32

Zwanzig Minuten später war Cullen, der es kaum erwarten konnte, Fagins Übersetzung des Grimoire in Augenschein zu nehmen, fort. Auch Karonski war gegangen, nachdem er sich mit einem Anruf im Gefängnis nach Lilys Blutprobe erkundigt hatte. Und Überraschung! Sie war unauffindbar. Nun wollte er dort Druck machen und sehen, ob er herausfinden konnte, wer sie hatte verschwinden lassen.

Doch bevor er ging, hatte Lily Karonski einige Fragen gestellt. Er erinnerte sich nicht daran, welches Alibi Drummond für den Tag von Rubens Herzinfarkt gehabt hatte sie hatten buchstäblich Hunderte von Alibis überprüft. Aber er versprach, ihr diese Information zukommen zu lassen. Lily bat ihn, noch damit zu warten, weil sie möglicherweise schneller darankommen könne.

Danach hängte Lily sich ans Telefon. Und auch Rule machte einige Anrufe. Zuerst bestellte er das Mittagessen, dann rief er Arjenie in Kalifornien zurück. Er bat sie, Lily Zugang zur Datenbank zu verschaffen, und reichte dann das Telefon an sie weiter. Lily erklärte Arjenie, was sie für sie in Erfahrung bringen sollte.

Das Ganze dauerte zwanzig Minuten, danach waren sie allein im Haus keine Rhej, kein Isen, kein Cullen, keine Deborah und auch kein Karonski. Nur sie beide.

So war es einfacher zu streiten.

»Das ist doch unsinnig!« Lily trat drei Schritte von ihm zurück, drehte sich um und funkelte ihn böse an. »Ich habe gesagt, ich nehme einen Leibwächter mit.«

»Ich begleite dich. Das ist nicht verhandelbar.« Rules Gesicht war so verschlossen wie ein Panzerschrank. »Du scheinst vergessen zu haben, dass ich hier das Sagen habe.«

»Ich kann einfach nicht glauben, dass du das gerade gesagt hast.« Sie holte tief Luft und atmete langsam wieder aus, um ihre Wut zu zügeln. »Im Moment wollen unsere Feinde mich lebend. Was sollen sie mit einem Doppelgänger anfangen, wenn ich tot bin? Jeder würde sofort wissen, dass ich es nicht bin.«

»Es soll schon vorgekommen sein, dass Killer Leichen verschwinden lassen.«

Es war schwer, ihm zu widersprechen, wenn er recht hatte. Doch sie tat ihr Bestes. »Rule, wir bekommen doppelt so viel geschafft, wenn wir uns aufteilen.«

»Wenn dir die Effizienz am Herzen liegt, solltest du in deine Überlegungen auch miteinbeziehen, dass ich dir folgen werde, wenn du aus Wut alleine losgehst.« Der eisige Sarkasmus war nicht zu überhören.

»Hör zu, ich verstehe ja, dass du dir Sorgen um mich machst, aber «

»Tust du das?« Mit zwei schnellen Schritten stand er vor ihr. Seine Augen brannten. Er packte sie bei den Armen. »Tust du das wirklich? Denn Sorge ist ein schwaches und kümmerliches Wort, das wie ein dünner Zweig unter dem Gewicht meiner Gefühle brechen würde.«

Vor einem Monat hatte Lily erfahren müssen, wie beängstigend es sein kann, tief im Inneren zu wissen, dass sie die, die sie liebte, nicht immer und vor allem schützen konnte. Dass der Tod jederzeit zuschlagen konnte, egal wie clever oder stark oder schnell sie war. Es war eine bittere Lektion gewesen und dabei war sie nicht einmal ein Kontrollfreak, wie ein Rho es war.

Sie streckte die Arme hoch und umfing Rules Gesicht mit beiden Händen. »Jeder kann sterben«, sagte sie sanft. »Und mit ein paar seltsamen Ausnahmen stirbt auch jeder. Jeden Tag besteht die Möglichkeit, dass du den nächsten nicht erlebst, oder ich oder mein Bruder oder Cullen doch die Sache ist die: Die Wahrscheinlichkeit, dass wir es schaffen, ist höher. Deshalb müssen wir auf Letzteres setzen, nicht auf Ersteres.«

Er sagte lange nichts. Dann nahm er ihre Hand, bog die Finger sanft in die Handfläche und hob sie an seine Lippen. Er küsste nacheinander alle fünf Knöchel. »Du bist sehr klug.« Seine Mundwinkel hoben sich. »Und ich begleite dich trotzdem.«

Also machten sie sich gemeinsam auf den Weg, um Sjorensen einen Besuch abzustatten.

Laut Karonski war Anna Sjorensen wie auch Lily zurzeit beurlaubt. Auf welche Weise herausgekommen war, dass es Sjorensen gewesen war, die Lily den Tipp wegen Rubens Verhaftung gegeben hatte, wusste er nicht möglicherweise hatte sie tatsächlich gestanden –, aber auch sie hatte Ärger bekommen. Damit rutschte sie ganz nach unten auf Lilys Liste der Verdächtigen. Trotzdem wollte sie sich mit ihr unterhalten, denn sie fand es nützlich zu wissen, wie Sjorensen von der bevorstehenden Festnahme erfahren hatte. »Wir wissen immer noch nicht, was sie planen«, sagte Rule.

Rule und Lily saßen auf dem Rücksitz des Mercedes, Scott saß am Steuer und Mark auf dem Beifahrersitz. José hatte entschieden, dass Scott auch mit einem gebrochenen Arm einen Wagen steuern konnte, damit die anderen freie Hand hatten, Eindringlinge abzuwehren oder Kugeln mit den Zähnen zu fangen oder was auch immer.

Die beiden riesigen Roastbeef-Sandwiches, die er für sich bestellt hatte, hatte Rule bereits verputzt. Lily kaute noch an ihrem gegrillter Havarti und Cheddar auf Roggenbrot. Das Deli hatte guten Cheddar und sparte nicht mit eingelegten Gurken.

Lily schluckte und trank von der Diätcola, bevor sie antwortete. »Wir wissen, dass sie mich kopieren wollen. Wir wissen, dass sie Ruben und Ida kopieren können. Wir wissen, dass sie in großen Dimensionen denken, denn wenn sie gewinnen, ist das Endresultat eine Menge toter Lupi und das Land im Chaos Kriegsrecht, Aufstände, die Präsidentin und der Vizepräsident tot, die Regierung zersplittert.«

Rule führte ihre Liste fort. »Wir wissen, dass sie nicht damit gerechnet hatten, dass Ruben sich in einen Lupus verwandelt. Wir wissen, dass sie Todesmagie benutzen, was bedeutet, dass es irgendwo Leichen geben muss.« Er warf ihr einen Blick zu. »Wir wissen, dass jemand beim FBI darin verwickelt ist.«

»Ja.« Sie dachte einen Moment nach. »Wir sind uns ziemlich sicher, dass Parrott ebenfalls damit zu tun hat. Er wäre in jedem Fall ein Verdächtiger, selbst wenn wir nicht wüssten, dass er mit Chittenden in Kontakt steht. Schon allein, weil er eine Gabe hat und sie geheim hält. Parrott könnte gelogen haben, als er sagte, dass Bixton von seinem schrecklichen Makel wusste. Oder Bixton hat es gewusst, dann aber herausgefunden, dass Parrott rückfällig geworden ist, magisch gesehen.« Sie drehte die Hand hin und her. »Zwei Fliegen mit einer Klappe. Bixton aus dem Weg räumen und es Ruben anhängen.«

»Oder Bixton hat etwas über Friar oder Chittenden erfahren, womit er der Bewegung gefährlich werden konnte.«

»Auch das ist möglich. Ich wüsste gern, ob Chittenden eine Gabe hat. Ich würde zwar darauf wetten, aber wirklich wissen tun wir es nicht. Es würde uns helfen, wenn wir wüssten, wo er war.«

»Unglücklicherweise haben ihn meine Leute letzte Woche verloren.«

Sie sah ihn fragend an. »Welche Leute Geister oder Lupi?«

Er lächelte grimmig. »Lupi, in diesem Fall, auch wenn sie Rubens Plänen gefolgt sind. Wir haben sowohl Chittenden als auch Jones im Auge behalten. Chittenden ist uns entwischt.«

»Hm.« Anscheinend war so einiges vor sich gegangen, von dem sie nichts gewusst hatte. Sie warf einen Blick auf das, was von ihrem Mittagessen noch übrig war. »Will jemand die Hälfte von meinem Sandwich? Das ganze kann ich nicht essen.«

»Ich nehme es«, sagte Mark.

Sie gab es ihm und nahm noch einen Schluck von der Limonade. Wenn man mit Lupi zusammenlebte, musste man sich nie Sorgen um verschwendetes Essen oder Reste machen. Sie sah Rule an. »Gibt es noch etwas, das ich wissen sollte?«

»Vielleicht.« Er überlegte einen Moment und sagte dann: »Die Präsidentin weiß von Rubens Visionen.«

Beinahe hätte sie sich an der Diätcola verschluckt. »Wer? Sie weiß was?«

»Du weißt, dass sie und Ruben eng zusammengearbeitet haben.«

»Ja, aber Wie viel weiß sie?«

»Von der Schatteneinheit weiß sie nichts, wohl aber von unserer Erzfeindin, Friars Transformation Sie kennt also das Wesentliche. Das Weiße Haus hat im letzten Monat im Stillen die Sicherheitsmaßnahmen erhöht.«

»Ohne, dass es jemandem aufgefallen ist? In den Nachrichten kam nichts über erhöhte Sicherheitsmaßnahmen.«

»Sie hat den für letzte Woche geplanten Mexiko-Besuch abgesagt.«

»Weil die Abstimmung anstand über oh. Du meinst, das war nicht der wahre Grund.« Das musste Lily erst einmal verdauen. »Der Kongress weiß aber nichts, oder?«

»Nein. Ob sie allerdings jemanden aus ihrem Kabinett eingeweiht hat, darüber bin ich nicht informiert. Was soll sie auch sagen? Dass ihr Lieblingsmedium Albträume hat?«

»Dann würden sie es wohl mit der Angst bekommen. Mindestens die Hälfte von ihnen würde an ihrem Verstand zweifeln. Irgendjemand würde es an die Presse weitergeben, und bevor man sich’s versieht, diskutiert das ganze Land darüber, ob die Präsidentin noch zurechnungsfähig ist, oder ob wir alle Schusswaffen kaufen und die Vorräte in unseren Luftschutzbunkern aufstocken sollten.«

»Und möglicherweise auch, ob wir die magisch Begabten loswerden sollten.«

Und damit ihren Feinden Arbeit abnehmen. »Dann gehe ich davon aus, dass Ruben nicht vorhergesehen hat, dass die Präsidentin nicht informiert werden soll.«

»Er fand, es sei das Richtige.«

»Mist. Mir ist gerade etwas eingefallen. Ob Ruben immer noch ein Präkog ist, wissen wir nicht, oder? Ich meine, normalerweise haben Lupi keine Gaben. Cullen ist eine Ausnahme. Ich hätte Ruben berühren sollen, bevor ihr beide euch davongemacht habt.«

»Dann hättest du eine Hand verloren«, sagte Rule trocken. »Gut, dass du es nicht versucht hast. Ich vermute zwar, dass Ruben noch ein Präkog ist, aber du hast recht, mit Sicherheit wissen wir es nicht. Und bevor du darauf hingewiesen hast, habe ich mir keine Gedanken darüber gemacht.«

Doch auch jetzt sah er nicht besonders glücklich darüber aus. »Ich schätze, es wird sich herausstellen. Hast du « Ihr Handy tschilpte wie ein junger Vogel. Sie schnitt eine Grimasse. Zuerst hatte sie gedacht, dieser Klingelton wäre niedlich, doch mittlerweile trieb er sie in den Wahnsinn. Sie nahm das Handy heraus und blickte auf die Nummer. Es war die Rhej der Etorri. Während sie auf ihr Mittagessen gewartet hatten, hatte Lily ihr eine Nachricht hinterlassen. »Lily«, meldete sie sich.

»Hallo, Lily. Tut mir leid zu hören, dass du in Schwierigkeiten bist.«

»Herrje, kam es sogar in Kanada in den Nachrichten?« Es fiel ihr schon schwer zu glauben, dass ihre Festnahme es in die überregionalen Nachrichten geschafft hatte, ganz zu schweigen von den internationalen.

Es folgte ein kurzes Schweigen. »Nein, ich habe es von anderen aus dem Clan gehört. Geht es deinem Arm besser?«

Oh. Richtig. Sie sprach von der Verletzung. Am liebsten hätte Lily gelacht oder aufgestöhnt. Die Schießerei war bereits einen Monat her, und seitdem steckte sie schon wieder in neuen Schwierigkeiten. »Er ist wirklich gut verheilt. Dazu wäre zwar noch mehr zu sagen, aber ich habe es eilig. Kann ich mir die Einzelheiten fürs Erste sparen?«

»Na klar. In deiner Nachricht sagtest du etwas von einem Geist, der dich plagt.«

Wie alle Rhejes hatte auch die Rhej der Etorri eine Gabe. Sie war ein Medium ein sehr mächtiges Medium –, und außerdem wusste sie sehr viel über Geister und Tod und war in der Lage, ihr Wissen in einer Sprache zu verpacken, die man auch verstehen konnte. »Er plagt mich nicht richtig, aber ich habe dennoch einige Fragen dazu. Bei der Tötung von Menschen zur Gewinnung von Todesmagie entstehen doch manchmal Geister, richtig?« Es musste etwas mit dem zu tun haben, was die Rhej Transition nannte, und der Energie, die dieser Vorgang bedingte. Da Lily sich die ausführliche Erklärung nicht noch einmal anhören wollte, sprach sie schnell weiter. »Vielleicht stammt mein Geist daher. Außerdem sind in der letzten Zeit noch andere Geister in der Stadt gesehen worden. Und ich weiß, dass jemand Todesmagie erzeugt.«

»Igitt. Ein fieses Zeug.«

»So ist es. Es geht hier möglicherweise um eine ganze Menge, also «

»Wie viel?«

»Äh Ich weiß nicht, wie ich das bemessen soll.«

»Ich verstehe, was du sagen willst. Ich frage, weil nun, die seherischen Fähigkeiten liegen in meiner Familie, und das schon seit sehr langer Zeit. Mütter und Großmütter haben diese Gabe, das Wissen und die Geschichten darum seit vielen Generationen weitergegeben. Als du sagtest, es sei eine Menge Todesmagie, fiel mir eine dieser alten Geschichten ein. Sie stammt vermutlich aus der Zeit mehrere Hundert Jahre vor der Säuberung.«

»Ob nach so langer Zeit eine mündliche Übertragung noch verlässlich ist, ist die Frage.«

»Das stimmt, aber hör sie dir trotzdem an. Die Geschichte handelt davon, wie ein böser Magier ein kleines Dorf rituell tötete, um einen Großen Zauber zu speisen.«

»Aus wie vielen Personen bestand das Dorf?«

»Fünfundfünfzig, glaube ich. Ich kann meine Großmutter anrufen, um die genaue Zahl zu erfahren.«

Die sich über die Jahre hundertmal geändert haben konnte. »Nein, das reicht schon. Ich wollte nur eine ungefähre Vorstellung davon haben, über wie viele Tote wir hier reden.«

»Wie dem auch sei, der böse Magier wurde am Ende von einem Konkurrenten getötet dem Bán Mac. Um ihn ranken sich viele Geschichten, von denen man einige auch in den Sammelwerken von Volkssagen findet. Anscheinend ritt er auf seinem ›Flammenpferd‹ durch Irland, verführte die Hausherrinnen, rettete die Jungfrauen, kämpfte gegen böse Magier und trank so viel Ale, dass es die meisten anderen Männer umgebracht hätte. Außerdem trickste er die kleinen Leute aus und wurde ausgetrickst«, fügte sie hinzu, »denn schließlich fand dies alles in Irland statt. Die meisten der Geschichten handeln von Bán Mac, aber die, die in meiner Familie weitergegeben wurde, erzählt davon, was nach dem Kampf passierte. In dem Gebiet in der Nähe des Wohnorts der Opfer gab es einige, nun ja, Unregelmäßigkeiten.«

»Was denn für Unregelmäßigkeiten?«

»Oh, das Übliche Wasser, das zu Blut wird; Tiere, die mit Missbildungen zur Welt kommen; Kühe, die keine Milch mehr geben. Und natürlich viele Geister. Doch es gab auch Berichte über ›bœse Bestien‹ und häufige Erdbeben und etwas darüber, dass die ›Zeit schîf‹ ist. Ich weiß nicht, wie verlässlich das ist«, sagte sie entschuldigend, »aber ein bisschen Wahrheit steckt vermutlich darin. In meiner Familie hält man das Ende der Geschichte für die Lehre, die daraus zu ziehen ist. Die benachbarten Dörfer holten einen Priester, der die Geister vertreiben sollte. Das tat er auch, und außerdem ›tränkte er das Land mit Geist, um den Riss zu schließen‹, und die seltsamen Vorkommnisse hörten auf.«

»Hmm.«

Die Rhej lachte. »Du kannst sehr viel Skepsis in diesen einen Laut legen. Ich glaube, du solltest mit einem Priester reden.« Sie lachte wieder. »Pardon, so war es nicht gemeint. Ich wollte damit sagen, dass die Kirche vermutlich mehr über diese seltsamen Vorkommnisse an Stätten von Todesmagie weiß als ich. Aber auch davon abgesehen, solltest du die Kirche darüber informieren. Die katholische Kirche ist sehr erfahren darin, bestimmte Arten von Geistern zu vertreiben. Die Seelen der Getöteten brauchen vielleicht die Macht der Kirche, um das, was ihnen genommen wurde, zu ersetzen, damit sie ihre Transition vollenden können.«

Damit waren es schon zwei, die fanden, Lily sollte sich an einen Priester wenden. »Ich erwarte den Anruf eines mit Cynna bekannten Priesters, der mir vermutlich etwas zu dem Fall sagen kann. Ich werde ihn danach fragen.«

»Gut.«

»Die andere Sache, die ich dich fragen wollte, ist: Gibt es irgendeinen Weg, mit dem Geist zu sprechen, wenn er sich wieder zeigt?«

»Da kann ich dir nicht weiterhelfen. Wenn du ein Medium wärst, wäre das etwas anderes, aber Medien und Nichtmedien erleben Geister auf so unterschiedliche Art, dass das, was ich in meiner Ausbildung gelernt habe, auf dich nicht zutrifft.«

»Könntest du eventuell nach D.C. kommen?«

Sie schwieg kurz, dann sagte sie: »Ich fürchte, nein. Ich bin bereits eine Verpflichtung eingegangen, die ich einhalten muss.«

Es war die kurze Pause, die Lily misstrauisch machte. »Rhej-Geschäfte, über die du nicht sprechen kannst?«

Es folgte wieder eine Pause, dann ein leises Lachen. »So könnte man es nennen.«

»Das war es jedenfalls, was die Rhej der Leidolf sagte, als sie mich um fünfhundert Dollar anhaute, bevor sie zum Flughafen aufbrach.«

Das schien die Rhej der Etorri köstlich zu amüsieren. Lachend wiederholte sie es, um sich dann gut gelaunt zu verabschieden.

»Ich überlege mir gerade«, sagte Rule, als der Wagen langsamer wurde, »ob ich meinen Vater anrufen soll, um ihn zu fragen, ob die Rhej der Nokolai ebenfalls mit unbekanntem Ziel verreist ist.«

»Das ist sie sicher nicht.« Die Rhej der Nokolai war blind. Da konnte sie wohl schlecht ganz allein verreisen oder doch? »Vielleicht ist das keine üble Idee. Nicht, dass es uns irgendwie weiterhelfen würde, denn dann wissen wir immer noch nicht, was sie aushecken. Mittlerweile fange ich an, Cullens Einstellung zu Rhejes zu verstehen.«

»Sie wissen, wie man Stillschweigen bewahrt.«

Der Wagen hielt an einer roten Ampel. Zusammen mit ein paar Dutzend anderen vor ihnen. Die Schlange war so lang, dass sie ein paar Grünphasen brauchen würden, um die Kreuzung zu überqueren. Es waren nur noch zwei Blocks bis zu Sjorensens Wohnung. Mit dem Fuß tippend überlegte Lily, ob sie aussteigen und den Rest zu Fuß gehen sollte.

»Arschlöcher«, murmelte Scott.

»Was?«, sagte Rule.

»Tut mir leid. Ich hätte nichts sagen sollen. Der Aufkleber auf dem grauen Geländewagen ärgert mich.«

Erst als ihre eigene Autoreihe sich wieder in Bewegung setzte, konnte Lily ihn sehen: einen glänzend grauen Nissan Geländewagen mit drei Kindern auf dem Rücksitz zwei Jungen und einem süßen kleinen Mädchen mit Zöpfen und zwei Aufklebern auf der Heckscheibe. Auf einem stand »Humans First«, auf dem anderen »Hupe, wenn du Wers hasst.«

Lily traute ihren Augen nicht. »Jesses. Hupen, um seinen Hass auszudrücken. Vermutlich finden sie sich auch noch ganz witzig.« Einer der Jungen warf etwas nach dem anderen. Die Mutter drehte sich um und sagte etwas zu ihnen, ohne zu schreien. Sie sah nett aus, mütterlich.

»Wahrscheinlich sind sie wegen der Demonstration von Humans First hier«, sagte Rule. »Morgen findet die große Kundgebung statt.«

Daran hatte sie gar nicht mehr gedacht. Es war so viel passiert, dass sie fast die von Humans First geplanten Demonstrationen vergessen hatte. »Rule. Morgen. Denkst du dasselbe wie ich?«

»Ich glaube nicht, dass es ein Zufall ist. Nein.«

Ihre Blicke trafen sich. Er sah so grimmig aus, wie sie sich fühlte. Wenn das, was immer Friar ausheckte, mit der morgigen Demonstration zusammenfallen sollte, dann blieb ihnen nicht mehr viel Zeit. Und sie hatten immer noch keine Ahnung, was Friar plante.

Anna Sjorensen wohnte in einer Einzimmersuite in einem sogenannten »Apartment-Hotel«, wobei die »Suite« eigentlich ein Hotelzimmer mit einer Kochnische war. Hier brachten die staatlichen Behörden Verwaltungskräfte, Agenten und andere menschliche Vielfalt unter, wenn sie sie in D.C. brauchten. Streng genommen gehörte Sjorensen noch zur Außenstelle in Nashville und war nur für die Zeit ihrer Ausbildung nach D.C. versetzt worden, wodurch sie ein Anrecht auf die Unterbringung in diesem Apartment-Hotel hatte.

Es sei denn, Croft hatte sie schon der Einheit zugewiesen. Lily nahm sich vor, ihn danach fragen.

Man konnte es schlechter treffen, als mit diesem Hotel; die Lage war ordentlich, wenngleich laut, denn das Gebäude lag an einer viel befahrenen Straße. Aber es gab keinen Parkplatz. Deshalb ließ Scott sie, Rule und Mark vor dem Haus aussteigen, um dann um den Block zu fahren, bis sie wieder zurück waren.

Auf dem Gehweg nahmen die beiden Männer sie in die Mitte. Lily seufzte und beschloss, keinen Aufstand zu machen. Wenigstens war Rule rechts von ihr und würde ihr nicht aus Versehen in die Schusslinie laufen. »So passen wir nicht alle durch die Tür.«

Rule lächelte sie von der Seite an. »Mark geht als Erster rein.«

»Du meine Güte.«

»Das ist so üblich«, versicherte ihr Mark. »Ein Rho geht niemals als Erster durch die Tür.«

»Ich bin kein Rho. Ich bin diejenige, die das Gebiet für andere Leute sichert.«

»Nicht dieses Mal«, sagte Rule.

»Ich würde dir gerne widersprechen, aber das ist Arjenies Klingelton.« Sie holte ihr Handy heraus, als sie vor der Drehtür standen, die in die Lobby führte. Mit einem Seufzen wartete sie neben Rule, während Mark als Erster hindurchging. »Hallo, Arjenie. Heißt das, dass du etwas für mich hast?«

»Dann störe ich nicht gerade? Gut. Ich habe dir die Dateien gemailt. Du hast mich nicht gebeten, dich anzurufen, deswegen war ich mir nicht sicher, ob ich es tun sollte, doch irgendwie hatte ich so ein Gefühl, dass du es gern hören würdest.«

Lily hatte Arjenie um die kompletten Personalakten von Sjorensen, Mullins und Drummond gebeten, obwohl sie eigentlich nicht berechtigt war, sie einzusehen. Selbst wenn sie noch zur Einheit gehört hätte, hätte sie dazu Rubens schriftliche Genehmigung gebraucht. Doch Rule hatte gesagt, Arjenie hätte jetzt die höchstmögliche Sicherheitsfreigabe. Sie hatte Zugang zu allem.

Mark hatte tatsächlich die Lobby erreicht, ohne dass jemand auf ihn geschossen hatte. Er nickte, woraufhin auch Lily und Rule es wagen durften, ihrerseits die Drehtür zu betreten. »Eigentlich passt es gerade gut«, sagte Lily, als die Tür sie in die kleine, leere Lobby entließ. »Hast du etwas Interessantes gefunden?«

»Nicht viel über Sjorensen, sie war eine gute Schülerin und hat in Quantico gut abgeschnitten. Auch über Mullins nicht viel, außer dass er ein trockener Alkoholiker ist so sagt man, weißt du, selbst wenn sie schon lange nichts mehr getrunken haben, so wie er. Zwölf Jahre. Aber deswegen habe ich nicht angerufen.«

Lily lächelte. Arjenie fiel es schwer, auf den Punkt zu kommen. »Du hast etwas über Drummond gefunden?«

»Ich glaube, ja. Vielleicht. Seine Frau ist letztes Jahr gestorben. Sie waren zweiundzwanzig Jahre verheiratet. Keine Kinder.«

Sie gingen zu den Aufzügen. »Inwiefern ist das wichtig?«

»Wegen der Umstände, unter denen sie gestorben ist. Sie wurde von einer Frau namens Martha Billings getötet, die Drummond vor einigen Jahren verhaftet hatte. Billings hatte eine Feuergabe und Beziehungen zur Mafia und die schlechte Angewohnheit, für Geld Sachen abzufackeln.«

»Ah.« Eine magisch Begabte hatte seine Frau getötet. »Was ist passiert?«

»Billings kam aus dem Gefängnis, hat eine Woche lang Party gemacht und ist dann hingegangen und hat Drummonds Haus niedergebrannt. Er war nicht zu Hause, aber seine Frau. Sie starb an Rauchvergiftung. Obwohl es niemand gesehen hat, weiß man, dass es Billings war, denn sie hat gestanden. Weil sie sauer war, nicht wie geplant Drummond erwischt zu haben, schickte sie ihm ein Video, auf dem zu sehen war, wie sie schrie, sie habe seine Frau getötet, und er sei als Nächster dran. Kannst du dir das vorstellen? Sie hat in einem Video gestanden.«

»Kriminelle sind oft nicht besonders intelligent.« Die Aufzugtüren öffneten sich, und die drei stiegen ein.

»Obwohl sie gestanden hatte, ist sie untergetaucht. Drummond ist durchgedreht und hat sein Büro in Stücke geschlagen. Danach ist er verschwunden. Hat sich einfach in Luft aufgelöst, seine Fälle liegen lassen, war nicht mehr aufzufinden. Zwei Wochen war er weg, und in diesen zwei Wochen wurde Billings’ Leiche gefunden.«

»Das ist definitiv einen Anruf wert«, sagte Lily. »Ich nehme an, es gab nichts, was ihn in Verbindung mit Billings’ Tod brachte?«

»Nein, ihr Tod wurde als Unfall deklariert. Das Auto, das sie fuhr, ging in Flammen auf. Es gab Zeugen, doch die haben nur gesehen, wie es plötzlich in Flammen stand. Es gab keine Hinweise auf Brandbeschleuniger oder darauf, dass Schüsse abgegeben wurden, nichts. Die ermittelnden Beamten entschieden daraufhin, dass sie plötzlich die Kontrolle über ihre Gabe verloren hatte. Angeblich hat sie Drogen genommen, und die haben ihre Kontrollfähigkeit beeinträchtigt«, fügte Arjenie hinzu. »Also wäre es plausibel. Vier Tage danach erschien Drummond wieder auf der Bildfläche. Er sagte, er habe die ganze Zeit getrunken und würde sich an nichts erinnern, doch seine Kreditkartenabrechnung bewies, dass er in einem Hotel in Tennessee war, weit weg von Boston. Und in Boston ist Billings gestorben. Dass das eigentlich kein richtiges Alibi war, war egal, da Billings Tod ja nicht als Mord erklärt worden war.«

Sie waren im sechsten Stock angekommen. Die Türen öffneten sich. Mark ging als erster hinaus, Lily und Rule folgten ihm dichtauf. Der Flur war leer. »Das stand aber nicht alles in Drummonds Personalakte.«

»Nein, aber genug, um mich neugierig auf den Rest der Geschichte zu machen, deshalb habe ich weitergegraben.«

»Worum ich froh bin. Danke, Arjenie. Du kannst mich jederzeit anrufen, wenn du noch einmal so ein Gefühl hast. Hast du etwas zu Drummonds Alibi zwischen fünf und sechs am Tag von Rubens Herzinfarkt finden können?«

»Um drei Uhr dreißig hatte er eine Zahnreinigung, und der Zahnarzt sagt, dass er vermutlich gegen vier Uhr vierzig gegangen ist. Aus den Notizen des Agenten ist zu schließen, dass er gegen fünf im Hauptquartier angekommen ist, falls es auf den Straßen nicht allzu voll war, aber schlussendlich wurde er aufgrund der Scans, der Überwachungsbilder und der Zeugenaussage der Wachleute, die an diesem Tag am Eingang Dienst hatten, ausgeschlossen. Sie kennen Drummond vom Sehen«, ergänzte sie. »Er arbeitet seit Jahren im Hauptquartier.«

»Hmm. Also, schick mir die Kontaktdaten des Zahnarztes und seine Adresse, okay? Danke.« Arjenie bat sie, auf sich aufzupassen, und Lily legte auf. Sie sah Rule an. »Hast du alles mit angehört?«

Er nickte. »Du sagtest, Drummond habe etwas gegen Magie. Jetzt wissen wir auch, warum.«

»Es ist zwar kein Beweis, aber es gibt doch zu denken. Wenn er es einmal richtig fand, das Recht selbst in die Hand zu nehmen, könnte er es auch wieder tun. Eine magisch Begabte auszuschalten, war ihm vielleicht nicht genug. Vielleicht will er uns alle loswerden.«

Sie standen vor einer Tür mit der Nummer 715 über dem Spion. Lily klopfte.

Keine Antwort. Sie wartete einen Moment und klopfte noch einmal. Vorher angerufen hatte sie nicht. Damit hätte sie es Sjorensen zu leicht gemacht, sie abzuweisen. »Verdammt. Dann müssen wir es wohl später noch einmal versuchen.«

»Lily. Bitte tritt einen Moment zur Seite.«

Etwas in Rules Stimme hielt sie davon ab, zu fragen, warum. Sie ging von der Tür weg. Er stellte sich davor und hielt die Nase an den Spalt zwischen Tür und Rahmen. Witternd ging er langsam in die Hocke. Dann richtete er sich wieder auf und drehte sich um. »Ich rieche Blut.«

Mit einer Hand wühlte sie in ihrer Handtasche. Zog ihre Waffe mit der anderen. Und stieß ihn mit dem Ellbogen zur Seite.

Zu ihrer Überraschung ließ er sie gewähren. »Anna!«, rief sie laut und schlug mit der Hand, die die Waffe hielt, gegen die Tür. »Anna, alles in Ordnung?«

Keine Antwort. Sie hatte auch keine erwartet. Die hektisch in der Tasche tastende Hand traf auf das, was sie gesucht hatte. Sie zog einen einzelnen Latexhandschuh hervor, reichte die Waffe an Rule weiter und zog den Handschuh über. »Anna!«, rief sie wieder, noch lauter dieses Mal. »Ich habe Grund zu der Annahme, dass Sie verletzt sind. Wenn Sie nicht antworten, werde ich mir gewaltsam Eintritt verschaffen.«

Die Waffe in der rechten Hand im Anschlag fasste sie mit der behandschuhten linken Hand nach dem Türknauf. Die Tür hatte ein Schlüsselkartenschloss wie in einem Hotel, und das Lämpchen leuchtete rot, deshalb war sie erstaunt, als der Knauf sich drehte. Sie stieß die Tür auf und machte schnell, bevor die beiden Lupi sie zur Seite schieben konnten, einen Schritt hinein.

Eine kleine Diele, die auf eine leere Wand wies und fast sofort nach links abbog. Tropfen von getrocknetem Blut auf dem hellbeigen Teppich. Und ein sehr eigensinniger, sehr schneller Mann, der sich an ihr vorbeidrängte und weiterlief.

»Bleib zurück«, befahl sie Mark, ohne zu wissen, ob er auch gehorchen würde, und folgte ihm, so schnell sie ihre menschlichen Beine trugen, die Waffe schussbereit.

Zur Linken eine Küchennische. Direkt vor ihr ein Zimmer auf einer Seite das Bett, die Couch, der Schreibtisch, auf der anderen ein kleiner Tisch für zwei Personen. Große Fenster mit geschlossenen Vorhängen. Und ein hübscher rotbrauner Fleck auf dem Teppich direkt vor ihr.

Keine Leiche. Keine Anzeichen für einen Kampf, abgesehen von dem Blut.

Rule bewegte sich schnell durch den kleinen Raum und blieb hier und da lauschend und witternd stehen. Wohl um sicherzugehen, dass sie allein waren, dachte sie. Mark Wunder über Wunder war tatsächlich draußen stehen geblieben und bewachte die Tür. Lily ging in die Hocke und untersuchte den Blutfleck.

Er war nicht frisch, aber in der Mitte sah er noch feucht aus. Ganz in der Nähe waren einige kleine Tröpfchen. Sie legte den Kopf schief. Sie war zwar keine Expertin, aber das sah nicht aus wie Spritzer von einer Schussverletzung. »Riechst du Schießpulver?«, rief sie. Rule war in dem winzigen Badezimmer verschwunden.

»Nein.«

Das Blut stammte nicht aus der Wunde. Es gab nur diese wenigen Spritzer. Eine Kopfwunde vielleicht? Es sah aus, als hätte das Opfer einen Schlag bekommen, wäre ein oder zwei Schritte gestolpert und dann gestürzt. Dann wäre der größte Fleck dort, wo sie gelegen hatte, bewegungslos, während ihr Blut in den Teppich sickerte.

Lily hob den Kopf und sah sich um. Braune Flecken führten von ihr weg, als hätte die Wunde noch getropft, als das Opfer hinausgetragen wurde. Oder war es selbst gegangen? »Kannst du mit Sicherheit feststellen, ob das Sjorensens Blut ist?«

Er kam aus dem kleinen Badezimmer. »Vermutlich. Dazu muss ich aber näher kommen.«

»Aber fass nichts an.«

Er kam und kniete sich neben den Fleck, beugte sich hinunter und sog prüfend die Luft ein. Hielt einen Moment still, den Mund leicht geöffnet. »Das ist Annas Blut.«

»Eine Spur führt weiter zur Tür. Blutstropfen. Ich weiß nicht, ob es genug ist, um daraus zu schließen, dass sie zu dem Zeitpunkt noch am Leben war und ihr Herz vielleicht noch geschlagen hat. Vielleicht war es so. Ich würde nur gerne wissen, ob sie selbst gegangen ist oder getragen wurde. Kannst du das durch Riechen feststellen?«

»Nicht in dieser Gestalt. Vermutlich nicht einmal als Wolf. Da sind noch andere Gerüche.« Er roch wieder an dem Teppich, dieses Mal einen halben Meter von dem Blutfleck entfernt, änderte dann seine Position und wiederholte das Ganze. »Die meisten sind von Anna, aber zwei der Spuren, die nicht von ihr stammen, sind frisch. Sie kamen herein, sind hier herumgelaufen und wieder hinausgegangen. Ob sie getragen wurde, kann ich beim besten Willen nicht sagen.«

»Okay.« Sie zückte ihr Handy. »Willst du lieber nicht hier gewesen sein?«

Er zog die Brauen zusammen. »Wie bitte?«

»Ich rufe Croft an. Wahrscheinlich sollte ich die Polizei informieren, aber Croft kann schnell alles Notwendige in die Wege leiten, und wir dürfen keine Zeit verlieren. Sie könnte noch am Leben sein. Aber das bedeutet, dass wir hier eine Weile festsitzen. Es könnte auch so gewesen sein, dass du und Scott mich und Mark abgesetzt habt und du gar nicht mit reingekommen bist. Gerade jetzt bist du auf dem Weg zur Suppenküche in der Twelfth Street.«

»Wir trennen uns nicht. Wenn du hierbleibst, bleibe ich auch.«

Sie gab nach und begann zu wählen.