20
Das graue Kraushaar umgab das Gesicht der Frau wie ein wirrer Heiligenschein. Ihre kleinen Augen guckten misstrauisch, ihre Haut war zerschrammt und verschlissen wie ein alter Koffer. Sie roch nach Babypuder, Schweiß und dem Hühnchengericht, das sie sich zwischen die kleinen gespitzten Lippen mit der gezierten Gier einer Katze stopfte, die Thunfisch vorgesetzt bekommen hatte. Ihre Hände waren klein und makellos sauber, selbst unter den rissigen Nägeln, die sie sich, vermutete er, mit den Zähnen kürzte.
Nach Alkohol roch sie nicht, anders als der Mann zu Rules Rechten, der Dünste von sich gab, die jedem in einem Umkreis von neun Metern den Appetit verschlagen mussten. »Aber ich glaube, Sie kennen Birdie«, sagte Rule. Er nannte seine Gesprächspartnerin nicht beim Namen, weil er ihn nicht kannte. Sie hatte sich geweigert, ihn ihm zu nennen.
»Jeder kennt Birdie«, sagte sie, ohne aufzusehen. »Ich habe ihn schon länger nicht mehr gesehen, aber das bedeutet nicht, dass er nicht hier irgendwo ist.«
»Wie lange, glauben Sie, ist es her, seit Sie ihn das letzte Mal gesehen haben?«
»Na ja, mal schauen.« Sie hörte auf zu essen und klopfte demonstrativ auf ihre Taschen. »Huch, ich glaube, ich habe mein PDA verloren, in dem ich mir so was Wichtiges wie das notiere.«
Rule wusste nicht, warum er nicht einfach aufgab und sein Glück bei jemand anderem versuchte. Sie wollte nicht mit ihm sprechen, und er konnte sie nicht dazu zwingen. Doch es machte ihr Spaß, ihn zu piesacken. Warum sollte er ihr da nicht noch ein paar Minuten gönnen? »Es ist nicht leicht, zu wissen, wem man trauen kann, nicht wahr?«
Sie schnaubte. »Doch, ganz leicht. Traue niemandem. Kenne ich Sie von irgendwoher?«
»Ich bin manchmal im Fernsehen. Ich bin der Lu Nuncio meines Clans.«
»Ihres … Scheiße, Sie sind dieser Prinz. Der Werwolf.« Ihre Augen wurden noch schmaler. Sie zeigte mit der Gabel auf ihn. »Sie sind eine Berüüüühmheit«, rief sie affektiert.
Rule grinste. Er begann, sie zu mögen. »Irgendwie schon, ja.«
»Wie kommt es, dass Sie ohne Kameras hier sind? Wenn Ihr Berüüüühmtheiten herkommt, um die Obdachlosen zu füttern, ist doch immer eine Kamera in der Nähe. Marianne sagt, das ist gute Publicity. Bringt Spenden ein. Ich sage, es nervt.«
»Aber ich bin nicht hier, um die Obdachlosen zu füttern. Ich suche nach Birdie.«
»Er ist nicht hier.«
»Das stimmt. Gibt es noch jemanden, der sich normalerweise hier aufhält und den Sie in letzter Zeit nicht gesehen haben?«
»Tom Cruise. Der Mann steht total auf das Hühnchen mit Nudeln. Keine Ahnung, warum er schon so lange nicht mehr gekommen ist.«
»Vielleicht macht er eine Diät. Wir Berühmtheiten müssen auf unsere Figur achten.«
»Ha!« Bestens gelaunt schlug sie mit der flachen Hand auf den Tisch. »So wird’s sein. Sie achten auf Ihre Figur, was? Warum wollen Sie das alles überhaupt wissen?«
Er ließ den Blick durch den lärmerfüllten Raum wandern. Jetzt war es nicht mehr ganz so voll. Die Schlange der Wartenden hatte sich aufgelöst, eine kürzere stand jetzt vor den Mülleimern. Die Gäste wurden aufgefordert, ihre Cafeteria-Tabletts dorthinein zu leeren, bevor sie sie zurückbrachten.
Lily sprach mit einem großen Mann in einer fleckigen weißen Schürze – einer der Servierer. Sie hatte Rule eingeschärft, nicht zu verraten, warum sie hier waren. Einige dieser Leute hatten nicht alle Tassen im Schrank, und sie alle führten eine unsichere Existenz. Da wäre es sicher nicht angeraten, ihnen zu eröffnen, dass Obdachlose entführt und getötet würden, um magische Energie zu gewinnen. »Das darf ich Ihnen nicht sagen«, sagte er schließlich.
Ihr Mund verzog sich verächtlich. »Aber ich soll Ihnen alles sagen, was Sie wissen wollen?«
»Eigentlich haben Sie keinen Grund dazu«, gab er zu. »Ich bin vielleicht nicht wegen eines Fototermins hier, aber ich will etwas von Ihnen. Was kümmert es Sie, was ich will?«
Sie steckte sich eine Gabel mit dem Hühnchen und Was-auch-immer in den Mund und kaute eine Weile schweigend. »Sie ist ein Cop. Diese Frau, mit der Sie gekommen sind.«
»Ja. Bundespolizei, nicht von der örtlichen.«
»Warum sucht sie Birdie?«
»Sie glaubt, es könnte ihm etwas zugestoßen sein.«
»Und ich soll Ihnen glauben, dass irgendso’n Superbundescop sich dafür interessiert, wie es Birdie geht?«
»Ja.« Rule betrachtete die namenlose, nach Babypuder riechende Frau, der das Leben sehr viel über das Überleben und sehr wenig über Vertrauen beigebracht hatte. »Sie haben keinen Grund, mir zu glauben, aber ich weiß, dass es wahr ist. Es liegt ihr am Herzen, was mit Birdie passiert ist.«
»Hmpf.« Der Laut war verächtlich, doch nach einem weiteren Bissen legte die Frau ihre Gabel hin. »Sie warten hier. Ich bring meinen Teller zurück, dann erzähle ich es Ihnen vielleicht.« Sie stemmte sich auf die Beine hoch.
Rule wartete. Warum nicht? Während sie fort war, stand der übel riechende Mann zu seiner Rechten auf und ging. Als die Frau, die ihren Namen nicht sagen wollte, zurückkam, waren sie allein an diesem Ende des Tisches.
»Wir steh’n lieber auf. Sie ham nichts dagegen, wenn man’n bisschen quatscht, aber wenn wir fertig mit essen sind, soll’n wir hier nich’ kampieren.«
Er schob den Klappstuhl zurück und stand auf.
Sie war kleiner als gedacht und hatte breite Schultern und breite Hüften, und das dunkelgrüne T-Shirt spannte sich über ihren schweren Brüsten. Das Flanellhemd, das sie darüber trug, war aus dickem Stoff und an den Manschetten ausgefranst. Die Knöpfe befanden sich rechts – ein Männerhemd. Und auch ihre Jeans war vielleicht ursprünglich für einen Mann gedacht gewesen. Sie war an den Knöcheln mehrmals umgeschlagen und nicht sehr sauber. Ihre zierlichen Füße steckten in ausgelatschten Sportschuhen, die kleiner waren als die, die Rule kürzlich seinem zehnjährigen Sohn gekauft hatte.
Er überlegte, wie er ihr neue Schuhe und ein Dutzend Paar neuer Socken zukommen lassen könnte. Obdachlose mussten auf ihre Füße achten, das wusste er. Wenn man auf der Straße lebt, ist es eine der größten Herausforderungen, seine Sachen sauber zu halten, doch Socken können im Becken einer öffentlichen Toilette gewaschen werden. Und vielleicht eine Creme für die Hände, die sie so sorgfältig pflegte? Einen Nagelknipser – nein, eine kleine Schere wäre besser, die könnte sie noch für andere Dinge nutzen. Oder sogar ein Schweizer Armeemesser.
Sie legte den Kopf zurück und fixierte ihn mit angriffslustigem Blick. »Ich werd’s Ihnen sagen. Sie werden’s mir nich glauben, aber ich sag Ihnen, was mit Birdie passiert ist. Die Außerirdischen haben ihn geholt.«
»Hmm.«
»Glauben Sie wohl nich, oder? Sie denken, ich bin nur ’ne verrückte Alte.«
»Ich glaube, Sie haben etwas beobachtet. Haben Sie gesehen, wie die Außerirdischen Birdie geholt haben?«
»Nee! Aber ich habe gesehen, wie sie sich die arme Meggie geschnappt haben, und jetzt ist Birdie verschwunden, deswegen weiß ich, was mit Birdie passiert ist.«
»Erzählen Sie mir, was Sie gesehen haben.«
»Meggie versucht immer, einen Platz im Heim zu bekommen, aber sie trinkt so viel, dass sie nich mehr weiß, wie viel Uhr es ist, deswegen kommt sie oft zu spät. Als sie an dem Abend ankam, waren schon alle Plätze belegt. Da kam sie zu mir und hat rumgeheult, ich sollte sie nur dieses eine Mal bei mir schlafen lassen. Das sagt sie immer – ›nur dieses eine Mal‹. Aber ich mag meine Privatsphäre, versteh’n Sie? Ich teile meinen Platz mit niemandem. Ich will nich, dass jemand erfährt, wo er ist, aber Meggie … Na ja, als es einmal richtig kalt war, hab ich den Fehler gemacht und hab sie mitgenommen. Aber an dem Abend war es nich so kalt, und sie stank, deshalb habe ich ihr gesagt, sie soll abhau’n.« Sie guckte finster. »Ich wusste nich, was passieren würde, oder?«
»Natürlich nicht. Und Sie haben ein Recht auf Ihre Privatsphäre.«
»Genau.« Das sagte sie mit Nachdruck. »Ich sag ihr also, sie soll abhau’n, was sie auch nach ’ner Weile tut. Also, mein Platz …« Sie warf ihm einen misstrauischen Blick zu. »Ich sag Ihnen nich, wo er ist, aber er ist ganz in der Nähe der Straße, deswegen hab ich gehört, wie sie mit jemandem gesprochen hat. Ich wollte wissen, wer das war, weil Meggie so ängstlich ist, dass sie nich mal mit einem Schatten sprechen würde, wenn sie ihn nich kennt. Vor allem einem männlichen Schatten. Also dachte ich, es wäre jemand, den ich kenn, und ich wollte ja nich, dass sie ihm sagt, wo mein Platz ist, deswegen bin ich hingegangen, um nachzusehen.«
»Sie haben gesehen, wie sie entführt wurde?«
»Ein großer alter schwarzer Wagen. Keine fliegende Untertasse oder so was Ähnliches. Sie sind mit ’nem großen alten schwarzen Wagen gekommen, richtig schick. Und Meggie … sie stand einfach da.« Einen Moment lang starrte die Erzählerin ins Leere, ihre Gesichtszüge hingen schlaff herunter, in ihren Augen lag eine Spur von echtem Entsetzen. »Etwas stimmte nich mit ihr. Ich hab ihr Gesicht gesehen, und etwas stimmte nich mit ihr. Wahrscheinlich haben sie sie hypnotisiert. Der, der aus dem Wagen ausgestiegen ist, hat sie am Arm genommen und gesagt, sie soll mitkommen. Das hat sie auch gemacht. Sie hat einfach getan, was er gesagt hat.« Sie schauderte. »Deswegen wusste ich, dass sie Außerirdische waren. Sonst wäre Meggie niemals einfach so bei jemandem eingestiegen. Vor allem nich bei einem Mann.«
»Dann sahen sie nicht aus wie Außerirdische?«
»Ich hab nur den einen gesehen. Der andere saß am Steuer, oder vielleicht waren da auch noch mehr im Wagen. Das konnt ich nich’ sehen. Aber der, der sah ganz normal aus.«
»Er hat sich getarnt.«
»Genau!« Seine Vermutung löste wildes Nicken aus. »Genau so war’s! Diese Aliens können ja wahrscheinlich sein, wer sie wollen. Aber Sie sind ein Werwolf. In einen Werwolf können sie sich doch nich verwandeln.«
»Ich glaube nicht, nein. Der, den Sie gesehen haben … war er dick oder dünn oder so mittel?«
»Eher dünn, glaub ich. Gut angezogen, aber nich schick. Kein Anzug oder so.« Nachdenklich kniff sie die Augen zusammen. »Aber keine Jeans. Bürohosen.«
»Dunkle Haut? Blass?«
»Oh, er war weiß.«
Weitere Fragen brachten ans Licht, dass der Außerirdische, der Meggie entführt hatte, weder »richtig alt noch richtig jung« war. Er hatte dunkles kurzes Haar gehabt und weder Brille noch Bart getragen. Er war sehr viel größer als die »arme Meggie« gewesen, aber Meggie war so ein zartes Ding, dass das nicht viel zu bedeuten hatte. Vielleicht eins achtzig?
Die Entführung durch die Außerirdischen war vor drei Wochen geschehen, und seitdem hatte sie Meggie nicht mehr gesehen. Sie wusste nicht, wie viel Uhr es gewesen war, als die Männer in dem schwarzen Wagen gekommen waren, aber es war schon »seit ein paar zig Stunden« dunkel gewesen. Sie hatte keine Ahnung, was das Auto für eine Marke oder ein Modell gewesen war. Sie weigerte sich, mit Lily zu sprechen – »kann ja sein, dass sie keine Außerirdische ist, aber woher soll ich das wissen?« –, und sie wollte ihm weiterhin nicht ihren Namen sagen. Als er sie erneut danach fragte, machte sie einen Schritt zurück. »Ich muss jetzt gehen.«.
»Na gut. Ich möchte Sie gerne für Ihre Zeit bezahlen.«
»Ach ja? Tja, mein Honorar ist hundert die Stunde.«
Seine Mundwinkel hoben sich. »Ich glaube, wir haben weniger als eine Stunde gesprochen.« Er stellte sich so, dass er sie beide vor neugierigen Blicken abschirmte, bevor er seine Brieftasche aus der Hosentasche zog. Einige der Gäste würden wohl kaum zögern, eine alte Frau auszurauben. Er nahm drei Zwanziger heraus – und seine Visitenkarte. Eine, auf der seine Handynummer stand. »Rufen Sie mich an, wenn Sie einen von beiden wiedersehen?«
»Vielleicht.«
»Ich bin froh, dass Sie so vorsichtig sind. Erzählen Sie niemandem von diesen Männern. Die, äh, nur so aussehen wie Männer. Sie wollen doch nicht, dass die erfahren, dass Sie sie gesehen haben.«
Sie steckte die Scheine in die Tasche ihrer Jeans und warf ihm ein schlaues Lächeln zu. »Wen gesehen habe?«
Wahrscheinlich würde er herausfinden können, auf welchen Namen sie hörte, dachte er, als er sich durch den Raum zu Lily schlängelte, die ihre Gespräche mit den Servierern beendet hatte und jetzt mit einem zerknitterten alten Mann in einem unglaublich grellblauen Pullover sprach. Irgendjemand hier wusste es bestimmt. Doch er war sich nicht sicher, ob er das überhaupt wollte. Sie legte Wert auf ihre Privatsphäre, und wer war er, um sie ihr streitig zu machen?
Lily würde das vermutlich anders sehen. Wahrscheinlich. Wenn …
Sein Handy ließ einen Trommelwirbel hören. Das war Cullen. Es wurde auch Zeit. Er wollte seinen Wagen zurück. Rule zog das Handy vom Gürtel. »Ja?«
Cullens Stimme war schwach, angestrengt, gehetzt. »Komm schnell her. 1125 West Brewster. Ich bin verletzt. Und Fagin auch.«
Lily würde es ewig ein Rätsel bleiben, warum sie auf ihrer rasanten Fahrt nicht angehalten wurden. Richtig wäre es gewesen. Rules Reflexe waren zwar so gut, dass er schneller als jeder Mensch und trotzdem sicher fahren konnte, aber auch das hatte seine Grenzen.
Es war eine Bombe gewesen. Eine Brandbombe, laut Cullen – kein lauter Knall, große Hitzeentwicklung. Er hatte sich geweigert, am Telefon zu bleiben und war nicht mehr drangegangen, als Rule versucht hatte, ihn zurückzurufen. »Er braucht seinen Lu Nuncio«, hatte Rule gesagt, als der Wagen um eine Kurve schlitterte.
»Hat er dir das gesagt?«
»Nicht mit Worten, aber ich konnte es hören.«
Wenn Cullen seinen Lu Nuncio brauchte, bedeutete das, dass er so schwer verletzt war, dass er Gefahr lief, seine Selbstbeherrschung zu verlieren – was schlecht für ihn und für jeden wäre, der versuchte, ihm zu helfen. Cullen hatte eine exzellente Selbstbeherrschung, besser als die der meisten Lupi – eine Selbstbeherrschung, die in dem grausamen Glühofen seines Lebens als einsamer Wolf geschmiedet worden war.
Deshalb drückte Rule so aufs Gas. Auf halbem Wege erreichte Lily ein Anruf von Cynna, die eine SMS von Cullen bekommen hatte, in der stand, sie solle sich keine Sorgen machen, er sei nicht schwer verletzt worden. Dass das nicht den gewünschten Effekt hatte, war wenig erstaunlich, vor allem, weil er nicht ans Telefon ging, als sie ihn anrief. Also versicherte ihr Lily, während der Wagen weiter um die Kurven schleuderte, dass sie bisher auch nicht mehr wussten. Als sie schließlich mit quietschenden Reifen einen Block entfernt von 1125 West Brewster zum Stehen kamen, waren sowohl ihre Lippen als auch ihre Fingerknöchel weiß.
Trotz Rules Bleifuß war der Notfallwagen vor ihnen eingetroffen. Zumindest der erste. Ein zweiter Rettungswagen heulte heran, als Rule die Autotür zuschlug.
Sie rannten los – sie, Rule und Scott. Die meisten Häuser dieser Gegend waren zweigeschossig. Lily behielt die Dächer im Auge. Falls es jemand auf Rule oder sie abgesehen hatte, gab es viele geeignete Stellen, von denen aus sie ins Visier genommen werden konnten. Als sie schließlich das Knäuel der Streifenwagen, das die Straße blockierte, erreichten, hämmerte ihr Herz, als wäre sie zwei Kilometer gerannt.
Von hier aus konnte sie das Haus nicht sehen. Ein Löschfahrzeug blockierte ihre Sicht. Doch es war kein Rauch festzustellen. Ein gutes Zeichen.
Lily hielt einem der Polizeiposten ihre Marke unter die Nase. »Die gehören zu mir«, sagte sie ihm, als er Rule und Scott misstrauisch beäugte. »Sie werden gebraucht. Wo ist der – nein, ich sehe ihn. Captain!«, rief sie und lief weiter.
Der Rang war nur geraten. Von hinten sah sie lediglich, dass der Helm des Feuerwehrmanns schwarz war. Und das bedeutete, er war ein Officer. Als er sich umdrehte, erkannte sie, dass sie richtig vermutet hatte. Auf seinem Helm prangten die zwei Hörner, das Zeichen eines Captains.
Er war ein Mann mit groben Gesichtszügen. Hispanisch, in Größe und Alter ungefähr zwischen ihr und Rule anzusiedeln. Und er sah nicht zufrieden aus. »Was zur Hölle machen – Moment mal«, sagte er, und sein Blick kletterte höher und richtete sich auf den Mann rechts von Lily. »Sie sind Rule Turner. Sind Sie Rule Turner?«
»Der bin ich.«
»Er fragt dauernd nach Ihnen, und bei Gott, ich rate Ihnen, ihm zu sagen, er soll mit seinen Tricks aufhören, damit wir mit dem Wasser loslegen können. Kommen Sie.« Er drehte sich um und marschierte zu der hohen stupsnasigen Motorhaube des Löschfahrzeugs.
Lily und Rule tauschten einen schnellen erschrockenen Blick und beeilten sich, zu ihm aufzuschließen. »Captain«, sagte Rule, »reden Sie von Cullen Seabourne? Lässt er nicht zu, dass Ihre Männer das Feuer löschen?«
»Er sagt, er werde sich selbst um das Feuer kümmern, wir sollen verschwinden. Das andere Opfer hat er auf die Veranda gelegt. Auf die verdammte Veranda, als wären wir von FedEx und sollten ein Paket abholen. Er hat zugelassen, dass die Sanitäter den Mann versorgten, aber –«
»Das andere Opfer?«, sagte Lily schnell. »Dr. Xavier Fagin? Ist er –«
»Er hat Schmerzen«, sagte eine schwache, aber vertraute Stimme auf der anderen Seite des Löschfahrzeugs. »Starke Schmerzen, aber das ist« – daraufhin folgte ein langer keuchender Atemzug – »ermutigend, denn es bedeutet, dass die Nervenenden nicht zerstört wurden. Ich – nein, nein, das will ich nicht. Ich will Medikamente. Starke Medikamente.«
Eine weibliche Stimme sagte steif: »In der Notaufnahme kann man Ihnen welche geben, Sir, aber jetzt brauchen Sie Sauerstoff.«
Lily ging um die Haube des Löschfahrzeugs herum und sah Fagin. Aufrecht sitzend lehnte er an der Haustür und schlug hustend nach der Sanitäterin, die versuchte, ihm die Sauerstoffmaske aufzusetzen. Ein zweiter Sanitäter rückte eine Rollbahre zurecht.
Cullen entdeckte sie ebenfalls. Auf dem Dach.
Die Hausfront war zwar arg mitgenommen, aber sie stand noch. Die Veranda war schwarz verkohlt. Das Erkerfenster war zerbrochen, doch die Scheiben auf der anderen Seite der Tür waren noch intakt. Auch das Dach sah aus, als sei es unbeschädigt – was auch gut so war, denn dort saß Cullen und ließ die Füße über den Rand baumeln. Die Beine seiner Jeans waren bis auf halbe Höhe der Waden verbrannt. Der untere Teil der Waden und seine Füße waren schwarz und nässten. Er schwankte hin und her, als würde starker Wind herrschen.
Zwei Feuerwehrmänner standen beiderseits des Löschfahrzeugs und betrachteten mit finsterer Miene den schwankenden Mann auf dem Dach. Es sah aus, als hätten sie angefangen, einen Schlauch zu entrollen, wären aber nicht sehr weit damit gekommen.
Schnell wechselte Lily einen Blick mit Rule. »Ich übernehme Fagin.«
»Ich kümmere mich um Cullen. Scott, Ruf Cynna an. Halte sie auf dem Laufenden.«
Sie trennten sich – Scott blieb zurück, Rule blieb kurz vor der Veranda stehen, und Lily eilte die Stufen hinauf.
»Lily.« Fagins Lächeln war nur ein schwacher Abklatsch seines üblichen freundlichen Strahlens. »Meine Füße sind übel mitgenommen, aber …« Ein weiterer kurzer Hustenanfall folgte. »Mein neuer bester Freund hat dafür gesorgt, dass es nicht schlimmer ist. Er hat mich auf den Boden hinter dem Schreibtisch geworfen und meinen Körper mit seinem geschützt. Aber meine Füße tun weh für zwei.«
»Dann lassen Sie sich diese Maske aufsetzen und in die Notaufnahme bringen«, sagte sie bestimmt.
»Ich muss nicht –«
»Wenn Sie so schneller an Schmerzmittel kommen, warum wehren Sie sich dann?«
»Ah. Hmm.«
Hinter ihr sagte Rule: »Wie schlimm bist du verletzt?«
Cullens Stimme war deutlich zu hören, auch wenn er etwas schleppend und kurzatmig sprach. »Sag Ihnen, sie –«
»Cullen«, wiederholte Rule in einem anderen Ton, »wie schlimm bist du verletzt?«
Es folgte eine Sekunde Stille, dann: »Füße, Knöchel, untere Waden. Das wären dann ungefähr neun Prozent meines Körpers, also nicht so schlimm. Dritter Grad an den Füßen. Ich spüre sie nicht. Ich habe ein bisschen von dem Rauch eingeatmet, aber davon merke ich nichts mehr.«
Lily hörte Scotts Stimme, der das alles leise an Cynna weitergab.
»Nun gut«, sagt Rule. »Warum bist du nicht ans Telefon gegangen?«
»Der Akku ist leer. Du musst sie davon abhalten.«
»Wen von was abhalten?«
»Kein Wasser. Wasser zerstört Bücher. Und der Elementargeist mag es nicht. Feuer stört ihn nicht, aber er hasst Wasser. Darum hat er – du da, bleib ja zurück.« Er drohte mit dem Finger.
Lily folgte dem Finger mit ihren Augen und sah gerade noch, wie ein dünner Streifen Feuer auf dem Boden vor dem Captain tanzte. Der Mann machte einen Schritt zurück. Hastig.
»Wenn Sie nicht damit aufhören, werden wir Sie notgedrungen da runterschießen müssen«, grollte der Captain. »Sie haben schon genug Ärger am Hals. Sie sind verletzt. Lassen Sie sich von uns herunterhelfen.«
»Nein.«
Die Sanitäter luden Fagin auf die Bahre. Er keuchte und grummelte, als er bewegt wurde, schien aber nicht unter Schock zu stehen. Lily trat von der Veranda herunter, sodass sie Cullen jetzt sehen konnte, der mit den schwarz verkohlten Füßen baumelte und zornig auf Rule heruntersah. »Keine Feuerwehrleute«, sagte er. »Kein Wasser.«
Rule sagte: »Hast du das Feuer gelöscht?«
»Fagins Elementargeist ist nicht schnell genug. Ein Erdgeist, verstehst du? Nicht schnell. Also habe ich’s gemacht.«
»Und du bist sicher, dass es keine Glut mehr gibt, nicht noch irgendwo etwas schwelt?«
Cullen machte aus seiner Verachtung keinen Hehl. »Natürlich bin ich sicher. Es handelt sich immerhin um Fagins Bibliothek. Die Scheißkerle haben eine Brandbombe in seine verdammte Bibliothek geworfen. Ist verdammt viel unersetzliches Zeug in Fagins Bibliothek.« Mit finsterer Miene sann er über die Unerhörtheit dieses Deliktes nach und fügte dann hinzu, als sei es ihm gerade eingefallen: »Und da ist noch der Elementargeist. Der mag kein Wasser. Könnte jemanden verletzen. Kann nicht zulassen, dass er jemanden verletzt, oder?«
Fagin – der sich schließlich doch die Sauerstoffmaske hatte anlegen lassen und nun zum nächsten Rettungswagen geschoben wurde – zog sich die Maske wieder herunter. »Das Haus wird nicht mit Wasser bespritzt«, befahl er und fing erneut an zu husten.
Lily blickte zu ihm zurück. »Ich sorge dafür. Behalten Sie Ihre Sauerstoffmaske auf und seien Sie brav.« Sie zückte noch einmal ihren Ausweis. »Captain, kann ich Sie kurz unter vier Augen sprechen?«
Es half, dass der Captain im Grunde ein vernünftiger Mann war. Natürlich war er wütend auf Cullen, doch als Lily ihm erklärte, wer Fagin war und dass sich in seiner Bibliothek möglicherweise Dokumente befanden, die entscheidend für die nationale Sicherheit waren, war er geneigt, ihr zuzuhören. Als sie ihm sagte, dass Cullen eine Feuergabe hatte und durchaus in der Lage war, sehr viel größere Feuer zu löschen als dieses, schnaubte er zwar, aber er hörte ihr weiter zu.
Noch mehr Eindruck machte es allerdings, als der Elementargeist sich einschaltete.
Sie sprach gerade mit dem Captain, als sie es spürte – eine Vibration an ihren Fußsohlen. Sie packte den Mann am Arm. »Was zur –«
»Was zum Henker –«
Der Rest seines Ausrufs verlor sich in dem plötzlichen Laut eines dumpfen Kanonenschusses. Der Gehsteig neben der Straße beulte sich aus. »Was zur Hölle?« Er funkelte Cullen böse an. »Jetzt habe ich aber genug. Officer –«
Cullen spähte zu ihnen hinunter. »Das war ich nicht. Das war der Elementargeist … vielleicht sollten Sie Ihre Männer zurückziehen. Und den Löschwagen wegfahren.«
Die Erde entlang der Straße begann, Falten zu werfen; Klumpen aus Beton und Sand schoben sich so eng zusammen, als wollten sie die Schwerkraft herausfordern. Schreiend stolperten die Feuerwehrmänner zurück.
»Zeigt sich das Ding jetzt?«, fragte Rule scharf.
»Ich glaube nicht«, sagte Cullen, der mit müden Augen das langsame Wogen der Erde beobachtete. »Aber du solltest lieber auf die Veranda gehen. Da dürfte dir eigentlich nichts passieren. Er hat versprochen, das Haus zu beschützen. Und die Veranda gehört zum Haus.«
Rule packte Lilys Hand, und die beiden hasteten die Stufen hinauf. Eine Sekunde später landete Scott mit einem Satz neben ihnen.
»Cullen«, rief Rule, »was tut er jetzt?«
Cullens Stimme kam von oben, vermischt mit dem dumpfen Mahlen der Erde, als sich langsam eine Wand um Fagins Grundstück erhob. »Bin mir nicht sicher. Aber in einem habe ich mich geirrt.«
»Und das wäre?«
»Es ist kein kleiner Elementargeist.«