. Ein Krankenhaushemdchen trug er nicht. Irgendjemand musste ihm den Pyjama mit dem blau-violetten Paisleymuster vorbeigebracht haben, den er anhatte.
»Danke«, sagte Lily, als Samuel den Stuhl neben Fagins Bett stellte. Aber sie setzte sich nicht sofort. »Es ist schön, dich zu sehen, Samuel. Ich wusste nicht, dass du hier bist.«
»Rule rief an, als ihr beide von diesem Elementargeist festgehalten wurdet. Er wollte, dass einer von uns die ganze Zeit bei Dr. Fagin bleibt. Er hat speziell nach mir gefragt.« Sein stets ernstes Gesicht verzog sich zu einem Lächeln.
Lily stockte der Atem. Samuel war nicht LeBron. Sein Lächeln war ein wenig anders als das seines Vaters. Doch das Spiegelbild dieses Mannes in seinem Sohn zu sehen, hatte etwas … Beruhigendes. »Ich bin froh, dass er das getan hat.«
Er zuckte die Achseln. »Er wusste, dass ich immer noch auf Jobsuche bin und sofort kommen konnte.«
»Er weiß, dass du der Richtige für den Job bist, sonst hätte er nicht nach dir gefragt.«
»Das möchte ich auch hoffen«, sagte Fagin. »Schließlich ist es mein Leben, das der flotte, junge Mann hier beschützt. Offensichtlich kennen Sie sich?«
Lily warf Samuel einen Blick zu und stellte fest, dass auch er sie ansah. Ja, sie kannten einander. Nicht gut, und doch bestand eine enge Verbindung zwischen ihnen. Bevor sie ihn das erste Mal auf dem firnam seines Vaters traf, hatte sie schon viel über Samuel gehört. LeBron hatte sein Leben für Lily gegeben. Sie lächelte und bestätigte, dass sie sich in der Tat kannten. »Sie sind in guten Händen.«
»Ich bin froh, das zu hören. Da Sie ja nicht jeden in Rules Clan kennen können, muss es irgendeinen Kontakt …«
»Sie sind unheilbar neugierig, nicht wahr?« Lily ließ sich jetzt doch auf dem Stuhl nieder, den Samuel ihr gebracht hatte. »Wie geht es Ihnen? Sie sehen gar nicht aus, als stünden Sie unter Drogen.«
»Oh, ich nehme immer noch Schmerzmittel. Wenn ich mitten im Satz einschlafe, dann wissen Sie, warum. Man sagte mir, meine Lunge sei in Ordnung, was ein Segen ist. Trotzdem huste ich noch hin und wieder.«
»Der Fachmann, mit dem ich gesprochen habe, glaubt, es sei eine SIP gewesen. Selbstentzündlicher Phosphor. Die Briten haben wohl während des Zweiten Weltkriegs ziemlich viel davon auf Lager gehabt, die sie dann doch nicht benutzt haben, doch ich bezweifle, dass Ihre Bombe aus diesem Arsenal stammt. Angeblich sind die Sprengsätze mittlerweile zu alt.«
Seine Augenbrauen wanderten höher. »Für jemanden, der im Gefängnis gesessen hat, sind Sie aber ganz schön fleißig gewesen. Wurde die Anklage fallen gelassen?«
»Nein«, sagte sie kurz angebunden. »Ich bin auf eigenes Kautionsversprechen draußen. Und beurlaubt. Ich glaube nicht, dass man lange brauchen wird, um mich offiziell zu feuern.«
»Lily …« Fagin seufzte tief. »Es tut mir leid. Wenn ich irgendetwas tun kann –«
»Sie können mir einige Fragen über Mustersichten beantworten und« – sie warf einen Blick auf Samuel – »über das, worüber wir auf Rubens Party gesprochen haben.«
Fagin zog die Brauen noch höher. »Geister?«
»Wir haben zweimal über Geister gesprochen, erinnern Sie sich? Ich dachte an die zweite Unterhaltung.«
»Wie interessant. Samuel, ich glaube, die Sachen, die ich getragen habe, als man mich brachte, müssen noch hier irgendwo sein. Wenn es Ihnen nichts ausmacht … danke.« Samuel reichte ihm die Einkaufstüte, und er begann darin herumzuwühlen. »Falls Sie sich wundern: Samuel interessiert sich auch für Geister. Haben Sie die Nachrichten gesehen?«
Verwirrt sah sie zum Fernseher. Gerade sprach eine dunkelhaarige Frau, doch Lily konnte sie nicht verstehen, der Ton war zu leise. »Geht es um meine Festnahme?«
»Nein, um Geister. Es gab in den letzten Tagen im Stadtgebiet von D.C. Meldungen über einige Geistersichtungen. Gestern Abend kam ein Bericht darüber.«
»Soweit ich weiß, können Geister durch Todesmagie entstehen.«
»Das habe ich auch gehört. Ah, hier ist es.« Fagin zog die Hand aus der Tüte und streckte sie aus. In seiner Handfläche lag ein kleiner Kristall. »Ich nehme nicht an, dass Sie einen Hammer in ihrer Handtasche haben?«
»Sie sind besser vorbereitet als ich.« Sie nahm den kleinen Kristall. »Tragen Sie so etwas immer bei sich?«
»Dieser hier wird nicht voll aufgeladen sein«, sagte er entschuldigend. »Ich habe ein kleines Experiment durchgeführt, um herauszufinden, wie lange meine Gabe braucht, um die Energie aus dem Kristall zu ziehen. Deswegen hatte ich ihn in der Tasche meines Morgenmantels – ich habe ihn die ganze Zeit nah am Körper getragen.«
»Besser als nichts. Ich kann keinen Schutzkreis ziehen.«
»Ich auch nicht. Dann müssen wir wohl hoffen, dass zwei Sensitive ausreichen, um gegen Hellhörer anzukommen.«
»Ich weiß nicht. Friar hat sich sehr für Sie interessiert. Wenn Rule hier wäre …« Doch er würde sehr bald hier sein. Das Gefühl, dass sich etwas in ihr dehnte, war verschwunden. Er war ganz in der Nähe. »Nun, hören ist nicht sehen, nicht wahr? Wir müssen einfach Friars Schwächen nutzen.« Lily stand auf, legte den Kristall auf den Linoleumboden und zog ihre Waffe.
Fagin fuhr hoch. »Ich denke nicht, dass das –«
»Ich habe nicht vor, darauf zu schießen«, sagte sie amüsiert. Sie kniete sich hin, packte die Waffe beim Lauf und schlug mit dem Griff auf den Kristall. Als er barst, spürte sie die Welle von Magie, die er abgab. Sie stand auf und steckte die Waffe zurück ins Holster. »Das fühlte sich ein wenig schwächer an als bei Rubens Kristall. Wie lange haben wir?«
»Ich bin mir nicht sicher. Vielleicht dreißig Minuten. Vielleicht weniger.«
»Dann beeilen wir uns.« Lily zog ihr Notizbuch aus der Handtasche und gab es Fagin zusammen mit einem Stift. »Schreiben Sie alles auf, was vertraulich ist. Zuerst möchte ich wissen, wie Sie die Übersetzung, an der Cullens interessiert ist, gespeichert und wo sie Sie hinterlegt haben.«
Bankschließfach, schrieb Fagin. USB-Stick. Er schrieb den Namen der Bank auf, die Filiale und drei Zahlen. »Ich fürchte, ich kann mich nicht an die ganze Nummer erinnern, und natürlich ist der« – er hielt inne und schrieb Schlüssel – »im Moment nicht verfügbar.«
Weil der Elementargeist sie nicht daranlassen würde. Aber wenn Deborah es schaffte, ins Haus zu gelangen, würde sie ihn für sie holen können. »Dafür wüsste ich vielleicht eine Lösung. Wo ist er?«
Fagin schrieb oberste Schreibtischschublade. »Wie?«
»Dazu kommen wir gleich.« Der Schlüssel allein reichte nicht, wenn Fagin nicht selbst hingehen konnte. Lily nahm das Notizbuch und schrieb beschränkte Handlungsvollmacht. »Wenn Sie einverstanden sind«, sagte sie laut. »Damit müsste es klappen. Ich kann mich darum kümmern. Würden Sie sie auf Cullen ausstellen?«
»Er kann doch unmöglich jetzt schon wieder mobil sein.«
»Er ist noch nicht wieder ganz geheilt, aber mobil.«
Fagin seufzte. »Wie beneidenswert. Es wird Wochen dauern, bis ich wieder auf den Beinen bin, dabei sind meine Verbrennungen nicht so schwer wie seine. Ja, ich bin einverstanden mit ihm. Was können Sie mir über Ruben sagen?«
»Er ist mit …« Sie zögerte und beendete dann den Satz, indem sie Isen schrieb. Sie sah Samuel an. »Wenn ich dich bitte, nicht über das zu sprechen oder zu schreiben, was in diesem Raum gesagt wird, außer mit deinem Rho, würdest du es mir versprechen?«
Er nickte. »Rule sagte, ich solle dir gehorchen, es sei denn, es widerspräche einer seiner Anweisungen.«
»Gut. Sprich außer mit Rule mit niemandem über das, was Fagin und ich hier sagen oder schreiben.« Sie schrieb in das Notizbuch: Ruben ist jetzt ein Lupus und der Rho des Wythe-Clans und hielt es so hoch, dass Fagin und Samuel es lesen konnten.
»Was? Aber das … das … kann doch nicht möglich sein!«
»Ich kann Ihnen nicht sagen, wie es passiert ist, aber Sie wissen, dass die Lupi eine Große Alte auf ihrer Seite haben. Sie hatte ihre Finger dabei im Spiel.«
»Gütiger Himmel.«
»Ich wusste es«, hauchte Samuel. »Ich wusste, dass die Dame alles in Ordnung bringen würde.«
Auf einmal neugierig, fragte sie Samuel: »Glaubst du – äh, dass sie ihn akzeptieren werden?«
»Selbstverständlich! Ich meine, er hat« – er warf Fagin einen Blick zu – »jetzt die notwendige Autorität.«
Mit Autorität meinte er die Clanmacht. Das Ding, das sie endlich losgeworden war. Das Ding, das dafür gesorgt hätte, dass sie frei hätten sprechen können, ohne sich Sorgen darüber machen zu müssen, ob Friar sie belauschte.
»Aber wo ist er jetzt?«, sagte Fagin. »Ist er in der Lage …« Er machte eine Geste, und sie gab ihm das Notizbuch zurück. Er schrieb Schatteneinheit. »Es gibt Kommunikationswege. Es ist nicht gut, wenn er gar nicht erreichbar ist.«
»Die Situation ist zu kompliziert, um alles aufzuschreiben. Aber gehen Sie davon aus, dass er für einige Zeit nicht erreichbar sein wird. Doch er hat einen zweiten Mann.« Sie fixierte ihn mit festem Blick.
Fagin spreizte die Hände. »Wenn Sie glauben, dass ich dieser Mann bin, muss ich Sie enttäuschen. Ich berate nur. Ich gehöre nicht zum Management.«
»Ich dachte, Sie wüssten, wer es ist.«
Er schüttelte den Kopf. »Das weiß ich nicht. Die, äh … Kommunikationsabteilung wird es wissen, aber bisher habe ich nichts von ihnen gehört.«
Um Lilys Mundwinkel zuckte es. Sie fragte sich, wie Mika es finden würde, dass er zur »Kommunikationsabteilung« gehörte. »Dann müssen wir wohl diese Abteilung kontaktieren? Denn ich will mitmachen, und ich muss wissen, mit welchen Ressourcen ich rechnen kann. Ich muss wissen, an wen ich mich wenden kann, wer –«
»Es tut mir leid. Wir nennen keine Namen, nicht ohne die notwendige Autorisierung. Ich kann Ihnen nicht helfen.«
Lily blickte zur Zimmertür. Ihr Herz machte einen kleinen Satz, doch sie verspürte keinerlei Überraschung, als sie sich öffnete.
»Aber ich«, sagte Rule.