22
»Du hättest es ihm sagen sollen«, sagte Scott.
Sie befanden sich in Rules Auto und auf dem Weg nach Bethesda. Selbstverständlich saß Scott am Steuer. Lily hatte die Heizung angestellt. Die Sonne war untergegangen, und die Temperaturen fielen weiter. War es nicht eigentlich noch zu früh für Schnee? Hoffentlich. Sie hatte keinen dicken Mantel eingepackt.
Rule war im Rettungswagen bei Cullen. Das Band der Gefährten sagte ihr, dass sie immer noch in Bewegung waren, das hieß, sie hatten das Krankenhaus noch nicht erreicht. Trotzdem würden sie lange vor ihnen dort eintreffen, schließlich waren sie auch als Erste losgefahren. Denn bevor Lily durch das anbrandende Meer von Reportern gewatet war, hatte sie die Beweismittel abgeben und sich ihren Arm verbinden lassen müssen, damit er nicht auf ihre Jacke blutete.
Sherry hatte recht gehabt mit ihrer Vermutung über das Opfer, das der Elementargeist fordern würde. Der kleine, saubere Schnitt befand sich in ihrer Armbeuge … der Armbeuge ihres linken Arms. Diese Hand funktionierte wieder. Noch nicht ganz wie zuvor, aber beinahe. »Ich werde es ihm sagen. Aber unter vier Augen.«
Unter vier Augen waren sie bei Fagin nicht gewesen. Sobald der Elementargeist sich bereit erklärt hatte, sie freizulassen, war alles ganz schnell gegangen. Sie hatten nur sehr wenig Zeit gehabt, um den Deal mit Blut zu besiegeln und anschließend selbst über den Erdwall zu klettern oder sich darüber heben zu lassen. Dann waren sie sofort von Cops, sowohl der örtlichen Dienststelle als auch der Bundespolizei, umringt gewesen, während sich die Presseleute auf der anderen Seite der Absperrung drängten.
»Wann willst du es ihm sagen?«
»Wahrscheinlich im Krankenhaus. Mit Rule redest du nicht so.«
»Du bist nicht mein Rho. Und Rule widerspreche ich auch, wenn ich meine, dass es wichtig ist. Nicht wenn jemand dabei ist, aber danach.«
Sie seufzte und strich sich das Haar mit der linken Hand zurück. Die Finger waren noch immer dick und ungelenk, aber immerhin fühlte sie sie. Und konnte sie benutzen.
Dieses Mal war es kein Schmerzblitz gewesen. Die Hand hatte einfach vergessen, dass sie Teil ihres Körpers war. Oder vielleicht hatte das Gehirn vergessen, wie man mit der Hand sprach. Die Lähmung hatte zwar nicht lange angedauert, doch für ein paar Minuten hatte Lily große Angst gehabt. Sie hatte Scott losgeschickt, um ihr Kaffee zu holen – abgestandenes Zeug, das er in der Mikrowelle aufgewärmt hatte. Er schien trotzdem geholfen zu haben.
Lily ließ die Hand in den Schoß sinken. Sie schloss die Finger zu einer losen Faust. Öffnete sie. Schloss sie wieder. »Danke, dass du mir Zeit lässt, es ihm selbst zu sagen. Und das werde ich. Ich bin nicht so dumm zu glauben, ihm so etwas verschweigen zu können.« Oder dass sie das Recht dazu hätte. Doch bei Gott, sie fürchtete sich vor dem Moment.
Rule stand am Rand eines dunklen Abgrunds. Sie mochte vielleicht nicht verstehen, wie es in diesem Abgrund aussah, aber sie wusste, dass es so war. Sie hatte schon früher erlebt, wie sich seine Augen langsam schwarz färbten – wenn sie bedroht wurde, wenn er eingesperrt war, als kurz vor der Wende das erste Mal der Energiewind über sie hinwegfegte.
Dass das Wilde versuchte, die Kontrolle zu übernehmen, ihn zum Wandel zu zwingen, wenn alles ruhig war, hatte sie bisher jedoch noch nicht erlebt. Sicher, er war verärgert, dass Cullen verletzt worden war. Aber Ärger, selbst Wut hatten seine Selbstbeherrschung noch nie gefährdet.
Vielleicht hatte er sich durch den Schutzbann wie in einer Falle gefühlt? Das und das Bevorstehen des Vollmonds … ja, das könnte es sein.
Ihre Halsmuskeln lockerten sich vor Erleichterung. Rule litt unter Klaustrophobie, auch wenn es ihm nicht gefiel. Doch normalerweise wurde sie durch kleine, enge Räume ausgelöst, und Fagins Garten war nicht klein. Nicht so wie eine Aufzugkabine, die Rule zwar hasste, aber regelmäßig nutzte. Nicht wie die engen Sitze im Flugzeug … die er ebenfalls hasste, aber regelmäßig nutzte. Seine Augen wurden nicht schwarz, wenn sie quer durchs Land flogen.
Aber er hatte in der Falle gesessen. Bis der Elementargeist sie freigelassen hatte, hatte Rule tatsächlich in der Falle gesessen. »Hat es dir etwas ausgemacht?«, fragte sie Scott. »In dem Schutzbann festzusitzen, meine ich.«
»Gefallen hat es mir nicht, aber ich wusste ja, dass wir früher oder später da rauskommen. Warum?«
»Manche Lupi leiden unter leichter Klaustrophobie.«
»Unter leichter, ja, das trifft vermutlich auf uns alle zu. Aber es war ja genug Platz da, und wie ich schon sagte, ich wusste, dass wir da rauskommen würden. Ich schätze, wenn wir ein paar Tage dort festgesessen hätten, wäre mir wohl mulmig geworden, aber so waren es ja nur zwei Stunden.«
Zwei Stunden und zwanzig Minuten, um genau zu sein. Zeit genug für Lily, um mit Scotts Hilfe reichlich Glasscherben einzutüten und zu beschriften. Und vielleicht auch dank des Kaffees, den sie getrunken hatte. Lily betrachtete die Faust, die sie immer wieder ballte und öffnete. Jetzt gelang es ihr schon besser.
Sie hätte sofort zu Rule gehen können, um es ihm zu sagen, sofort, als es passiert war. Das jedenfalls hätte Scott gern gesehen. Stattdessen hatte sie weiter Spuren gesichert. Vielleicht war das falsch gewesen. Zweifellos würde Rule wütend sein, dass sie gewartet hatte. Doch diese Anfälle hatte sie nicht, weil sie sich zu sehr anstrengte, sondern weil die Dame an der blöden Clanmacht herumpfuschte.
Und das war auch der Grund, fürchtete sie, warum Rule so gefährlich nah an diesem Abgrund stand. Die Wut brachte ihn aus dem Gleichgewicht, Wut über den Verrat. Darüber konnte sie mit Scott nicht sprechen. Mit Cullen schon; wenn er nicht verletzt gewesen wäre, hätte sie ihn danach fragen können. Aber Rule war Scotts Rho. Lupi mussten wissen, dass ihr Rho sich in der Gewalt hatte.
Und das hatte er, redete Lily sich ein. Vielleicht musste er darum kämpfen, doch er hatte den Kampf nicht verloren. Trotzdem hoffte sie, dass sie bald bei diesem verdammten Krankenhaus ankamen. Geistesabwesend rieb sie sich die Armbeuge.
»Tut dein Arm weh?«, fragte Scott.
»Es zieht noch ein bisschen. Nicht schlimm. Deine Wunde ist wahrscheinlich schon komplett verheilt.«
Er klang entschuldigend. »Sie war nicht sehr tief.«
Das Blutopfer war von einer kleinen Zeremonie begleitet gewesen. Sie und Cullen hatten nur eine symbolische Menge geben müssen, nicht mehr als ein medizinischer Vampir für einen Bluttest abnehmen würde. Scott und Rule hatten sehr viel mehr gespendet. Der Elementargeist war besonders interessiert an Lupus-Blut gewesen, denn das war neu für ihn.
Blutopfer dagegen waren es nicht. Ein Grund, warum die Verhandlungen so wenig Zeit in Anspruch genommen hatten, sagte Sherry, sei die Tatsache, dass der Elementargeist sowohl alt sei, als auch vertraut mit menschlichen Vorstellungen. Englisch beherrschte er zwar nicht, aber er verstand die Ideen hinter den Worten mit relativ wenig Erklärungen. Die Menschen, mit denen er früher verhandelt hatte, sprachen eine andere Sprache und nannten sich Acolhuas, Tepaneken und Mexica. Heutzutage nannte man diese Völker einfach Azteken.
Die offenbar nach dem Motto gelebt hatten: Spare in der Zeit, dann hast du in der Not, denn einen Teil der Todesmagie, den sie bei ihren rituellen Tötungen gewannen, und des Blutes, das von ihren Altären floss, hatten sie den Erdgeistern geopfert. Oder zumindest diesem hier.
Sicher war es ein Fehler, einem Elementargeist zu trauen, der dank menschlichen Blutes so alt und mächtig geworden war. Sherry versicherte Lily, dass das Wesen nicht gegen die Bedingungen der Vereinbarungen verstoßen würde. Doch der Gedanke, dass eine solche Macht unter einem dicht besiedelten Stadtgebiet wie Washington lauerte, machte Lily nervös. Und wenn es sie nervös machte, wie würden dann erst alle anderen reagieren? Sie musste dringend –
Ihr Handy klingelte. Sie zog es aus der Hosentasche und warf einen Blick auf das Display. Langsam ging der Akku zur Neige. Sie musste ihn bald aufladen. »Agent Yu«, sagte sie und kramte in ihrer Handtasche nach dem Ladegerät.
»Ich bin’s. Anna. Anna Sjorensen.«
Ihre Stimme klang angespannt. Unglücklich. »Was ist los?«
»Erinnern Sie sich, dass ich Ihnen gesagt habe, wir hätten möglicherweise einen Anhaltspunkt, der den Dolch betrifft? Nun, das hat sich bestätigt. Auf jeden Fall sieht es so aus, aber ich kann es einfach nicht glauben. Irgendetwas stimmt da nicht. Obwohl ich nicht begreife, was, aber ich bin kein Computer-Ass, also vielleicht –«
»Anna, was ist passiert?«
Lily hörte, wie die junge Frau tief Luft holte. »Wir haben den Dolch zu seinem Verkäufer zurückverfolgen können. Es war eine Kreditkartentransaktion, und sie wurde bestätigt und mehrfach geprüft. Die Kreditkarte – die Adresse, an die der Dolch geschickt wurde – beide gehören Ruben Brooks. Drummond hat einen Haftbefehl beantragt.«
Rule fühlte sich denkbar unwohl in dem Rettungswagen.
Cullen schien die Enge und das Eingesperrtsein nichts auszumachen, doch er zuckte zusammen, als die Sirene anging. Er hatte den Schmerz außergewöhnlich gut ertragen, doch nun dauerte er schon zu lange an. Langsam ging ihm die Mischung aus Willenskraft und Neugier aus, die für einen klaren Kopf gesorgt hatte.
Normalerweise erlaubten die Sanitäter keine Passagiere im hinteren Teil ihres kleinen mobilen Herrschaftsbereichs, doch Rule hatte ihnen erklärt, dass er Cullen ruhig halten könne. Beinahe hätte das dazu geführt, dass sie noch später aufgebrochen wären. Als einer der Sanitäter – der Rotschopf – herausfand, dass sein Patient ein Lupus war, war er ein wenig in Panik geraten. Doch Rule hatte ihn besänftigten können und Cullen sich so weit aufgerafft, Scherze mit dem jungen Mann zu machen.
Humor wirkte immer. Darin waren Menschen komisch. Jemandem, der sie zum Lachen brachte, vertrauten sie eher, als könnte ein und dieselbe Person nicht lustig und gefährlich zugleich sein. Aber der junge Mann hatte sich entspannt, und sie hatten Cullen einladen können.
Und in noch einer Hinsicht hatten sie die normale Prozedur umgestoßen. Beide Sanitäter hatten sich entschieden, vorn einzusteigen, sobald die Infusionsnadel gelegt war. Das war praktisch. Auch ohne sie war es hinten eng genug. Außerdem fiel es Cullen so leichter, sich nicht zu wandeln.
Verbrennungen waren unglaublich schmerzhaft … und es war fast Vollmond. Wenn Rule nicht bei Cullen mitgefahren wäre, wären die Sanitäter möglicherweise mit einem Wolf statt einem Mann auf ihrer Bahre in der Notaufnahme angekommen.
Denn die Verletzungen und der Mond weckten Cullens Wolf. Während die Sirene heulte, starrte er Rule schweigend an, und hinter den glitzernden Augen sah Rule mehr Wolf als Mann. Cullens Wolf würde die Gerüche oder die Geräusche in der Notaufnahme nicht mögen. Es würde ihm nicht gefallen, dass so viele Fremde in seiner Nähe waren, wenn er schwach und verletzt und unfähig war, sich zu verteidigen. Er würde nicht angefasst werden wollen. Er würde überhaupt nicht das Krankenhaus betreten wollen.
Auch Rules Wolf wollte das nicht. Oder vielleicht war es auch der Mann in ihm, der am liebsten dem Fahrer zugerufen hätte, er solle anhalten.
Denn auch Rules Wolf versuchte, sich zu erheben, gerufen vom Lied des Mondes und getrieben von der Wut. Tief in seinem Inneren zog sich ein harter und blutiger Knoten aus Stille zusammen. An diesem Ort gab es keine Worte, nur Zähne … doch Rule kannte die Worte. Sein Wolf wollte – brauchte – heißes Blut, das aus der Kehle seines Feindes spritzte, wenn seine Zähne die Halsschlagader durchbissen hatten. Die Eingeweide, die aus seinem fleischigen Bauch quollen.
Friars Eingeweide. Friars Blut.
Es war am besten, wenn er jetzt nicht daran dachte. Nicht, wenn sie gleich von dem Geruch von Blut und Krankheit umgeben waren. Zwar war es Friars Blut, das der Wolf begehrte, doch dieses Begehren konnte sich jederzeit in Hunger verwandeln. Rule hatte viel zu viel Zeit in Krankenhäusern verbracht, doch nie, wenn sein Wolf so … erregt war.
Hatte er die richtige Entscheidung getroffen? Rule blickte auf seinen Freund hinunter. Seinen Clansmann. Cullen hatte jetzt die Augen geschlossen. Sein Atem ging gleichmäßig und flach, als schliefe er, doch Rule wusste, dass es nicht so war. Sein Herz schlug nur regelmäßig.
Cullen würde mit oder ohne ärztliche Pflege genesen. Es würde schneller gehen, wenn die verbrannte Haut gereinigt und die fehlende Flüssigkeit mit einer schnell wirksamen Infusion ersetzt wurde. Aber nichts davon war entscheidend, vor allem, weil sie jederzeit auf die Rhej der Leidolf zurückgreifen konnten.
Eigentlich musste Rule seinen Freund nicht in die Notaufnahme bringen. Aber wenn er es nicht tat, würde er lügen müssen – entweder direkt oder indirekt. Er würde sich entgegen allen Erwartungen verhalten. Bei den Leidolf mochte es nicht üblich sein, sich an Menschen um Hilfe für die Verwundeten zu wenden, bei den Nokolai schon. Und als Lu Nuncio der Nokolai, als Rho der Leidolf, durfte Rule nicht schwach aussehen.
Keiner der Lupi um ihn herum – nicht einmal Cullen, egal wie eng sie befreundet waren – durfte je bemerken, dass Rule sich nicht immer hundertprozentig in der Gewalt hatte. Doch nicht aus politischen Überlegungen heraus, sondern es war seine Pflicht. Die erste Pflicht eines Rhos gegenüber seinem Clan war es, stark genug zu sein, um wenn nötig sowohl seinen eigenen Wolf als auch die Wölfe des Clans zu kontrollieren. Selbst Victor Frey, der ein grausamer und verrückter Rho gewesen war, hatte diese Kardinaltugend besessen: absolute Selbstbeherrschung. Zumindest hatte es so ausgesehen.
Isen behauptete, Letzteres sei fast genauso gut wie Ersteres. Kein Rho habe sich immer in der Gewalt, deswegen sei es das Beste, stets nach Ersterem zu streben, aber die Notwendigkeit von Letzterem in seltenen Fällen zu akzeptieren.
Laut Isen konnte ein Rho seinen Clan auf andere Weise täuschen.
In seinen Augen ehrte eine ungenierte Lüge weder den Rho noch den Clan, da sie das Vertrauen erschütterte … es sei denn, sie wäre nötig. Wenn das Wohl des Clans von einer Lüge abhängen, wenn alle anderen Optionen schlimmeren Schaden bedeuten würden, dann durfte ein Rho lügen. Doch er sollte es so geschickt tun, dass sein Clan es nicht bemerkte. Nicht aus Bequemlichkeit. Nicht aus Angst. Und immer nur, um das wichtigste Ziel zu erreichen. Und wenn ein Rho tatsächlich die Notwendigkeit sah, seinen Clan offen anlügen zu müssen, war die Wahrscheinlichkeit hoch, dass er ziemlichen Mist gebaut hatte.
Natürlich hatte Rule nachgefragt, als sein Vater ihm diesen Rat, kurz nachdem er ihn zum Lu Nuncio ernannt hatte, gegeben hatte. Zwei Mal, hatte Isen geantwortet. Zwei Mal in über fünfzig Jahren als Rho hatte er den Clan angelogen. Doch würde er Rule nicht sagen, bei welchen Gelegenheiten.
Rule fand, dass zwei Lügen in über fünf Jahrzehnten ein ziemlich überzeugendes Votum für Ehrlichkeit war.
Irreführung dagegen … Verschweigen, Teilwahrheiten, der subtile Einsatz von Minenspiel, Gesten und Worten, um entweder zu täuschen oder zu verwirren … davon hielt Isen mehr. Geplante Irreführung hielt er in vielen Fällen für akzeptabel. Was keine Überraschung war, denn schließlich war er ein großer Meister dieser gefährlichen Kunst.
Doch die Kompassnadel musste immer, immer zum Wohl des Clans ausschlagen.
Heute zu lügen hatte Rule nicht einmal in Betracht gezogen. Er hätte einfach entscheiden können, nicht ins Krankenhaus zu fahren. Er musste nichts erklären. Aber dann würde sein Volk, sowohl die Nokolai als auch die Leidolf, Fragen stellen. Warum hatte Cullen keine Behandlung bekommen? Was wusste Rule? War es nicht mehr sicher, öffentlich als Lupus zu leben? Fürchtete er einen Angriff ihrer Gegner? Reichte Rules Selbstbeherrschung nicht, um ein paar Stunden in der Notaufnahme zu überstehen?
Solche Spekulationen schadeten dem Clan. Beiden Clans. Und damit war Rule wieder am Anfang. Er musste Cullen in die Notaufnahme bringen.
Als er aus seinen Gedanken zurückfand, stellte er fest, dass Cullens strahlend blaue Augen ihn erneut fixierten. Er rang sich ein Lächeln ab und legte Cullen die Hand auf die Schulter. »Bald sind wir da.«
»Und dann wird’s erst richtig lustig.«
»Ich fürchte ja.« Cullen war immer noch der Sprache mächtig. Gut. Rule war sich dessen nicht sicher gewesen. Die meisten Lupi, deren Wolf so stark war, wären bereits jetzt vierbeinig gewesen … aber deswegen war Rule ja hier. Er zog noch mehr Energie aus der Clanmacht der Nokolai, um Cullen Ruhe zu vermitteln. »Die Rhej der Leidolf erwartet uns dort. Sie wird dir helfen. Kannst du den Schmerzblocker-Zauber verwenden, wenn die Wunden gereinigt werden?«
»Wenn sie sich beeilen.«
Diesen Zauber hatte Cynna entdeckt oder entwickelt, und er wirkte ausgesprochen gut. Doch leider stellte er nicht nur den Schmerz ab – sondern auch den Heilungsprozess. Der Körper vergaß, dass er verletzt war.
Zuerst – und das war das Schlimmste – gerann das Blut nicht mehr. Auch wenn der Blutverlust nicht das Problem war, verursachte der Zauber Schäden. Der gesamte komplexe Prozess der Heilung war gestört – es wurden keine Fibroblasten gebildet, die Leukozyten und andere Immunabwehrstoffe eilten nicht sofort zur Wunde, das endokrine System kam durcheinander, hormonelle Signale wurden nicht beachtet oder gar nicht gesendet. Die Selbstheilungskräfte der Lupi brachten solch ein Ungleichgewicht schnell wieder in Ordnung, doch der Zauber war für sie ebenso gefährlich wie für Menschen. Er war ein Energiefresser, ein Vampir. Selbst als Talisman – und nur so konnten die meisten Lupi den Zauber anwenden – saugte er dem Lupus die eigenen Heilkräfte aus.
Doch nur kurze Zeit angewendet, war der Zauber ein Segen, und Cullen konnte sicherer als jeder andere damit umgehen. Auch wenn Rule Cullens Begriff von Sicherheit misstraute. Er sah seinen Freund prüfend an und seufzte. »Du hast ihn schon aktiviert, nicht wahr?«
»Ein bisschen.«
»Cullen –«
»Bin nicht dumm. Habe mich vergewissert, dass er sich aus meinem Diamanten speist, nicht aus mir. Musste doch mit Cynna reden, oder? Wollte nicht, dass sie Angst hat.«
»Außerdem musstest du den verdammten Schutzbann untersuchen. Und dich mit Sherry beraten. Und –«
»Du bist angespannt.«
Rule schnaubte. »Ich hasse Krankenhäuser.« So viel konnte er sagen. Cullen würde es akzeptieren, hatte es sicher auch erwartet.
»Du brauchst Lily. Sie wird dir helfen.«
»Sie ist im Wagen hinter uns.«
»Du brauchst sie«, wiederholte Cullen und schloss die Augen.
Cullen – oder sein Wolf – war ein viel zu guter Beobachter. Rule brauchte Lily in der Tat. Ihre Berührung würde ihm sehr helfen … wegen des Bandes der Gefährten. Das Band, das Lily erst verflucht, dann akzeptiert und schließlich zu schätzen gelernt hatte, weil es ihnen beiden Gutes brachte.
Das Band der Gefährten. Das Geschenk der Dame.
Der blutige Knoten in Rules Innerem zog sich immer fester zusammen.
Sowohl der Mann als auch der Wolf hatten Angst um Lily, wollten sich nicht von ihr trennen, wollten das wiedergutmachen, was nicht in ihrer Macht lag. Doch es war der Mann, der sich verraten fühlte … und wusste, dass dieser Verrat nicht nur bei der Dame, sondern auch bei ihm selbst zu suchen war. Es war der Mann, der von Schuldgefühlen geplagt war.
Du musst dein Einverständnis geben, hatte er Lily gesagt. Als sie neben dem sterbenden Brian gekniet hatten, hatte er ihr gesagt, dass die Dame nichts ohne ihr Einverständnis tun würde. Er hatte sie nicht gedrängt, die Clanmacht der Wythe anzunehmen, aber er hatte Beihilfe dafür geleistet. Er hatte gewusst, dass sie eigentlich nicht daran glaubte, als er sie darum gebeten hatte. Dass sie dachte, es sei rein hypothetisch.
Er hatte sie nicht vor der Gefahr gewarnt. Weil er sie selbst nicht erkannt hatte.
Dumm, dumm, dumm, …
Sie fuhren langsamer, wendeten und bremsten noch weiter ab. Die Sirene verstummte. Als Rule über die Schulter zurück durch die Windschutzscheibe blickte, erhaschte er einen kurzen Blick auf die Türen der Notaufnahme, bevor der Rettungswagen nach rechts abbog und zurücksetzte. »Wir sind da«, sagte er zu Cullen und drückte seine Schulter.
Cullens Augen flogen auf. Lebendige Augen, ganz eindeutig wach und bei Bewusstsein … doch nicht die eines Menschen. Wolfsaugen. Er sagte nichts, rührte sich nicht.
»Gut«, sagte Rule leise. »Bleib ganz ruhig. Das ist gut.« Er machte das Zeichen für »Halt still«, um das Gesagte noch zu unterstreichen. Cullen-Wolf verstand zwar Englisch sehr gut, doch für einen Wolf war Körpersprache aussagekräftiger.
Sie hielten an. Der Fahrer öffnete die Tür auf seiner Seite und sprang heraus. Der andere Sanitäter stieg zu Rule in den rückwärtigen Raum; Rule musste rutschen, um ihm Platz zu machen. Cullen drehte den Kopf, um Rule weiter im Blick zu behalten, woraufhin Rule erneut das Zeichen für »Halt still« machte.
Er gehorchte und blieb liegen. Die Hintertüren des Rettungswagens wurden aufgerissen. Der Fahrer packte das Fußteil der Bahre und zog sie gemeinsam mit dem Rotschopf hinaus. Rule folgte und sprang leichtfüßig zu Boden … und erstarrte.
Drei Pistolen waren auf sie gerichtet. Drei Pistolen, gehalten von drei uniformierten Wachmännern, die sich zwischen ihnen und den offenen Türen der Notaufnahme aufgebaut hatten. Nein – sie zielten auf den Patienten. Auf Cullen.
Ein Grollen wollte in Rules Brust aufsteigen.
Die Sanitäter blieben wie angewurzelt stehen. »He, was soll denn das?«
»Nur eine Vorsichtsmaßnahme«, sagte einer der Wachmänner. Sein Haar war grau, seine Arme dünn, und sein Bauch glich das aus, was seine Brust über die Jahre verloren hatte. Er trug eine Gleitsichtbrille. Seine .45 hielt er mit beiden Händen gepackt. »Das ist ein Lupus-Patient. Wir wollen nur sicher sein, dass er niemanden verletzt.«
»Ich weiß, dass er ein Lupus ist. Deswegen ist der andere ja da«, sagte der Rotschopf und deutete mit dem Kopf auf Rule.
Der Blick des Wachmanns zuckte zu Rule hinüber. »Ist er auch ein Lupus?«
»Ja, aber er war –«
»Keine Bewegung, Sie da.« Die Pistole des Wachmanns schwenkte auf Rule. »Manny, gib Joe Deckung, während er dem auf der Bahre Handschellen anlegt. Ich sorge dafür, dass dieser hier sich nicht einmischt.«
»Sie wissen, dass das illegal ist?«, sagte Rule freundlich. Er würde nicht knurren. Er würde ihn sich nicht greifen. Er würde dem Dummkopf nicht so fest ins Gesicht schlagen, dass es von seinem hohlen Kopf rutschte. »Es gibt keinen Grund, uns mit der Waffe zu bedrohen. Und Sie können mich nicht erschießen, nur weil ich meinen Freund begleite.«
»Ich kann sicherstellen, dass Sie keinen Ärger machen. Das tue ich gerade. Treten Sie von der Bahre weg.«
»Nein.« Rule holte langsam Luft. Er hatte sich unter Kontrolle, verdammt. »Ich werde jetzt die Hand auf die Schulter meines Freundes legen. Wenn Sie auf mich schießen, haben Sie zwei Patienten und eine Klage am Hals.« Gerade wollte er tun, was er angekündigt hatte, als sein Handy ihn mit elektronischen Geigenklängen unterbrach – einige Takte von Oleg Ponomarevs »Smelka«.
Lilys Klingelton.