LXXIII

Es fühlte sich immer weniger seltsam an. Er trieb über dem Wasser den Strand hinauf; das Grab, in dem er so lange gelegen hatte, konnte er nicht mehr sehen. Das machte alles nichts. Nichts machte mehr etwas aus; jetzt, da er stärker wurde. Es war der Mann am Strand, der große, dunkelhaarige Mann, der Dichter, der ihm die Energie gegeben hatte. Leise, heimlich hatte er sie ihm entzogen, als er sich über das Mädchen bückte, und der Mann hatte es nicht einmal bemerkt, da er in Gedanken ganz mit seinen eigenen Problemen beschäftigt war. Seine schöne Claudia war auch hier. Ganz in der Nähe. Immer bei ihm. Ihr Haß und ihr Fluch hatten ihr Kraft gegeben, und gemeinsam würden sie endlich Gerechtigkeit finden.

Kate klammerte sich an Jons Arm. Die starke, unabhängige, kluge Kate klammerte sich an den saft- und kraftlosen Dichter wie ein blödes Flittchen. Greg, der neben Konstabler Garth voraushinkte, warf wieder einen Blick über die Schulter, überrascht, wie aufgewühlt er war. Warum hatte sie gesagt, daß alles aus sei zwischen ihr und diesem Mann, wenn sie es nicht ernst gemeint hatte? Er spürte, wie plötzlich ein Schwall glühender Wut in ihm aufbrandete. Sie war schön. Schön wie Claudia, die er, ohne es zu merken, immer und immer wieder gemalt hatte, als er noch im Cottage allein gewesen war.

Er krümmte sich wieder über den Spazierstock nach vorn und versuchte, sich und seine Wut zu beherrschen. Es war jetzt völlig windstill. Der Sturm war verschwunden, so schnell, wie er gekommen war. Er spürte eine neue Milde in der Luft. Sie besänftigte ihn ein wenig.

Auf den Anblick, der sie beim Cottage erwartete, waren sie nicht vorbereitet. Sie blieben am Waldrand stehen und starrten auf das, was einmal ein hübscher, wenn auch verwilderter Garten und ein idyllisches Haus gewesen war. Das Gebäude stand in einem See aus schwarzem Wasser, der fast bis zur Haustür hinauf reichte. Es sah beinahe so aus wie auf dem Bild, das Kate so erschüttert hatte. Dahinter, auf das Watt zu, war das Meer auf jeder Seite vorgedrungen, hatte neue Kanäle in den Sand gekerbt und sein Reich ausgedehnt. Schon paddelte eine Schar Enten geschäftig durch das schmutzige Wasser und fraß gierig von den Überresten, die in sich langsam drehenden Pflanzenmatten umherschwammen.

»Unter all dem muß das Grab sein«, sagte Greg nüchtern.

Keiner von ihnen hatte sich bewegt.

»Also hat Marcus gewonnen.« Kate stand jetzt neben ihm.

»Wir werden nie erfahren, was damals geschehen ist.« Bob Garth rieb besorgt mit den Handflächen über die Vorderseite seiner Jacke. »Wo war der Verstorbene, als Sie hier weggegangen sind?« fragte er behutsam. »War er im Erdgeschoß?«

»O nein!« Kate vergrub das Gesicht in ihren Händen. »Ich komme mit.« Greg trat vor. »Kate, du bleibst hier. Es ist nicht nötig, daß du mit reinkommst.«

Das Wasser wirbelte um das obere Ende ihrer Stiefel, als die beiden Männer, gefolgt von dem ein wenig zögernden Jon, zur Haustür wateten. Es dauerte mehrere Minuten, bis sie wieder auftauchten. Alle drei sahen grimmig aus.

»Ich fürchte, das Wasser ist bis ins Haus vorgedrungen, Miss Kennedy.« Garth hatte sich ausreichend erholt, als er sie erreichte. »Es hat da drin eine ziemliche Bescherung angerichtet. Ich glaube, Sie sollten es vorerst dabei bewenden lassen. Wir warten, bis sich die Spurensicherung und der Gerichtsmediziner umgesehen haben, und dann werden wir Mr. Norcross‘ Leiche abholen lassen.«

Sie nickte. Sie hatte nicht die Absicht hineinzugehen. »Sollen wir raus zum Grab? Das Wasser ist nicht sehr tief da draußen, und es weicht noch zurück.« Greg war Garth gefolgt. In seinem Fuß, den die Kälte betäubt hatte, spürte er einen dumpfen Schmerz.

Sie nickte zögernd. Ihre Erschöpfung war so groß, daß sie sich fragte, ob sie überhaupt noch einen Schritt würde gehen können. Vorsichtig setzte sie einen Fuß nach dem anderen in das schlammigtrübe Wasser und spürte, wie die Sohlen ihrer Stiefel auf dem ausrutschten, was einmal ein Rasen gewesen war. Ihr Blick fiel auf den Seidelbastbusch in der Ecke. Die kleinen rosa Blätter waren noch da, jetzt von Eis und Schnee befreit. Auf dem obersten Zweig saß ein Rotkehlchen.

Es herrschte immer noch Flut. Es gab keine Möglichkeit festzustellen, wo unter den böigen, wütenden Wellen sich das Grab befand. Kate stand wadentief im Wasser und drehte sich langsam hierhin und dorthin. Die Dünen waren gewandert. Es gab nichts mehr, woran sie sich orientieren konnte, nur die fast grenzenlose Weite des triumphierenden Wassers.

Bob Garth schüttelte den Kopf. »Wenn Leichen in dem Grab waren, wird es eine offizielle Untersuchung geben müssen«, sagte er zweifelnd.

»Genau das, was Marcus nicht wollte.« Greg starrte hinaus auf das Wasser.

Garth betrachtete ihn nachdenklich. Hier draußen konnte er es wieder fühlen; die seltsame Gewißheit, daß nicht alles mit rechten Dingen zuging. Das Gefühl, daß er, wenn er nicht achtgab, etwas hören oder sehen würde, von dem er lieber nichts wissen wollte. »Glauben Sie wirklich dieses ganze Zeug über Gespenster?« fragte er nervös.

Greg warf ihm einen prüfenden Blick zu. »Sie möchten wohl lieber glauben, daß sich ein gemeingefährlicher Irrer im Wald versteckt?«

»Wir suchen einen Mörder, Mr. Lindsey.« Garth beherrschte mühsam seine Stimme. »Vorläufig möchte ich mich mit einem Urteil darüber zurückhalten, um wen es sich handelt.«

Greg erwiderte nichts. Er hatte es jetzt gespürt. Eine flüchtige Berührung, vorsichtig, suchend, in seinem Kopf. Marcus war noch immer auf der Suche nach einer neuen Energiequelle. Er tat es mit einem ärgerlichen Achselzucken ab.

Sie standen da und blickten schweigend hinunter ins Wasser. Greg sah Kate an. Sie runzelte die Stirn. Hatte sie es auch gefühlt? Sie hob unvermittelt den Kopf, und ihre Blicke trafen sich. Er konnte in ihren Augen die Unsicherheit sehen; Unsicherheit und Angst.

»Warum gehen wir nicht zurück zum Farmhaus?« fragte er leise. »Hier können wir nichts mehr tun, habe ich recht, Konstabler? Wir müssen warten, bis das Wasser niedriger wird.«

Garth nickte. »Warum nicht.« Erst jetzt war ihm Kates bleiches Gesicht aufgefallen. »Sie alle haben hier draußen ein paar schlimme Tage gehabt. Man möchte nicht glauben, daß Leute noch so von der Außenwelt abgeschnitten werden können, nicht heutzutage.« Er begann, zum Cottage zurückzuwaten; erleichtert, wieder in Bewegung zu sein. »Ich muß die Tür versiegeln, bevor wir zurückgehen. Wenn Sie drei lieber schon vorausgehen möchten, komme ich gleich nach.«

Kate schleppte sich an Jons Seite weiter, beugte sich zurück und schloß die Augen. Er berührte ihre Hand. »Es ist bald vorbei.«

Sie nickte.

»Was ist aus dem Buch geworden? Es ist doch hoffentlich nicht noch da drin?«

Sie lächelte abgespannt. »Die Diskette ist in Sicherheit. Ich glaube nicht, daß meinen Notizen was passiert ist. Ich hatte sie auf dem Tisch gelassen. Oh, Jon.« Mit etwas wie einem Schluchzen lehnte sie sich an ihn, den Kopf an seiner Schulter. Er legte den Arm um sie und war sich wieder Gregs bösen Blicks bewußt, als dieser sich umdrehte. Sie schenkte Greg ein schwaches Lächeln. »Was passiert jetzt als nächstes?«

»Nichts. Die Untersuchungen der Polizei werden bestimmt nichts ergeben, und das war es dann. Niemand wird je die Rolle erwähnen, die Alison bei dem Ganzen gespielt hat, wie immer sie gewesen sein mag. Niemand wird je mit Sicherheit wissen, was geschehen ist.«

»Bis auf uns.« Es war ein Flüstern.

»Bis auf uns.«

»Und Marcus wird jetzt, da es das Grab nicht mehr gibt, in Frieden ruhen.«

Greg stieß ein kurzes, bellendes Gelächter aus. »Glaubst du wirklich?«

»Du etwa nicht?« Kate griff nach Jons Hand.

»Nein, ich nicht. Er ist noch immer hier. Ich habe ihn da draußen gespürt.« Greg blieb stehen und schloß mit einem Seufzer die Augen. O ja, er war noch da. Und sie auch. Irgendwo. Und sie waren beide auf der Jagd; auf der Jagd nach Verbündeten, nach Macht, nach der Lebenskraft eines Menschen, die ihren Haß erhielt. Es hatte nichts zu bedeuten, daß das Grab verschwunden war. Er schlug die Augen auf und starrte stumm zurück zum Cottage, wo Bob Garth eine Öse und ein Schließband an die Haustür schraubte. Es würde jetzt nicht mehr aufzuhalten sein. Der Kampf hatte begonnen. Die Frage war nur, ob er gegen sie kämpfen, ob er Abstand nehmen und zusehen, oder ob er mitmachen würde. Hinter ihm hatte Jon seinen Arm wieder um Kate gelegt. Dachten sie etwa, er könne sie nicht sehen? Er zog den Kragen hoch und verschränkte die Arme. Es war egal. Was Wut und Eifersucht anbelangte, so besaß er in Marcus den perfekten Lehrer.