25
In der kalten Dunkelheit unter den Eichen, dem Weißdorn und den Ulmen war es feucht, und es duftete. Zwei Wölfe streiften unter diesen Bäumen umher. Mit jedem Schritt verströmte das knisternde Laub seine verschiedenen Düfte. Selbst für Rule war es unmöglich, hier leise zu gehen, und erst recht für den unerfahrenen neuen Wolf, der hinter ihm ging.
Über ihnen war der Baldachin aus Blättern noch dicht genug, um die Sterne zu verbergen … doch nicht den Mond, nicht zur Gänze. Dick und blass und schon so rund, dass Rules Augen kaum das fehlende Stückchen erkennen konnten, leuchtete er ihnen auf ihrem Weg und umgab sie mit seinem Lied. Hinter ihm blieb der Neue stehen, so wie er es schon ein paarmal getan hatte. So überwältigt war er von der Flut der Düfte, die die Welt in schimmernder Fülle über ihm ausschüttete, dass er immer wieder stehen bleiben und wittern musste. Nur wittern.
Geduldig blieb auch Rule stehen.
Morgen würde Vollmond sein. Und der erste Wandel fand normalerweise während der drei Tage und Nächte vor Vollmond statt. Doch das war auch das einzig Normale an diesem besonderen ersten Wandel.
Für Rule war der Wolf, der ihm folgte, nicht Ruben Brooks. Sicher würde er es wieder sein. So anders konnte dieser erste Wandel nicht sein. Aber es würde ein paar Tage dauern, vielleicht eine Woche, bis die Erinnerungen und Gedanken seiner anderen Gestalt wieder an die Oberfläche kamen und eine weitere Woche, bis er seine ursprüngliche Gestalt wieder eine Zeit lang annehmen konnte. Das würde beim ersten Neumond nach dem ersten Wandel geschehen. Ganz neue Wölfe brauchten oft Hilfe dabei oder zumindest starke Ermutigung.
Diese ersten beiden Wochen waren eine Zeit, die er wie im Rausch erleben würde, jeder Moment war neu und begeisternd. Zumindest sollte es so sein. Der Wolf, der versuchte, mit Rule Schritt zu halten, hatte bereits zu viel Verwirrung und Angst erlebt. Das war keine gute Voraussetzung dafür, dass Mann und Wolf in den kommenden Tagen zusammenfanden.
Natürlich war bisher noch nie ein Lupus sechsundvierzig Jahre alt gewesen, wenn er den ersten Wandel erlebte. Sie konnten nur hoffen, dass das einen Unterschied machte.
Rule und der Wolf, der früher Ruben Brooks gewesen war, schlängelten sich durch Gebüsch und Bäume an der Westseite des Dumbarton Oaks Parks, ungefähr sechzehn Hektar Wald mitten in Georgetown. Sie hatten Stunden gebraucht, um so weit zu kommen. Zum einen, weil in einer dicht bevölkerten Stadt zwei Wölfe vorsichtig sein und manchen Umweg machen mussten, zum anderen, weil ein neuer Wolf stets zum Spielen aufgelegt war.
Normalerweise wurden neue Wölfe beim ersten Wandel in Körper geboren, die so schlaksig und unvollendet waren wie die der Menschenjungen, die sie vorher gewesen waren – sie waren keine Welpen, das nicht, aber auch keine Erwachsenen, und hatten den Spiel- und Entdeckungsdrang der Jugend. Auch dieser Wolf hatte das Bedürfnis dazu, obwohl sein Körper schon erwachsen war. Er und Rule waren durch den Rock Creek Park getollt – Mika war leider nicht in seiner Höhle gewesen, aber Rule hatte dafür gesorgt, dass sie ihren Duft hinterließen – und hatten sich im Bach gerollt, als sie ihm nach Süden gefolgt waren. In Dumbarton angekommen, hatten sie versucht, Feldmäuse zu fangen, die in der Nähe des Marineobservatoriums herumgehuscht waren, und waren dann einem Kaninchen in dem Wäldchen zwischen den Botschaften von Dänemark und Italien hinterhergejagt.
Als er das Kaninchen entdeckt hatte, war der neue Wolf sehr aufgeregt gewesen. Natürlich hatte er es schnell wieder verloren – Kaninchen waren schnell und geschickt, und dieser Wolf war noch nicht an seinen Körper gewöhnt. Aber allein der Versuch hatte ihm viel Spaß gemacht.
Rule dachte jetzt sehnsüchtig an dieses Kaninchen. Er war hungrig und wurde zunehmend hungriger.
Jetzt würde es nicht mehr lange dauern. Direkt vor ihnen lag der Parkplatz der Citibank. Rule schlich sich so nah an ihn heran, dass er den Parkplatz übersehen konnte und trotzdem im Schatten einer großen Ulme verborgen blieb. Mit dem Wind im Rücken würden sie jeden, der sich von hinten anschlich, sofort riechen.
Er legte sich hin, rollte sich aber nicht zum Schlaf zusammen, sondern behielt den Kopf oben. Der andere Wolf legte sich nah neben ihn, sodass ihre Flanken sich berührten, und leckte ihm die Schnauze. Rule erlaubte es ihm einen Moment lang, schnüffelte dann an der Schnauze und am Kiefer des anderen Wolfs und leckte ihm einmal über das Ohr: Du bist in Sicherheit. Du bist nicht allein. Das hast du gut gemacht. Ich passe auf dich auf.
Der neue Wolf wedelte mit dem Schwanz, legte dann mit einem müden Seufzer den Kopf auf die Vorderbeine und entspannte sich.
Er brauchte den Körperkontakt. Er brauchte noch viel mehr davon. Ein neuer Wolf musste von seinen Clansleuten umgeben sein – von ihren Gerüchen, dem Gefühl ihrer Körper, ihres Pulses, wie er im Rhythmus seines eigenen pochte.
Rule konnte dem Wolf nur einen kleinen Vorgeschmack auf das Gefühl der Geborgenheit geben. Er hatte getan, was er konnte. Er hatte ihn besiegt, ihn dominiert und ihn gefüttert. Jetzt vertraute der Wolf ihm. Aber instinktiv sehnte sich der neue Wolf auch nach anderen seiner Art, und Rule war nur einer davon. Einer, der nicht nach Wythe roch.
Rule hatte gehofft, dass der neue Wolf auch Wölfe aus einem anderen Clan akzeptieren würde. Aber leider hatte er kein Glück gehabt. Als Rule in dem kleinen Wäldchen neben Rubens Haus Halt gemacht hatte, um seine Leibwächter, die dort warteten, kurz zu informieren, hatte der neue Wolf nach ihnen geschnappt und sie angeknurrt. Trotzdem hatte Rule den anderen zu verstehen gegeben, dass sie einen Kreis um den Neuen bilden sollten, denn er wusste, was passieren würde, wenn er sich wandelte, um ihnen Anweisungen geben zu können. Und genauso wie er es vorhergesehen hatte, hatte der neue Wolf versucht zu fliehen, als der einzige Wolf, dem er vertraute, plötzlich zu einem Mann wurde. Die anderen hatten ihn zwar nicht entkommen lassen, doch es war knapp gewesen. Rule hatte ihnen seine Anweisungen gegeben, Scott mit einer Nachricht zurück zum Haus geschickt und sich schnell zurückverwandelt.
Drei Wandel kurz hintereinander und nur eine einzige hastig hinuntergeschlungene Hühnerbrust. Kein Wunder, dass er sich halb verhungert fühlte. Rule wartete auf die anderen, die bald eintreffen mussten.
Was ihm besser gefallen würde als seinem Schützling. Wölfe, die keine Wythe waren, gaben diesem Wolf, der instinktiv versuchte, sie zu seinem Rudel zu machen, keine Geborgenheit, egal wie ungeschickt dieses Vorhaben war. Er wusste es nicht, wusste noch viel zu wenig, aber ein neuer Wolf musste unbedingt unter Beobachtung stehen. Nicht nur, weil er gefährlich war, wenn er sich nur von Kraft und Instinkt leiten ließ und sich nicht in der Gewalt hatte, sondern auch, damit er die Gewissheit hatte, dass er von jemandem angeführt wurde, der ihn dominieren konnte.
Nur wenige waren in der Lage, diesen Wolf zu dominieren. Nur Wölfe mit einer Clanmacht.
Ein neuer Wolf mit einer Clanmacht – was hatte die Dame sich nur dabei gedacht?
Rule war nicht überrascht, dass Scott sich unterworfen hatte. Überrascht war er vielmehr, dass der schwarze Wolf ihn nur verletzt und nicht getötet hatte. Das war eine bemerkenswerte Zurückhaltung für einen Wolf, der den ersten Wandel erlebte.
Andererseits war auch Ruben, der Mann, höchst dominant. Als Wolf hatte er dieselben Instinkte, auch ohne Erinnerungen, die ihn leiteten.
Lily, dachte er, verstand diesen Zusammenhang nicht. Sie verstand Dominanz nicht. Das frustrierte Rule. Warum fehlte ihr dafür das Verständnis, wenn sie doch selbst so offensichtlich dominant war? Aber sie verwechselte Dominanz mit dem Drang, andere zu kontrollieren – das gehörte auch dazu, ja, doch das Ganze so zu benennen, verzerrte die Bedeutung bis zur Unkenntlichkeit.
Er hatte den Verdacht, dass sie in Dominanz und Unterwerfung etwas vage Sexuelles sah. Sie meinte, wer sich unterwarf, gab seine Autonomie auf. Aber diese Autonomie schien Rule ein absurd artifizieller Begriff zu sein, so wie die Menschen ihn gebrauchten. Was er darunter verstand, war die persönliche Verantwortung. Und dass »niemand eine Insel ist«. Er verstand nicht, warum so viele Menschen an den Mythos glaubten, dass der Einzelne für sich allein stehen konnte und sollte. Das war, als würden sie glauben, jeder sollte dominant sein.
Nein, ihrem Wesen nach erkannte Unterwerfung einfach eine Tatsache an: Der andere hat das Geschick und die Kraft, dich zu töten … und das Geschick und die Kraft, dich zu verteidigen. Beides war nicht voneinander zu trennen. Wenn man sich unterwarf, gab man sein Leben in die Kiefer des anderen. Wenn der andere wirklich dominant war, akzeptierte er das. Und würde dann dieses Leben verteidigen, als sei es sein eigenes.
Das war es, was er Lily sagen musste, begriff Rule. Ein dominanter Wolf kontrollierte andere, ja – aber das Bedürfnis zu kontrollieren entstand aus dem Bedürfnis zu beschützen.
Lily.
Sein Herz krampfte sich zusammen; er bebte vor Angst und Schmerz. Der Schmerz war der des Wolfs. Es war gut, dass Lily nicht hier war. Notwendig. Als Mensch durfte sie nicht in der Nähe eines neuen Wolfes sein, der in ihr nur eine Bedrohung oder Beute sah. Aber er wusste, dass sie litt, dass sie in Schwierigkeiten war, und er litt mit ihr, sehnte sich nach ihr.
Der Mann war ängstlicher. Worte. Der Mann dachte in Worten, aber dieses Mal waren es weniger: Was war ihr zugestoßen? Wussten Sie, dass sie Ruben gewarnt hatte? Vermuten würden sie es sicher. Eigentlich hatte sie nichts in Rubens Haus zu suchen. Was würde die Polizei – das FBI, ihr Arbeitgeber – mit ihr machen?
Der neue Wolf hob den Kopf und ließ ein dumpfes Grollen hören. Mit einem Grollen konnte ein Wolf so viel ausdrücken wie ein Mensch mit einem Lächeln. Jetzt bedeutete es Unsicherheit, nicht Wut oder Herausforderung. Muskel für Muskel unterdrückte Rule seine Angst. An diese Disziplin, an die Notwendigkeit, sich seine Gefühle nicht an der Körpersprache anmerken zu lassen, war er gewöhnt, doch heute Abend fiel es ihm schwer. Am liebsten hätte er geheult, wäre er losgerannt. Um sich zu wandeln und zu Lily zu laufen.
Doch er tat, was er tun musste. Langsam entspannte sich auch der andere und fiel in einen leichten Schlummer.
Der Mond kletterte langsam höher. Rule wartete.
Schließlich wurden Scheinwerfer auf der anderen Seite der dicht stehenden Ulmenreihe sichtbar. Rule erhob sich und nahm eine aufmerksame, aber entspannte Haltung ein. Der andere Wolf tat es ihm nach; seine Nackenhaare hoben sich leicht, doch er blieb ruhig.
Vielleicht lag es daran, dass das andere Ich des Wolfes so viel älter war. Der andere befolgte Rules Signale ungewöhnlich gut für jemanden, der so unerfahren war: Sei aufmerksam. Sei ruhig. Beobachte.
Das Fahrzeug hielt am Ende des Parkplatzes. Es war ein alter, leicht schäbiger Lieferwagen mit abblätterndem Lack, doch der Motor klang gut. Keines der Fahrzeuge, die Rule für seine Leute bereithielt. Es hielt in ungefähr zehn Metern Entfernung. Der Motor verstummte. Die Fahrertür schwang auf.
Es war nicht der, den Rule eigentlich erwartet hatte. Obwohl er es hätte ahnen können. Er jaulte einmal leise und kurz auf, um seinen Standort anzuzeigen. Er sah den anderen Wolf an, dann zu Boden.
Der andere verstand ihn nicht oder wollte ihn nicht verstehen. Rule legte sich wieder hin, um es ihm zu zeigen. Langsam folgte der andere seinem Beispiel. Rule stand auf, doch als der andere versuchte, sich zu erheben, drückte er ihn hinunter. Er sah ihm direkt in die Augen. Der schwarze Wolf seufzte und legte den Kopf auf die Pfoten. Als Rule an den Rand des Asphalts trottete, blieb er zurück.
Cullen humpelte auf sie zu, mit einer Plastikeinkaufstüte und einer kleinen Reisetasche in den Händen. Seine bandagierten Füße steckten in weichen Slippern. Sturer Kerl. Haut heilte schneller als Knochen oder Muskeln, aber nicht so schnell.
Rule hatte José ausrichten lassen, wo sie zu treffen seien und was sie brauchten. Er hatte nicht gesagt, dass Cullen derjenige sein sollte, der ihnen die Ausrüstung brachte. Doch er hatte es auch nicht ausdrücklich verboten. Er hätte wissen müssen, dass Cullen das als Erlaubnis verstehen würde. Er hätte wissen müssen, dass Cullen kommen würde. Dass sein Freund wusste, wann er ihn brauchte.
Hinter ihm richtete sich der andere Wolf auf. Rule warf ihm einen scharfen Blick zu, und er legte sich wieder hin. Rule wandte sich Cullen zu und sah ihm in die Augen.
»Was ist denn?« Cullen blieb stehen. »Oh, richtig. Ich vergaß.« Er neigte den Kopf, um seinen Nacken zu entblößen – das unmissverständliche Zeichen, dass er sich Rule unterordnete. Das musste den neuen Wolf verwirren. Cullen war kein Wolf, und doch zeigte seine Haltung, dass Rule zu ihm gehörte.
Jetzt musste Rule ihm begreiflich machen, dass Cullen auch zu ihm gehörte. Rule trat vor und begrüßte ihn ostentativ, indem er sein Gesicht beschnüffelte – dann, vielsagend, seine Füße. Er blickte Cullen an.
»Alles in Ordnung«, log sein Freund munter. »Die Rhej hat die Sache beschleunigt.«
Immerhin konnte er gehen, also musste die Rhej ihm in der Tat geholfen haben. Doch sicher nicht in dem Umfang, wie er vorgab. Rule schnaubte.
Was Cullen ignorierte. »Scott geht es gut. Es wird ein paar Tage dauern, bis er wieder zur Arbeit erscheinen kann, aber es geht ihm gut. Das Haus steht unter Beobachtung. War gar nicht so leicht, mich aus dem Staub zu machen, ohne gesehen zu werden. Und dann musste ich noch den Lieferwagen holen, deswegen bin ich so spät dran. Bereit zum Abendessen?« Er öffnete die Einkaufstüte und warf ihnen eine rohe Rinderbrust hin.
Rule hörte, wie der andere Wolf sich erhob. Er drehte den Kopf, grollte – du frisst nicht vor mir –, dann beugte er sich vor, um ein Stück herauszureißen. »Nachtisch ist im Lieferwagen«, sagte Cullen und wich schnell zurück. »Heiße Bratwurst.«
Obwohl ihn der Hunger quälte, hielt Rule inne, sobald er den ersten kleinen Bissen geschluckt hatte. Später würde er den neuen Wolf warten lassen, bis er fertig gegessen hatte – das war gut, um Disziplin zu lernen –, aber jetzt noch nicht. Er trat zurück und blickte von dem Fleisch zu dem schwarzen Wolf. Ich habe für dich gesorgt. Friss.
Sofort fiel der andere über das Fleisch her. Cullen legte ein zweites Rinderstück auf den Boden und setzte sich daneben.
Das Stück war für Rule. Er trottete zu ihm und beschäftigte sich mit seiner Mahlzeit, während Cullen redete.
»Ich habe mit Walt und zwei von den anderen Wythe-Ältesten gesprochen. Offiziell sind die Wythe hocherfreut, wieder einen Rho zu haben. Inoffiziell sind sie fast genauso erschrocken wie erleichtert. Nicht nur, dass er ein neuer Wolf ist – er war noch niemals zuvor ein Lupus. Er kennt uns nicht, unsere Art, unsere Geschichte et cetera, et cetera. Ich habe darauf hingewiesen, dass die Wythe bereits auf Befehl der Dame mit Ruben verbündet waren. Nun hat sie ihn ihnen zum Rho gegeben. Sie muss besondere Pläne mit den Wythe haben. Das hat ihr Ego gekitzelt. Jetzt sind sie immer noch nervös, aber auch erfreut.«
Rule schlug einmal mit dem Schwanz hin und her, während er ein Stück Rindfleisch hinunterschluckte: Gute Arbeit.
»Was das Treffen angeht: Walt bringt Mac Sutherland mit – er trainiert bei ihnen mit den neuen Wölfen – und drei andere, so wie du es wolltest. Du sagtest, er könne sich den Treffpunkt aussuchen. Er schlug den Bald Eagle State Park in Pennsylvania vor. Kennst du ihn?«
Rule schüttelte den Kopf und riss einen weiteren Bissen aus dem Fleisch heraus.
»Er ist ungefähr zweitausendfünfhundert Hektar groß, es gibt viel Wald, ist also gut geeignet. Der Park liegt zwischen vier und fünf Stunden vom Clangut der Wythe entfernt, vielleicht dreieinhalb von hier. Vorausgesetzt natürlich, dass du deinen neuen Wolf dazu bringen kannst, in einen Lieferwagen zu steigen, und er nicht ausflippt. Wenn doch, na ja, wird alles sehr viel länger dauern. Ich habe eine Karte mitgebracht und ein paar Klamotten.«
Cullen zog eine Straßenkarte aus seiner Jackentasche und breitete sie auf dem Boden aus. Er warf dem neuen Wolf einen Blick zu, der immer wieder seine Mahlzeit unterbrach, um Cullen anzuknurren – warnend, nicht ernsthaft aggressiv, weswegen Rule es ignorierte. »Ich habe mit Mason geredet«, sagte Cullen. Das war der Name des Nokolai, der für die neuen Wölfe in der terra tradis verantwortlich war. »Deshalb weiß ich jetzt ungefähr, was zu tun ist. Das ist das erste Mal, dass ich mich mit einem neuen Wolf beschäftige. Aber du kennst das ja schon.«
Rule nickte. Eine Saison lang hatte er für Mason gearbeitet. Diese Erfahrung zahlte sich jetzt aus. Es war frustrierend, begeisternd, lustig, nervtötend und manchmal auch sehr spaßig gewesen – schließlich waren neue Wölfe nichts anderes als Teenager.
Bis dieser hier gekommen war. Rule warf einen Blick auf den anderen, beendete dann sein Mahl und wandte sich der Karte zu, um sie zu studieren.
»Das hier ist Bald Eagle«, sagte Cullen und zeigte mit dem Finger darauf, »nördlich von der Interstate achtzig. Wir werden südlich vom See nach Walter Ausschau halten. Glaubst du, der Neue hält vier Stunden im Lieferwagen mit mir zusammen durch?«
In dieser Gestalt konnte Rule nicht mit den Schultern zucken, also schnaubte er. Woher sollte er das wissen? Neue Wölfe wurden zwar schon früh mit den zweibeinigen Mitgliedern ihres Clans bekannt gemacht, aber sicher nicht stundenlang in einem engen Lieferwagen und immer in Anwesenheit eines älteren Jugendlichen, der ihnen zeigte, wie man sich benahm, und Erwachsenen, die sie in ihre Schranken weisen konnten. Aber einen Versuch war es wert. Bis jetzt hatte der Wolf, der Ruben Brooks gewesen war, sich recht anständig betragen.
Rule blickte vielsagend auf die Reisetasche.
»Richtig. Wir werden es wohl einfach herausfinden müssen.« Cullen nahm eine zusammenklappbare Wasserschale und eine Flasche Wasser aus der Tasche. Er füllte die Schale. »José fand, ich sollte kein Fahrzeug benutzen, das auf deinen Namen angemeldet ist. Deshalb habe ich den Lieferwagen in bar von einem Typen gekauft, der in der Zeitung annonciert hatte. Dein Geld, natürlich. Du hast damit kein richtig gutes Geschäft gemacht, aber ich hatte es eilig.«
Rule nickte und trank aus der Wasserschale.
Cullen wartete, bis er sie ausgetrunken hatte, goss nach und zog sich wieder zurück, aber nur drei Meter. Es gab eine kurze stumme Auseinandersetzung, als der neue Wolf versuchte, Cullen dazu zu bringen wegzugehen, und Rule darauf bestand, dass nur er Cullen Anweisungen gab und nicht der neue Wolf. Doch schließlich gab der neue Wolf nach und trank.
Das bedeutete nicht, dass er auch das nächste Mal nachgeben würde. Oder das Mal danach. Der Wolf erkannte Cullen nicht instinktiv an, für ihn war er entweder Bedrohung oder Beute, und es würde Zeit und Übung brauchen, eine neue Rolle – Lupus, einer von uns, egal welche Gestalt er hat – im Kopf des Wolfs entstehen zu lassen. Doch sobald er sich daran erinnerte, dass er selbst ein Mann war, würde die Lektion besser fruchten. Und wenn er sich erst einmal mehrmals gewandelt hatte, würde sie sitzen.
Ein Wolf brauchte sehr viel länger, bis er Menschen nicht mehr als potenzielle Beute sah. Vier oder fünf Jahre für gewöhnlich. Oh, die meisten neuen Wölfe waren sehr viel eher in der Lage, sich zurückzuhalten, aber verbotene Beute war immer noch Beute. Deshalb wurden sie von den Menschen getrennt und kamen nur in beaufsichtigen Situationen mit ihnen zusammen, bis sie sie als Menschen und nicht mehr als Nahrungsmittel sahen.
Wie lange würde es wohl dauern, bis Ruben wieder mit seiner schönen Deborah zusammenleben konnte?
Rule schüttelte den Gedanken ab. Sich um etwas zu sorgen, das er nicht ändern konnte, war töricht.
Der andere Wolf hatte ausgetrunken. Still und abwartend stand er da, witterte argwöhnisch in die Luft und äugte immer wieder zu Rule hin. Das war kein typisches Verhalten. Mit vollem Bauch und ohne unmittelbare Gefahr wollten die meisten Wölfe schlafen oder spielen oder einer aufregenden Fährte folgen. Lag es daran, dass er älter war? Oder an der Art, wie er an diese Gestalt gekommen war, unvorbereitet und von Beginn an umgeben von Bedrohungen statt seinem Clan?
Es gab keine Möglichkeit, das herauszufinden. Rule forderte den neuen Wolf mit einem Blick auf, ihm zu folgen, und die beiden trotteten in den Wald. Sie erleichterten sich, dann rollte Rule sich genüsslich in den Blättern. Es fühlte sich wunderbar an, es roch gut, und er wollte ein bisschen von den Düften des Waldes in den Metallkäfig auf Rädern, den Cullens steuern würde, mitnehmen.
Der Plan war, den anderen Wolf dazu zu bringen, Rule in den rückwärtigen Raum des Lieferwagens zu folgen. Die Bratwurst diente als Köder. Rule kannte keinen Wolf, dem bei diesem Duft nicht das Wasser im Maul zusammengelaufen wäre. Dann würde Cullen schnell die Türen schließen und warten.
Rule hoffte, dass der andere Wolf nicht so empfindlich auf enge Räume reagierte wie er. Doch selbst wenn das nicht so war, würde er in Panik geraten und Zeit brauchen, um die Situation zu verarbeiten. Vorausgesetzt es gelang Rule, den neuen Wolf zu beruhigen, würde Cullen sie zum Bald Eagle Park fahren – Rule hatte Walt den Treffpunkt aussuchen lassen –, wo Walt und weitere Wythe-Wölfe sie erwarteten.
Umgeben von Wölfen, die richtig rochen, würde der neue Wolf sich besser zurechtfinden. Am liebsten hätte Rule an diesem Punkt seinen Schützling an seinen Clan übergeben. Doch das war unmöglich. Der neue Wolf wusste nicht, wie er die Clanmacht, die er in sich trug, einsetzen konnte, aber ein Wythe-Wolf konnte seinen eigenen Rho niemals dominieren. Ob zu Fuß oder in dem fahrbaren Käfig, auf jeden Fall würde Rule die anderen zum Clangut der Wythe begleiten … fast dreihundert Meilen von Washington entfernt.
Falls das Band der Gefährten es erlaubte.
Rule knurrte leise. Das Band der Gefährten war das Geschenk der Dame.
Hatten sie es nicht auch der Dame zu verdanken, dass er – und Ruben und Lily und der ganze Clan der Wythe – sich jetzt in dieser Lage befanden? Rule verstand es nicht. Wie hatte Ruben überhaupt zu einem Lupus werden können? Einen, in dessen Adern zudem das Blut des Gründers floss, der fähig war, die Clanmacht zu übernehmen. Das ergab keinen Sinn. Aber irgendwie hatte die Dame es ermöglicht. Sie hatte die Clanmacht verändert, während diese in Lily gewesen war.
Dann sollte sie, verdammt noch mal, auch das Band der Gefährten verändern.
Besser wäre es. Denn wenn Rule die unsichtbare Grenze zu schnell überschritt und das Bewusstsein verlor, lief auch Lily in D.C. Gefahr, in Ohnmacht zu fallen. Wo immer sie gerade war. Was immer sie gerade tat.
Lily.
Von ihr hatte Cullen nichts berichtet. Rule hatte ihn nicht gedrängt, obwohl er es hätte tun können, auch auf wortlose Art. Schweigend, stillschweigend waren sie übereingekommen, schlechte Neuigkeiten auf später zu verschieben … denn dass es schlechte Neuigkeiten waren, dessen war er sich sicher.
Genug jetzt. Rule schüttelte sich und warf einen Blick nach links. Der andere Wolf hatte sich, sobald sie die Bäume wieder erreicht hatten, völlig beruhigt und grub begeistert in einem verlassenen Kaninchenbau. Rule ließ ihn gewähren und trottete zu Cullen. Er setzte sich vor ihn und sah seinen Freund an.
Cullen sah ihm lange in die Augen, ohne etwas zu sagen. Er seufzte. »Lily. Ja. Ich habe selbst nicht mit ihr gesprochen, aber … Nun, Drummond wirft ihr vor, die Ermittlungen behindert zu haben. Sie wurde verhaftet.«