21

Das Problem mit Erdgeistern ist, dass sie alles wörtlich nehmen.

Eine mit einem Schutzbann belegte Wand aus Erde und Stein, Beton und Gras, Ästen und Brettern des Zauns, der eben noch Fagins Garten von dem seines Nachbarn getrennt hatte, umzog nun das Grundstück grob geschätzt ein Meter fünfzig dick und zwei Meter achtzig hoch. Der Bann lief oben auf der Mauer entlang, hatte Cullen gesagt. Ein Bann, wie er ihn noch nicht gesehen habe.

Die gute Nachricht war, dass sie sich keine Sorgen mehr darum machen mussten, dass die Feuerwehr den Schaden an Fagins Bibliothek mit Wasser noch vergrößern würde. Und um weitere Angriffe auch nicht. Diese Grundstücksgrenze konnte nichts und niemand überschreiten.

Das war aber auch zugleich die schlechte Nachricht. Denn Cullen war sich ziemlich sicher, dass der Schutzbann zu beiden Seiten hin wirkte Dinge nicht hineinließ, aber auch nichts hinausließ. Das hatte er gesagt, als Rule ihn vom Dach geholt hatte kurz bevor er das Bewusstsein verloren hatte.

»Die Rhej erwartet uns im Memorial in Bethesda«, sagte Rule und steckte sein Handy weg. »Sobald wir hier loskönnen.«

»Bethesda? Du machst Witze. Es gibt doch sicher Krankenhäuser, die näher liegen.«

»Die sich aber alle nicht in der Lage sehen, einen Lupus-Patienten zu behandeln.«

»Arschlöcher.« Lily lehnte den Kopf an einen dicken Pfeiler, der das Dach über der Veranda hielt, und schloss die Augen.

Die Luft war still und drückend und roch nach Verbranntem: Asche und Rauch und einem Hauch von etwas Scharfem, Chemischem, vermischt mit dem Geruch nach angesengtem Fleisch, den Cullens Brandwunden ausströmten. Die Temperatur war so weit gesunken, dass sie froh um ihre Jacke war. Wolken verdüsterten den Himmel; sie hingen so tief, als wollten sie sich gleich in Regen auflösen: Nun regnete es schon beinahe drei Tage ununterbrochen. Wann hörte das wohl endlich auf?

Vor den Wolken schoss eine rot-weiße mechanische Libelle entlang. Lily konnte das Womp-Womp-Womp des Nachrichtenhelikopters hören, der näher kam und sich senkte. Sie widerstand dem Drang, den Reportern den Mittelfinger zu zeigen. Das hätte kein gutes Bild für die Sechs-Uhr-Nachrichten abgegeben.

Auf dieser Seite der Mauer waren sie vier: sie, Rule, Cullen und Scott, der sie übersprungen hatte, bevor sie zu hoch gewesen war, weil er seinen Rho nicht ohne Schutz hatte lassen wollen. Scott saß auf der untersten Stufe und betrachtete mit gerunzelter Stirn den Erdwall, der sie umschloss. Rule saß Lily gegenüber neben dem anderen Pfeiler. Cullen lag in einem Nest aus Decken und Kissen, die Scott im Haus gefunden hatte.

Sollten sie verdammt sein. Wer immer sie waren. Lily wusste es nicht und konnte noch nicht einmal Vermutungen anstellen. Friars Leute waren ihnen so viele Schritte voraus, dass ihr ganz schwindelig war. Sie war wütend, weil sie immer wieder die gleichen Fehler machte. Immer wieder kam sie zu spät, nie holte sie auf. Warum dieser Überfall auf Fagin? War Fagin ihr Ziel gewesen? Warum ausgerechnet eine Brandbombe?

Sie war einfach so verdammt müde. So, als hätte sie die Nacht durchgemacht oder wäre nach einer Fastenzeit mehrere Kilometer gelaufen. Ohne Reserven. »Was meintest du damit, als du Cullen fragtest, ob der Erdgeist sich jetzt zeigt?«, fragte sie Rule.

»Du weißt doch, dass jeder Typ von Elementargeist eine bevorzugte Gestalt hat, die er manchmal annimmt?«

»Ja, ich glaube schon. Salamander, Sylphen an die anderen beiden kann ich mich nicht erinnern.«

»Erdgeister zeigen sich als riesige Würmer oder Schlangen, wenn sie angreifen.«

»Oh.« Nur mit Mühe gelang es ihr, die Augen offen zu halten. »Dann sollten wir wohl froh sein, dass er sich nicht gezeigt hat.«

Sie warf einen Blick auf Cullen, doch er hatte sich nicht bewegt. Als sie Rule ansah, runzelte sie die Stirn. Seine Augen sahen merkwürdig aus.

»Alles okay bei dir?«, fragte er.

»Ich bin müde und sauer, aber mein Kopf tut nicht weh. Wie steht es mit dir?«

»Mit mir?« Seine Augenbrauen hoben sich. »Mir geht’s gut.«

Er klang, als ginge es ihm tatsächlich gut. Sein Körper wirkte locker und entspannt. Aber seine Augen sie waren zu schwarz, begriff sie mit einem Mal. Nicht viel anders als sonst. Wenn man nicht genau hinsah, würde man gar nicht bemerken, dass seine Pupillen sich ein wenig geweitet hatten, doch sie wusste es besser. Das Schwarz versuchte, die Iris einzunehmen, und breitete sich immer weiter aus.

Der Wandel. Das war es. Wenn Rules Augen langsam dunkler wurden, dann kämpfte er gegen den Wandel an. Aber warum? Sie waren doch jetzt nicht in Gefahr. Die Frage nach dem Warum war nicht so wichtig, wie etwas dagegen zu unternehmen. Sie stand auf, um sich neben ihn zu setzen. Sein Arm legte sich um sie, und sie lehnte sich an seine Schulter.

Wenn das auch für ihn ein so viel besseres Gefühl war als für sie »Morgen ist Vollmond«, sagte sie beiläufig.

»Ich bin in Ordnung, Lily.«

Als sie in seine Augen sah, waren sie wieder normal. Dann war er vielleicht wirklich in Ordnung. Jetzt. Doch ob das auch vor einer Minute so gewesen war, dessen war sie sich nicht sicher.

Im Moment hatte er buchstäblich die Hände voll ein Arm lag um Lily, die andere Hand auf Cullens Schulter. So könne er sich entspannen, hatte er gesagt. Lily fragte sich, ob entspannen das richtige Wort war, aber sie wusste, was Rule meinte. Der Kontakt ließ Cullen spüren, dass sein Lu Nuncio bei ihm war. Er musste nicht um Selbstbeherrschung kämpfen oder darum, bei Bewusstsein zu bleiben. Er war in Sicherheit und geborgen.

So wie sie auch solange sie nicht versuchten, den Wall zu überklettern. Glücklicherweise hatte Cullen ihnen gesagt, was sie tun sollten, bevor ihn die Bewusstlosigkeit übermannte. Ruft Sherry an. Nehmt ein wenig von Fagins Blut.

Sherry war auf dem Weg. Lily befand sich in der Warteschleife. Sie hatte ihr Handy auf Lautsprecher gestellt, um zu hören, wenn Croft zurückkam, und es auf ihren Schoß gelegt.

»Glaubst du, sie hatten es auf Fagin oder Cullen oder die Bibliothek abgesehen?«, fragte sie. »Cullen nimmt an, es sei die Bibliothek gewesen.«

»Schwer zu sagen, solange wir nicht wissen, warum Cullen hier war.«

»Stimmt.«

Rule fiel es nie schwer, den Wandel zu kontrollieren, wenn der Vollmond nahte. Selbst in der Nacht des Vollmonds, wenn das Lied des Mondes so rein und süß war, wie er sagte, dass selbst eine Bergquelle dagegen verschmutzt wirkte, konnte er sich dem Wandel verweigern, wenn es nötig war. Doch jetzt gelang es ihm nur mit Mühe, ihn zurückzuhalten, obwohl es noch einen Tag hin war. »Rule «

»Tut mir leid, dass es so lange gedauert hat«, sagte eine Stimme aus ihrem Schoß.

Es war Croft. Sie stellte den Lautsprecher des Handys aus. Was eigentlich unnötig war Rule konnte ohnehin beide Seiten der Unterhaltung hören. »Macht nichts. Hier bin ich.«

»Ich habe ein paar Leute zum Krankenhaus geschickt, damit sie Dr. Fagin bewachen. Einer von ihnen wird Ihnen das Fläschchen Blut bringen, vorausgesetzt, Fagin gibt seine Zustimmung dazu entweder Matthew Cates oder Royce Richards. Kennen Sie sie?«

»Richards kenne ich nicht. Cates ist « Sie versuchte, sich zu erinnern. »Ende zwanzig, struppiges Haar, leichte Charisma-Gabe?«

»Exakt. Richards ist Anfang fünfzig, braune Augen, schwarze Haare, Schnurrbart, kleine halbmondförmige Narbe am Kiefer. Ein Wicca mit einer Teleport-Gabe. Ida schickt Ihnen ihre Telefonnummern, damit Sie sie, wenn nötig, anrufen können.«

»Gibt es Neuigkeiten über Fagins Zustand?«

»Nur, dass er im Krankenhaus angekommen ist. Glauben Sie, Sherry kann Sie befreien, ohne dass Fagin anwesend ist?«

»Cullen glaubt es. Sherry ebenfalls. Sie weiß, welchen Deal Fagin mit dem Elementargeist abgemacht hat. Und sie weiß, wie man mit ihm in Verbindung tritt.«

»Dann braucht sie dafür wohl Fagins Blut.«

»Anscheinend.«

»Wie geht es Seabourne?«

Lily warf einen Blick auf das blasse Gesicht des Bewusstlosen, der ausgestreckt neben Rule lag. Rule hatte Cullens Füße mit den Kissen höher als seinen Kopf gelagert. Es kam zwar selten vor, dass ein Lupus einen Schock erlitt, doch dank dieser Vorsichtsmaßnahme würden seine Selbstheilungskräfte sich ganz auf die Brandwunden konzentrieren können. »Verbrennungen zweiten und dritten Grades auf neun Prozent des Körpers. Atmung flach, aber nicht angestrengt. Er hat Schmerzen, er braucht Flüssigkeit, aber er ist ein Lupus. Er wird schon wieder.«

»Gut. Sie haben die Sicherheitsstufe, um Beweismittel zu sammeln. Ida stellt gerade das Expertenteam zusammen, um das Sie gebeten haben.«

Beweismittel zu sammeln war nicht Lilys Job. Selbstverständlich war es Teil ihrer Ausbildung gewesen, aber es war die Aufgabe eines Streifenpolizisten, den Tatort zu sichern, nicht Zigarettenstummel aufzusammeln. Auch Mordkommissare und FBI-Agenten spielten nicht die Spurensicherung. Dafür gab es Spezialisten. Im Moment jedoch war Lily auf sich allein gestellt. Sie brauchte Hilfe, Rat, jemanden, der ihre Fragen beantwortete. »Danke.«

»In Kürze ruft Sie jemand deswegen an. Oh, es steht jemand bereit, der das, was Sie gefunden haben, in Empfang nimmt, wenn Sie gehen können. Vermutlich Hannah. Der Presseauflauf ist groß.«

Wie um diesen Punkt zu unterstreichen, ging der Nachrichten-Helikopter so tief, dass sie Gesichter und eine Kamera hinter der runden Scheibe erkennen konnte. Ohne Zweifel warteten noch sehr viel weitere der erdgebundenen Version der Presse auf der anderen Seite der Absperrung, die die Polizei auf der Straße errichtet hatte. »Sagen Sie ihnen, sie sollen mit ihrem verdammten Helikopter höher gehen. Wer weiß, was der Elementargeist mit ihnen macht, wenn er glaubt, dass sie ihn bedrohen.«

»Sie haben bereits eine Warnung erhalten. Ich werde sie noch einmal wiederholen. Wenn die Presse sich auf Sie stürzt «

»Ich bin gut darin, sie zu ignorieren.«

»Das sollen Sie gar nicht. Sagen Sie ihnen, dass der Elementargeist nicht gefährlich ist, solange er nicht gestört wird. Betonen Sie, dass sie zurückbleiben sollen. Und dass er niemandem Schaden zugefügt hat. Sie können noch hinzufügen, dass wir allen Hinweisen bezüglich der Bombe nachgehen und dass ich um halb vier eine Pressekonferenz gebe.«

»Vielen Dank.«

»Gern geschehen.« Er seufzte. »Was, zum Teufel, hat Fagin sich dabei gedacht, mit einem Elementargeist einen Deal abzuschließen?«

Lily versuchte erst gar nicht, diese Frage zu beantworten. Doch da es eine gute Frage war, wiederholte sie sie, als sie aufgelegt hatte. »Was, zum Teufel, hat Fagin sich dabei gedacht?«

Der bewusstlose Mann antwortete. »Hat gedacht, er sei klein.«

Erschrocken zuckte Lily zusammen. »Du bist wach.«

»Leider. Durstig.«

»Hier ist Wasser für dich«, sagte Rule. »Nein, halt still.« Er hob Cullens Kopf und Schultern mit einem Arm an und hielt ihm ein Glas an die Lippen.

Ohne die Augen zu öffnen, trank Cullen das ganze Glas aus. »Ah. Gut. Das tut gut.« Rule legte ihn wieder auf dem Boden ab. »Fagin dachte, der Geist sei klein. Vermutlich hat ihm Sherry das erzählt. Ich selbst hatte auch diesen Eindruck. Er sah klein aus, hatte nicht viel Energie. Anscheinend hat das meiste von ihm geschlafen. Sie schlafen nicht hier.«

Lily zog die Stirn kraus. »Hier Du meinst, in unserer Welt?«

»Ja. Wir brauchen Fagins Computer. Ich habe das Tagebuch, aber wir brauchen das andere. Das Buch.«

Rule ergriff das Wort. »Welches Buch?«

»Ars Magicka. Ein Grimoire. Von Eberhard Czypsser.«

»Gesundheit«, sagte Lily.

»Es ist in mittelalterlichem Deutsch geschrieben. Die Übersetzung ist auf Fagins Computer.«

»Dem, der auf seinem Schreibtisch steht?«

»Ja, es Mist. Feuer bekommt Computern bestimmt nicht so gut.«

»Das nehme ich auch an. Aber «

»Das Original ist in einem Bankschließfach. Cambridge. Vielleicht bekommst du eine richterliche Verfügung oder so.« Seine Augen öffneten sich und strahlten blau in seinem blassen Gesicht. »Ich brauche dieses Buch.«

»Eigentlich wollte ich sagen, dass Fagin kein Dummkopf ist. Er wird seine Arbeit bestimmt irgendwo gesichert haben. Und selbst wenn nicht, ist es vielleicht möglich, die Daten von der Festplatte wiederherzustellen.«

»Besorgt mir alles. Ich brauche « Er zuckte zusammen. Seine Augen schlossen sich wieder. »Verdammt«, murmelte er. »Ein paar der Nervenenden sind anscheinend wieder online.«

Lily warf Rule einen Blick zu, der den Kopf schüttelte. »Er darf nicht mehr weiterreden. Er muss sich ausruhen.«

»Ich muss«, sagte Cullen mit schwacher, aber unnachgiebiger Stimme, »mir das verdammte Grimoire anschauen.«

»Hat das etwas mit dem Dolch zu tun?«

Die blauen Augen flogen wieder auf. »Das ist im Wesentlichen Voodoo-Arbeit. Die Quelle, die das beweist, kann ich beibringen. Aber da gibt es noch etwas anderes.« Sie wartete. Als er nicht weitersprach, drängte sie: »Was?«

»Ich weiß es nicht. Aber es sieht fast aus wie ein Elfenzauber.«

»Elfen? So wie Rethna einer war?«

»Wahrscheinlich irre ich mich. Ich muss einen Blick in das Grimoire werfen.« Seine Augen schlossen sich erneut.

»Wir kümmern uns darum«, sagte Lily. »Du hast es eine Bombe genannt. Aber irgendwelche Magie hast du nicht gesehen?«

»Nein. Nur physisches Zeug.«

»Okay. Hast du irgendetwas gesehen oder gerochen, über das ich etwas wissen sollte, bevor es bum gemacht hat?«

»Zwei Projektile, kurz nacheinander. Das Erste hat das Fenster zerbrochen. Das Zweite hat alles in Brand gesteckt. Viel dichter Rauch. Hat süß gerochen, zumindest für eine Sekunde. Dann übel. Äh wie Knoblauch, Streichhölzer und Rauch. Mehr fällt mir nicht ein. Ich war beschäftigt.«

Ein rauer Bariton erklang auf der anderen Seite der Mauer. »Agentin Yu! Ms O’Shaunessy ist hier.«

Der Bariton gehörte dem Sergeant, der die Schaulustigen und die Presse in Schach hielt. Lily stemmte sich hoch. Wenn sie nur nicht so müde gewesen wäre davon, inoffiziell das zu tun, was sie eigentlich im Rahmen der Ermittlungen mit der gesamten Unterstützung des FBI hätte tun sollen. Müde davon, Geheimnisse vor ihrem Boss zu haben und vor allen anderen auch. Müde der Geheimorganisationen und Kriege mein Gott! Der Krieg hatte gerade erst begonnen, und sie hatte ihn schon so satt! Und auch die Clanmächte hatte sie satt die blöden, verdammten Clanmächte, die das taten, was irgendeine blöde, verdammte Große Alte ihnen befahl, egal wer dabei zu Schaden kam und wie es Rule dabei ging.

Bei diesem Gedanken flackerte Wut in ihr auf. Das gab ihr die Energie, um zu der blöden, verdammten Mauer zu gehen.

»Hallo, Sherry«, rief sie, als sie sich dem Erdwall näherte. »Haben Sie alles, was Sie brauchen, um mit ihm in Verbindung zu treten?«

»Außer dem, was nur Fagin beisteuern kann, ja. Ich habe gehört, das ist auf dem Weg.«

»Besser wäre es.«

»Emily und Kirk sind bei mir. Emily hat eine starke Erdgabe. Kirks Erdgabe ist nicht stark ausgeprägt, aber er ist sehr talentiert. Sie werden die Kontaktaufnahme unter meiner Beaufsichtigung durchführen.«

»Warum oh. Richtig.« Sherrys Gabe war Wasser. »Der Erdgeist hasst Wasser.«

»Ich war von Anfang an nicht die Richtige, um mit ihm zu verhandeln«, sagte Sherry grimmig. »Überheblichkeit und Dummheit ergeben eine schlechte Verbindung. Können Sie über die Mauer klettern? Rule sagt, Cullen sei aus dem Spiel, aber ich habe einige Fragen, bei denen Sie mir vielleicht weiterhelfen können. Hier sind so viele Mikros, dass ich lieber nicht schreien möchte.«

»Äh, der Schutzbann hat keine Wirkung auf mich, aber wenn der Elementargeist beschließt, mich in eine Grube zu stoßen und mich mit großen Steinen zu bewerfen na ja, meine Gabe wehrt keine Steine ab.«

»Natürlich. Tut mir leid. Ich bin durcheinander«, gab Sherry zu. »Ich kann einfach nicht fassen, dass ich nicht gemerkt habe, wie groß er ist.«

»Cullen hat denselben Fehler gemacht. Er sagt, der größte Teil von ihm habe geschlafen, und dass sie die Erdgeister nicht in dieser Welt schlafen.«

»Ist er sich da sicher?«, rief sie mit scharfer Stimme.

»Cullen ist sich immer sicher. Er hat nicht immer recht, aber er ist sich immer sicher.«

Sherrys Murmeln war durch die dicke Schicht von Erde, die sie trennte, kaum zu verstehen. »Aber ärgerlicherweise hat er sehr oft recht.«

Lily musste grinsen. »Wir unterhalten uns lieber am Telefon weiter«, sagte sie und zückte ihres. Sobald Sherry abnahm, fuhr sie fort: »Ich weiß nicht, wie ich Ihnen helfen kann. Meistens kann ich doch nur wiederholen, was Cullen mir gesagt hat, bevor « Aus den Augenwinkeln bemerkte sie eine Bewegung und drehte sich um. »Aber vielleicht können Sie ihm doch persönlich Ihre Fragen stellen. Sieht so aus, als hätte der sture Kerl Rule überzeugen können, ihn zu irgendeinem Zweck hierherzubringen. Trotzdem werden Sie über das Telefon mit ihm sprechen müssen, damit er seine Stimme nicht anstrengen muss.« Sie machte eine Pause. »Ich selbst habe auch noch ein paar Fragen.«

»Wenn Sie schnell machen. Schießen Sie los.«

»Sie sagten, Sie müssten unter Umständen eine eigene Vereinbarung aushandeln, um uns hier herauszubekommen. Warum?«

Sherrys Ton war trocken. »Diese Frage ist nicht schnell zu beantworten zumindest nicht von mir. Im Wesentlichen kann ich nichts weiter tun, als den Geist an seine Vereinbarung mit Fagin zu erinnern, indem ich sein Blut einsetze. Das Problem ist, dass die Vereinbarung in Worten verfasst ist, Erdgeister aber nonverbal sind.«

»Das ergibt für mich noch keinen Sinn.«

»Elementargeister können sich in Worten ausdrücken, aber nur auf sehr buchstäbliche Weise. Sie denken eher in Räumen als in Worten. Die Vereinbarung ist sowohl räumlich als auch verbal. Fagins Blut ähm, man könnte sagen, dass es die räumliche Komponente der Vereinbarung aktiviert. Das ist der Grund, warum der Geist diese Mauer und den Schutzbann errichtet hat weil Fagin geblutet hat. Es gibt zwei Fälle, in denen es einem Elementargeist erlaubt ist oder es von ihm gefordert wird, zu agieren. Erstens, wenn, bezogen auf unseren Fall, Fagin seinen Schutz ausdrücklich einfordert. Zweitens, wenn Fagins Blut innerhalb des geschützten Raumes vergossen wird.«

Lily dachte einen Moment darüber nach. Scott hatte Cullens »Nest« nach draußen gebracht. Nun sah sie zu, wie er Cullen ein paar Meter von der Mauer entfernt das Lager bereitete. »Wenn also Fagin sich beim Rasieren geschnitten hätte, hätte der Elementargeist das Grundstück abgeriegelt?«

»Er nimmt zwar alles wörtlich, aber er ist nicht dumm. Er kennt den Unterschied zwischen einem Angriff und einem Unfall. Unfälle rufen ihn nicht. Aber wenn er irrtümlicherweise gerufen worden wäre, hätte Fagin ihn bitten können, seinen Schutz zurückzuziehen.«

»Das hat er nicht getan.«

»Das habe ich gemerkt. Aus diesem Grund müssen wir nun eine zweite Vereinbarung aushandeln, um Sie alle zu befreien. Zuerst erinnern wir den Elementargeist an die ursprüngliche Vereinbarung, die es nicht erfordert, Sie innerhalb des zu schützenden Raumes einzuschließen. Anschließend überzeugen wir ihn, dass es nur zu seinem Vorteil ist, Sie gehen zu lassen.«

Rule bettete Cullen in sein neues Lager. Cullen sah kurz Lily mit gerunzelter Stirn an, dann musterte er den Erdwall. »Was würde denn ein Erdgeist für einen Vorteil halten?«

»Macht oder Liebe.«

»Er will Liebe?«

»Es heißt, dass Erdgeister manchmal eine liebevolle Verbindung mit einem Menschen eingehen und sich sehr für ihn einsetzen. Aber Liebe kann arrangiert oder vertauscht werden, deswegen ist Blut gewöhnlich die erste Opfergabe.«

Igitt. »Die erste? Und über wessen Blut reden wir gerade?«

»Möglicherweise eine kleine Menge von jedem von Ihnen, und danach müssten andere Opfer an den folgenden Vollmonden innerhalb einer vereinbarten Zeitspanne erbracht werden. Zumindest wäre das das angestrebte Ziel. Da fällt mir ein Fagin wird wahrscheinlich nicht in der Lage sein, morgen sein Opfer zu bringen. Sagen Sie ihm, dass einer meiner Leute das für ihn übernehmen wird.«

»Das werde ich. Wie lange, glauben Sie, werden die Verhandlungen dauern?«

»Zwischen einer Stunde und dem Rest des Tages bis in die Nacht hinein. Und jetzt muss ich mit Cullen sprechen.«

»Warten Sie eine letzte Frage. Die wirklich schnell zu beantworten ist.«

Sie stellte ihre Frage. Sherry antwortete, und Lily beendete mit einem Gefühl der Erleichterung das Gespräch. Sherry hatte sich bereit erklärt, mit der Presse über Elementargeister zu sprechen. Sobald Lily ihren kurzen Auftritt vor den Piranhas von der Presse gehabt hatte, konnte sie an Sherry übergeben. Was wirklich gemein war, aber Sherry war einverstanden. Für die Wicca war sie so etwas wie das Gegenstück zu Rule: das öffentliche Gesicht. Sie hielt es für ihre Pflicht, den Leuten ihren Glauben und Magie im Allgemeinen zu erklären vorzugsweise so, dass sie weniger Angst davor hatten.

Lily wusste zwar nicht, wie sie die Existenz eines uralten und mächtigen Elementargeistes so erklären wollte, dass er keine Angst verursachte, aber wenn es jemand konnte, dann Sherry.

Lily stellte sich neben Rule und blickte auf Cullen hinunter. »Er sieht schrecklich aus. Warum ist er hier draußen, statt ohnmächtig, wie es sich gehört?«

»Er möchte den Schutzbann untersuchen, solange er noch aktiv ist.«

Natürlich. Lily betrachtete das blasse und angestrengte Gesicht von Rules obsessivem Freund. Ihrem Freund. Der hätte sterben können, aber noch am Leben war. »Der Elementargeist wird seinen Bann nicht so bald auflösen. Du kannst ihn auch später noch untersuchen.«

»Bist du dir da sicher? Wenn der ursprüngliche Handel richtig durchgeführt wurde, müsste es einen Mechanismus geben, um ihn zu beenden «

»Damit gibt es ein Problem«, sagte sie entschieden und subvokalisierte dann, damit niemand auf der anderen Seite der Mauer sie hören konnte: »Wenn der Schutzbann aktiv bleibt, ist auch Fagins Bibliothek sicher. Sherry weiß, dass das fürs Erste unser Ziel ist.« Mit normaler Stimme fügte sie hinzu: »Sherry möchte mit dir reden, wenn du so weit bist «

Wie auf ein Stichwort piepte Cullens Handy. Er fummelte es aus der Tasche seiner Jeans, tippte auf das Display und sagte: »Da bin ich. Bleiben Sie einen Moment dran.« Er sah Lily an. »Sieh nach, ob Fagins Computer verschmort ist und ob er DVDs oder irgendetwas anderes für ein Back-up hat. Wenn du sie nicht finden kannst oder sie zu heiß wurden «

»Cullen, sei still.« Lily kniete sich neben ihn, bückte sich und gab ihm einen schnellen Kuss auf die Stirn. »Ich bin wirklich sehr froh, dass du wieder in Ordnung kommst, aber jetzt geht es dir noch zu schlecht. Du brauchst Ruhe. Lass mich meine Arbeit machen.« Sie sah Rule an. Seine Augen waren fast normal. Fast.

Sie erhob sich, ging zu ihm und berührte ihn am Arm. »Zeit, um den Tatort zu untersuchen.« Ein Bombenanschlag war kein Fall für die Einheit, wenn nicht auch Magie mit im Spiel war, aber nun war sie schon einmal hier, und so schnell würde kein anderer Ermittler zu ihnen stoßen.

»Natürlich. Ich muss bei Cullen bleiben.«

»Ich weiß. Es ist schwerer, zurückzubleiben und zu helfen, sich um andere Sorgen zu machen, als vorauszugehen und Risiken auf sich zu nehmen.«

Er sagte lange nichts. Dunkelheit umflackerte seine Pupillen, dann wurden sie wieder normal. Oder fast normal. »Das war schon immer so. Wäre Scott dir eine Hilfe?«

Rule wollte jetzt nicht darüber sprechen. Was immer »darüber« war. Sie betrachtete den bebrillten Wolf mit seinen Nerd-Klamotten. »Klar. Seine Nase wäre mir eine Hilfe.«

Doch zuerst bat Lily Scott, ein paar Dinge zusammenzusuchen, die sie brauchte. Sie hatte zwar ihre Handtasche dabei, aber kein Kit zum Sichern der Spuren, also war Improvisation gefragt. Während er sich auf die Suche machte, zückte sie ihr Handy.

Vielleicht fand sie DVDs oder einen USB-Stick in Fagins Bibliothek. Vielleicht waren die Daten auf der Festplatte wiederherzustellen. Aber es gab noch eine andere Möglichkeit, die vielleicht schneller zum Ergebnis führte. Eventuell hatte Fagin online ein Back-up durchgeführt. Wahrscheinlich war es seine Gewohnheit in Harvard gewesen, wo man seine Dateien vielleicht noch hatte. Oder er hatte einen kommerziellen Back-up-Service online genutzt. Sie rief einen der Agenten an, die Croft mit Fagins Schutz im Krankenhaus beauftragt hatte.

Es stellte sich heraus, dass Cates sich bereits mit dem Fläschchen Blut auf den Weg gemacht hatte und Fagin behandelt wurde, aber Richards versprach, ihn nach dem Back-up zu fragen, sobald die Ärzte ihn zu ihm ließen.

Zeit, sich an die Arbeit zu machen. Während sie auf den Anruf der Experten, die Ida hatte auftreiben können, wartete, trug sie ihr Telefon zur Veranda und stellte die Kamera an.

Die Veranda war durch viel zu viele Fußabdrücke verunreinigt, trotzdem machte sie ein paar Aufnahmen und dann noch einige von dem Erkerfenster. Sie trat näher, um Innenaufnahmen von der Bibliothek zu machen.

Der hintere Teil des Raumes sah unversehrt aus. Der mittlere Bereich war schwarz. Der Schreibtisch, hinter dem Cullen und Fagin in Deckung gegangen waren, war nur noch ein verschmorter Klumpen. Der Plastikklecks obendrauf war wohl vor einigen Stunden noch ein Computer gewesen.

Das Feuer hatte den Computer geschmolzen, bevor Cullen es hatte löschen können. Sie wusste nicht genau, wie lange Cullen zu so etwas brauchte, doch sie schätzte, nicht mehr als ein paar Sekunden. Wie kam es, dass ein Feuer so schnell so heiß wurde? Offensichtlich war irgendeine Art von Beschleuniger benutzt worden, doch sie wusste nicht viel über die Herstellung von Brandbomben.

Lily fotografierte den Fensterrahmen, dann den Boden. Selbst für sie als Nichtfachfrau war das Brandmuster eindeutig fast kreisrund, mit einem Ausgangspunkt, der sich ein Meter fünfzig bis zwei Meter siebzig auf dieser Seite des Schreibtisches, hinter dem Cullen und Fagin Schutz gesucht hatten, befand. Sie schoss ein paar Bilder davon vom Fenster aus und steuerte dann die Tür an, weil sie die Bibliothek von dem unversehrten hinteren Teil aus betreten wollte. Auch wenn Scott noch keine Tütchen gefunden hatte, konnte sie schon einmal anfangen, sich Skizzen und Notizen zu machen, aber

Ihr Handy klingelte. Nach einem schnellen Blick auf die Nummer nahm sie ab. »Special Agent Yu.«

»Hier ist der ehemalige Combat System Officer Rod Uddley«, sagte eine männliche Stimme herzlich. »Jetzt im Ruhestand, aber ich habe mit mehr Bombenanschlägen zu tun gehabt als sonst irgendwer in diesem Land, sei er tot oder lebendig. Das FBI mag mich so sehr, dass sie mich jetzt ab und an die Babys unterrichten lassen, und ab und an bezahlen sie mir sogar richtig Kohle für eine Beratung. Ich habe gehört, Sie möchten beraten werden.«

»Das stimmt. Hat Ida Sie über die Situation unterrichtet?«

Captain Uddley bejahte die Frage und beglückwünschte Lily, weil sie so vernünftig gewesen war und um Hilfe gebeten hatte.

»Ich brauche Hilfe, um meine Prioritäten festzulegen. Möglicherweise bleibt mir nur eine Stunde, um den Tatort zu bearbeiten. Es kann aber auch sein, dass ich den ganzen Nachmittag und einen Teil des Abends zur Verfügung habe. Das hängt davon ab, wie lange es dauert, den Elementargeist dazu zu bringen, uns freizulassen. Ich muss wissen, was ich in dieser ersten Stunde tun soll.«

Er stellte einige Fragen. Lily blieb in der Haustür stehen, um zu antworten, schickte ihm die bereits geschossenen Fotos und berichtete ihm dann, was Cullen über den Geruch der Explosion gesagt hatte. »Ein weiterer Lupus hält sich bereit, falls uns seine Nase nützlich sein kann.«

»Ah! Ja, das könnte helfen. Das könnte tatsächlich helfen. Man sagt ja, dass sie einen sehr ausgeprägten Geruchssinn haben.«

»In Wolfsgestalt ist er am besten. Ich bitte Scott, sich zu wandeln.«

»Ausgezeichnet. Zuerst muss ich mir die Bilder ansehen, die Sie mir geschickt haben. Einen Moment.«

Scott kam aus dem hinteren Teil des Hauses, in der Hand eine Plastikeinkaufstüte. »Gefrierbeutel, Mülltüten, Edding, Abdeckband, Papierhandtücher.« Er streckte ihr die Tüte hin. »Papiertüten oder ein Lineal habe ich nicht finden können.«

»Danke.« Sie nahm die Tüte und setzte den herzlichen Uddley darüber in Kenntnis, über welche kriminaltechnische Ausrüstung sie verfügte. »Ich habe mein Notizbuch, kann also Notizen und Skizzen machen. Ich habe nichts, womit ich messen könnte, kann aber ganz gut kurze Distanzen schätzen. Meine gespreizte Hand misst vom Daumen zum kleinen Finger zwanzig Zentimeter, also einen Moment.« Scott stand wartend da. »Ja?«

»Ist es in Ordnung, wenn ich mich auf die Suche nach Zutaten für ein Sandwich oder so mache? Ich meine, für alle von uns, aber vor allem für Cullen. Der Heilungsprozess verbrennt viele Kalorien.«

Und Lupi wurden lieber nicht zu hungrig. »Natürlich, geh ruhig. Ich brauche dich jetzt noch nicht, aber iss schnell, nur für den Fall.«

Er verschwand im Haus. Lily folgte ihm, blieb aber im Eingang zur Bibliothek stehen. »Wir gehen rückwärts vor«, dröhnte Uddley fröhlich in ihr Ohr. »Kann sein, dass sich das nachher rächt, aber wir machen es trotzdem.«

»Ich kann Ihnen nicht folgen.«

»Wenn Sie einen Tatort bearbeiten, fangen Sie nie mit einer Theorie an und suchen dann nach Beweisen, um sie zu stützen doch das tun wir jetzt. Damit wissen wir genau, was unsere Prioritäten sind, verstehen Sie? Für den Fall, dass Sie irgendwann keine Zeit mehr haben. Also, wir wissen, dass wir es mit einem Brandmittel zu tun haben, keiner echten Bombe keine starke Explosion, viel Feuer. Laut Ihrem Zeugen gab es zwei Projektile.«

»Laut einem Zeugen, ja. Den anderen Dr. Fagin habe ich noch nicht befragt. Zuerst mussten seine Verletzungen behandelt werden.«

»Zwei Projektile passen zu meiner Theorie. Sie wollten zuerst das Fenster zerschlagen, um den Behälter mit dem Brandmittel ins Zimmer zu befördern, bevor er zerbrach und alles verbrannte. Der Zeuge, den Sie befragt haben, ist ein Lupus, ja?«

Sie bejahte es.

»Ausgezeichnet. Seine Beschreibung des Geruchs ist ausschlaggebend. Guter Mann. Aufmerksam. Ich würde wetten, dass es eine SIP gewesen ist.«

»Okaaay.«

Ein kurzes, donnerndes Lachen. »Ja, schlimm, dieser Fachjargon. Es handelt sich um selbstentzündlichen Phosphor. Ursprünglich wurden SIP im Zweiten Weltkrieg von den Briten hergestellt, aber nie im Kampf eingesetzt. Zu gefährlich für die Benutzer. Sie ähneln dem guten alten Molotowcocktail, sind aber in ihrer chemischen Zusammensetzung ausgefeilter. Einfach zusammenzurühren. Sie nehmen weißen oder gelben Phosphor daher der Knoblauchgeruch und mischen ihn mit Benzol, Wasser und ein bisschen Gummi in einer Glasflasche. Benzol riecht süß, verstehen Sie? So, wie ihr Lupus berichtet hat. Die Glasflasche werfen Sie auf eine harte Oberfläche. Sie zerbricht, die Zutaten entzünden sich, und das Resultat ist ein schnelles, heißes Feuer, beißender Rauch und Dämpfe von Phosphorpentoxid und Schwefeldioxid. Schwefeldioxid und Phosphor riechen nach abgebrannten Streichhölzern und gehören außerdem zu den Hauptbestandteilen von Smog. Es passt alles zusammen. Wir werden Folgendes tun.«

Kurz und knapp erläuterte Uddley ihr, was sie in der ersten Stunde zu tun hatte und was danach folgen würde, wenn ihr noch Zeit blieb. Er versicherte ihr, dass er, wenn nötig, den ganzen Tag mit ihr am Telefon bleiben würde »Meinetwegen müssen Sie sich nicht beeilen! Meine Zeit wird bezahlt!« Da sie aber beide Hände für die Arbeit brauchte, legte sie zwar nicht auf, stellte das Handy aber auf Lautsprecher und steckte es sich an den Gürtel.

Achtunddreißig Minuten später hatte sie Dutzende von Fotos geschossen, eine grobe Skizze fertiggestellt und damit begonnen, Beweismittel zu sichern. Sie hatte Brandrückstände von den Wänden und vom Boden gekratzt, jedes Tütchen sorgfältig mit dem präzisen Fundort beschriftet, diesen dann mit einem Stück Abdeckband beklebt und anschließend ein Foto von der markierten Stelle gemacht. Außerdem hatte sie einen größeren Gegenstand als Beweismittel aufgenommen ein großes Stück aus einem Betonblock. Vermutlich das erste Projektil.

Jetzt sah sie sich nach Glasscherben um. Überall waren die Scherben des zerbrochenen Fensters verstreut. Was sie aber suchten, war Glas, das von einer Flasche, die mit Phosphor, Benzol und ein wenig Gummi gefüllt gewesen war, stammen konnte.

Jetzt waren weniger konventionelle Methoden gefragt. Lily richtete sich auf. Ihr rechter Arm, der schwache, tat weh. Sie hatte sich zu häufig darauf gestützt. Geistesabwesend rieb sie ihn. »Scott? Von mir aus kannst du dich jetzt wandeln.«

Eine blecherne Stimme kam aus der Gegend ihrer Hüfte. »Ich möchte ihn gerne selbst instruieren, wenn Sie nichts dagegen haben.«

»Natürlich. Warte einen Moment, Scott«, sagte sie und trat zu der Tür, die in die Küche führte. Sie griff mit der linken Hand nach ihrem Handy und zog es vom Gürtel ab.

Und ließ es fallen, als ihre Hand kribbelte und dann taub und nutzlos wurde.