XXVII

Niemand bewachte ihn. Sie vertrauten ihm vollkommen. Die Götter hatten gesprochen; es stand außer Zweifel, daß er gehorchen würde. Es verblieb ihm nicht mehr viel Zeit, um sich von seinen Lieben zu verabschieden.

»NEIN!«

Ihr qualvoller Schrei hallte über die Dünen und Sümpfe, sein Klang hob und senkte sich über Land und Meer, bis er sich in den Wolken hinter dem Horizont verlor.

»Claudia œ mein Liebes.«

»Nein! Das lasse ich nicht zu! Was für barbarische Götter betest du an, die so etwas tun können? Du kannst unmöglich zu ihnen zurückgehen. Du darfst nicht! Du darfst nicht…« Sie brach in Tränen aus.

»Claudia. Ich muß. Die Götter haben mich erwählt.« Seine Stimme war fest, seine Stärke überraschend, auch für ihn selbst.

»Ich hasse deine Götter!«

»Das darfst du nicht. Du mußt sie ehren, wie ich es tue. Und gehorchen. Für das Große Opfer erwählt zu werden ist die größte Ehre, die es gibt.«

»Ehre! Ich habe gedacht, deine Leute opfern ihre Gefangenen! Ihre Sklaven! Was für eine Ehre ist das, zu sterben wie sie?«

Die Tränen liefen ihr über das Gesicht und verschmierten den safrangelben Lidschatten, den sie sorgfältig aufgelegt hatte, bevor sie das Haus verließ.

»Die größte. Die Götter fordern das Blut eines Prinzen.« Seine Stimme klang gelassen. Das Bedürfnis, sie zu beruhigen, gab ihm auf seltsame Weise Mut. »Vielleicht haben wir sie mit unserer Liebe beleidigt, mein Herz«, sagte er zärtlich und berührte dabei ihr Gesicht mit der Fingerspitze, als ob er sich für alle Ewigkeit die Form ihrer Nase, ihres Mundes und ihrer Augen einprägen wollte. » Vielleicht ist es so am besten. Ich hoffe, daß auch deine Götter durch meinen Tod besänftigt und geehrt werden.«

»Nein.« Sie schüttelte mit geschlossenen Augen den Kopf. »Nein. Ich verehre Fortuna. Sie verlangt nicht den Tod ihrer Anhänger. Im Gegenteil. Sie will, daß sie leben und glücklich sind. Nein, ich lasse dich nicht sterben. Wenn du stirbst, dann will auch ich sterben.«

»Nein!« Er nahm sie bei den Schultern und schüttelte sie zärtlich. »Claudia, du mußt leben. Deinem Sohn zuliebe. Du mußt bei ihm bleiben. Und mir zuliebe. Um mein Andenken in deinem Herzen zu tragen. Du mußt stark sein. Du bist eine Tochter Roms, vergiß das nicht.« Das war etwas, worauf sie stolz war, ihre edle Abstammung. Wie er gehofft hatte, erreichte er sie mit diesen Worten.

Sie straffte ihre Schultern und hob den Kopf, obwohl ihr immer noch die Tränen über das Gesicht liefen. »Und du hast keine Angst?«

»Natürlich habe ich keine Angst.« Er lächelte eisern. »Ich bin ein Prinz, und ich bin ein Priester. Warum sollte ich Angst davor haben, meinen Göttern gegenüberzutreten?« Er griff nach der schweren Silberbrosche, die seinen Mantel zusammenhielt. »Ich möchte dir etwas schenken. Trag sie für mich und trauere nicht zu sehr.«

Sie nahm sie mit zitternden Händen und drückte sie an die Lippen. »Wann… Wann ist es soweit?«

»In der Morgendämmerung. Wenn die Sonne sich über dem östlichen Rand der Erde zeigt.«

»Wo -?« Es war kaum ein Flüstern.

»Am heiligen Sumpf.« Er lächelte traurig. »Auf dem Boden, der meinen Vätern und den Vätern meiner Väter gehört hat. Auf dem Platz, an dem die Götter sich versammeln und wo diese und die nächste Welt Seite an Seite existieren.« Er richtete sich auf. »Du mußt jetzt gehen.«

»Noch nicht.« Ihre Stimme hob sich vor Pein.

»Bitte, Claudia Honorata. Ich will dir ohne Tränen Lebewohl sagen. Ich will, daß du voller Ehre, Mut und Stolz bist, wie du es als meine Frau gewesen wärest.« Seine Stimme war streng.

Sie schloß einen Moment lang die Augen und atmete tief. »Wenn du es wünschst, Gatte meines Herzens.« Sie zwang sich zu einem angestrengten Lächeln und hob den Kopf, um ihn auf die Wange zu küssen. Er nahm ihre Hände und drückte sie an seine Lippen, dann drehte er sich um, denn er spürte, daß ihn die Stärke verließ, und lief zu seinem Wagen.

Das Telefon funktionierte noch immer nicht. Dreimal wählte sie die Nummer œ ihre Hand war so verschwitzt, daß sie kaum den Hörer halten konnte -, und dreimal vernahm sie das seltsam hallende Schweigen, davon überzeugt, daß am anderen Ende jemand ihrem schweren Atem lauschte.

»Stimmt etwas nicht?« Alison zitterte.

»Das Telefon scheint nicht zu funktionieren.«

»Sie meinen, wir sind abgeschnitten?« Die Stimme des Mädchens wurde zu einem Quietschen.

»Keine Sorge, Allie. Das macht nichts. Hier bist du sicher. Sicher und warm.« Kate zwang sich, beruhigend zu lächeln. »Ich mache uns jetzt endlich was Heißes zu trinken. Was möchtest du?« Sie sah Alison an, die mit den Schultern zuckte. Kate nahm den Kessel und ging hinüber zum Spülbecken, um Wasser einlaufen zu lassen. Dabei sah sie angestrengt aus dem Fenster. Die Bäume des Waldes, gerade noch sichtbar durch den strömenden Regen, krümmten sich im Sturm. Der Himmel stand voller bräunlicher Wolken, die seltsam dunkel waren. Schnee. Es waren Schneewolken.

Sie drehte den Hahn auf. Im Becken war Sand. Sand und Torf und œ schaudernd riß sie den Kessel weg und schwenkte mit dem strömenden Wasser das Becken aus, um die Maden und die Erde wegzuwaschen. Sie warf einen Blick auf Alison, in der Hoffnung, daß diese nichts gesehen hatte. Das Mädchen hielt die Augen geschlossen und schaukelte auf dem Hocker leicht hin und her.

Mit einer Grimasse füllte Kate den Kessel. »Willst du nicht ins andere Zimmer zum Feuer gehen?« fragte sie freundlich. »Du kannst dich auf das Sofa legen und ein Nickerchen machen.«

»Nein.« Allie schüttelte den Kopf. »Ich will bei Ihnen bleiben.«

»Okay.« Kate holte zwei Becher herunter. Ihre Hand schwebte kurz über der Kaffeebüchse, dann griff sie nach einer ungeöffneten Dose mit Schokoladenpulver. Diana mußte sie hingestellt haben, als sie für sie einen Vorrat an Lebensmitteln angelegt hatte. Schokolade war nahrhaft, entspannend und wohltuend. Sie würde ihnen guttun. Sie hob den Deckel mit einem Löffel hoch und riß das Papiersiegel auf. Die Dose war voller Erde. Eine fette weiße Made schlängelte sich erbost im plötzlich einfallenden Licht. Mit einem Schrei schleuderte Kate die Dose durch das Zimmer. Sie schlug mit einem Knall gegen die Wand.

Alison richtete sich mit einem Ruck auf. »Was ist los?« Sie starrte auf die rote Dose, die in die Ecke gerollt ”war und eine Spur aus Schokoladenpulver auf dem Boden hinterlassen hatte.

Kate rieb sich die Augen. Sie zitterte wie Espenlaub. »Entschuldige. Sie ist mir aus der Hand gerutscht. Wie dumm…«

Sie zwang sich, die Dose aufzuheben. Sie schnupperte vorsichtig am übriggebliebenen Inhalt. Es roch gut; nahrhaft, süß und unverdorben. »Glücklicherweise ist noch genug für uns beide da.« Sie hatte Wahnvorstellungen und schimpfte sich eine dumme Gans. Alison zuliebe mußte sie ruhig und stark sein. Sie atmete tief durch. »Allie, wer ist Claudia?«

»Claudia?« Alison wandte sich ihr zu. Das Gesicht des Mädchens hatte jetzt wieder etwas mehr Farbe, und sie wirkte aufmerksamer, aber irgendwo hinter ihren Augen war eine eigenartige Leere, die Kate Sorgen machte. »Ich kenne niemanden, der Claudia heißt. Warum?«

»Ich dachte, du hast gesagt -« Sie hielt mit einem Seufzer inne. »Nein. Vielleicht habe ich dich falsch verstanden. Egal. Da, die Schokolade ist fertig. Komm, wir gehen in das andere Zimmer und setzen uns an den Ofen.«

Der Schneeregen peitschte gegen die Scheiben, und sie konnte sehen, daß die Pfütze auf dem Fensterbrett größer geworden war. Sie tropfte jetzt auf den Boden. Kate stellte die Schokolade ab und ging in die Küche zurück, um ein Tuch zu holen. Alison saß nach wie vor auf ihrem Hocker. »Komm mit. Ich lege ein paar neue Scheite auf. Soll ich dir helfen?«

Alison schüttelte den Kopf. »Ist es… ist da drin alles in Ordnung?«

»Natürlich ist alles in Ordnung. Das Fenster ist ein bißchen undicht, das ist alles.« Sie langte nach dem Tuch. »Ich wische schnell auf, und dann lege ich Holz nach.«

Sie näherte sich vorsichtig dem Fenster und schielte auf das Brett. Im Wasser schwammen noch Erdstückchen, aber die Maden waren verschwunden. Mit einem Seufzer der Erleichterung wischte sie das Wasser auf und stopfte einen sauberen Putzlappen in den Winkel zwischen Fensterrahmen und Fensterbrett, damit er den geschmolzenen Schneeregen auffing, wenn er durchsickerte. Dann ging sie zum Ofen. In der Kiste waren nur noch drei Scheite. Sie öffnete die Türen und keilte einen davon in den Ofen, öffnete dann die Luftklappen, um das Feuer besser anzufachen. Zuletzt schüttelte sie die Kissen auf dem Sofa auf. Hinter ihr war Alison bis zur Tür geschlurft. Sie spähte in das Zimmer.

»Ist sie weg?« fragte sie.

»Wer?« Kate wirbelte herum.

»-« Alisons schweres Atmen brach ab, und sie ließ die Schultern hängen. »Ich weiß nicht. Es war jemand hier… oder war sie am Strand…?«

Kate ging zu ihr und legte den Arm um ihre Schultern. »Es ist niemand hier, Allie«, sagte sie leise. »Und du brauchst vor nichts Angst zu haben. Am Strand ist dir sehr kalt geworden, und ich glaube, du warst ein bißchen unterkühlt. Leute bilden sich dann manchmal etwas ein. Komm, setz dich und leg deine Füße hoch, und dann trink jetzt was Heißes. Du fühlst dich bald besser, versprochen.« Sie wollte nicht in die Ecke schauen, wo sie die Gestalt der Frau gesehen hatte. Auch das war Einbildung. »Hör mal, wieso machen wir nicht ein bißchen Musik an.« Sie ging zu ihrem Kassettenstapel. Bei dem Gedanken, was Alison wohl von Vaughan Williams oder Sibelius oder Bach halten würde, konnte sie sich ein Lächeln nicht verkneifen. Ihre Hand schwebte über den Bändern. Faures Requiem. Wie war das da hingekommen? Es gehörte Jon. Sie starrte es eine Weile lang an, dann öffnete sie den Behälter und nahm die Kassette heraus. War es das Bedürfnis nach einem Gebet, das sie veranlaßt hatte, es mitzunehmen? Was auch immer es gewesen war, es konnte jedenfalls nicht schaden.

Als sie die Kassette in den Recorder steckte, fiel ihr Blick auf die gestapelten Manuskriptseiten auf ihrem Schreibtisch. Sie zuckte mit den Schultern. Es war jetzt nicht die Zeit, sich wegen der Arbeit Gedanken zu machen. Vielleicht würde sie ein bißchen schreiben können, wenn Alison einschlief. Es war klar, daß das Mädchen momentan nirgends hingehen konnte. Sie konnte nichts weiter tun, als sie warm zu halten und zu warten. Aber sollten sie später, wenn sich Alison besser fühlte, versuchen, zum Farmhaus zu gehen, oder sollten sie abwarten, bis Roger und Diana das Mädchen vermißten und hier nach ihr suchten? Sie fühlte sich so verlassen ohne Telefon; so ganz auf sich gestellt.

Als die ätherischen Klänge des Introit und des Kyrie den Raum erfüllten, ließ Alison sich zurücksinken und schloß die Augen. Kate beobachtete sie verstohlen vom gegenüberliegenden Sessel aus. Das Scheit brannte gut. Bald würde sie ein neues auflegen müssen. Dann würde nur noch eines übrig sein. Sie warf einen Blick auf das Fensterbrett. Das Tuch war noch trocken, und es bewegte sich nichts.

Das zögernde Klopfen an der Haustür ging in den Klängen der Musik fast unter, aber als sie es hörte, trieb ein Adrenalinstoß Kate panikartig aus ihrem Sessel, alle Nerven waren angespannt. Sie sah hinüber zu Alison, aber das Mädchen schien nichts gehört zu haben.

Patrick stand auf der Schwelle, einen gelben Regenumhang über der dicken Jacke. Die nassen Haare klebten ihm am Kopf, und seine Wangen waren gerötet von der Anstrengung, die es ihn gekostet hatte, auf dem Fahrrad den schlammigen Weg zum Cottage zu fahren.

»Hallo. Mum meint, Allie könnte vielleicht hier sein. Wissen Sie, daß Ihr Telefon nicht funktioniert?«

»Ja, das weiß ich, und ja, sie ist hier.« Kate zog ihn in die Diele und schloß die Tür. »Gott sei Dank, daß du gekommen bist!«

Sie warf einen Blick über die Schulter, ins Wohnzimmer. Alison schien von der Ankunft ihres Bruders nichts bemerkt zu haben. Ihre Augen waren geschlossen, und der Schlaf hatte ihre Miene entspannt. »Komm mit in die Küche, da können wir reden.« Kate ließ ihn vorgehen und schloß leise die Tür hinter ihnen. Zu ihrer Schande bemerkte sie, daß ihre Hände zitterten. »Hör zu, etwas sehr Merkwürdiges ist passiert. Ich habe Alison draußen in den Dünen gefunden, wie sie in einer Art Trance in der Grabungsstelle kniete. Deine Eltern müssen mit dem Land Rover kommen und sie nach Hause holen. Es geht ihr gut, mehr oder weniger, aber nicht gut genug, um schon zu Fuß zu gehen. Ich glaube, ihr solltet sie zum Arzt bringen.«

»O verdammt.« Patricks schmales Gesicht war ein Bild der Sorge. »Greg ist mit dem Land Rover unterwegs. Niemand weiß, wo er hingefahren ist. Der Volvo schafft es nicht durch den Wald. Es ist ein einziger Morast. Und im Radio haben sie Sturmwarnung gegeben. Sie erwarten eine Menge Schnee.«

»Verflucht!« Kate kaute an ihrem Daumennagel.

»Was fehlt Allie? Was hat sie bei dem Wetter draußen bei der Grabungsstelle gemacht?« fragte Patrick nachdenklich.

»Ich weiß es nicht. Sie hatte weder eine Schaufel noch sonst was dabei. Sie schien sich in einem Schockzustand zu befinden.« Kate musterte ihn. Sie hatte bis jetzt kaum mit diesem ernsthaften jungen Mann gesprochen, aber was sie sah, gefiel ihr. Er schien ruhiger und ausgeglichener als seine Schwester und sein Bruder zu sein œ tatsächlich schien er mehr nach seinem Vater zu schlagen. »Irgendwas ist ihr da draußen zugestoßen, Patrick. Ich weiß nicht, was, aber es hat ihr eine fürchterliche Angst eingejagt. Sie ist immer noch voller Furcht. Und ich auch.« Sie hatte den letzten Satz eigentlich nicht hinzufügen wollen.

Patrick sah sie argwöhnisch an. »Sie hat irgendwas losgetreten, als sie an diesem Grab herumgemacht hat, oder?« sagte er. Seine Stimme war angenehm, hell, ruhig. »Sie hat was wachgerüttelt.«

Kate schluckte. »Ich glaube, das könnte sein«, sagte sie vorsichtig.

»Glauben Sie, daß es das Grab von Marcus ist?«

Kate schüttelte den Kopf. »Eigentlich nicht. Sie haben ja sein Grab irgendwo in der Nähe von Colchester gefunden.« Sie zögerte. »Ich glaube, es ist das Grab einer Frau.«

»Verstehe.« Er runzelte die Stirn. Er wirkte nicht überrascht. Er fragte nicht, woher sie das wußte. Es ging ihm mehr darum, diese neue Reihe von Möglichkeiten in seinem Kopf hin und her zu wenden. »Sie meinen, der Geist ist kein Scherz. Es spukt wirklich eine Frau in diesem Cottage herum. Glauben Sie, Allie hat sie gesehen?«

Kate nickte. »Sie heißt Claudia.«

Patricks Augenbrauen schössen nach oben. »Woher wissen Sie das?«

»Allie hat was von ihr gemurmelt. Sie kann sich jetzt nicht mehr daran erinnern, aber sie hat den Namen mehrfach gesagt.«

»Wow.« Patrick sah von Ehrfurcht ergriffen aus. »Oh Mann. Ich wünschte, Mum und Dad wären hier.« Er sah nach oben und schlug ärgerlich in die Luft, als eine Fliege im Sturzflug auf das Licht neben ihm zuraste. Kate starrte sie an. Etwas Kaltes hatte sich in ihrer Magengrube eingenistet. Woher kamen sie, diese Fliegen œ und die Maden?

Patrick grinste, als habe er ihre Gedanken gelesen. »Diese Fliegen gibt‘s im Winter oft in alten Häusern«, sagte er beruhigend. »Sie überwintern da oder sowas. Wahrscheinlich gibt es tote Mäuse unter den Dielenbrettern. Sie haben hier gut eingeheizt, das hat sie aufgeweckt.«

Er hatte natürlich recht. Kate fröstelte. Hatte sie wirklich angefangen, darüber nachzudenken, tief unten im Innersten ihrer selbst, ob die Maden und die Erde und die Fliegen irgendwie aus dem Grab gekommen waren? Sie versuchte ein schwaches Lächeln. »Ich war schon dabei, das Schlimmste anzunehmen.«

»Haben Sie sie auch gesehen? Claudia?« Patricks Augen waren wie die seines Bruders. Sie waren von einem tiefen Graugrün und sahen alles, aber im Gegensatz zu denen seines Bruders waren sie schläfrig und sanft. Und irreführend. Sie konnte spüren, wie sie sich in ihre Seele bohrten.

»Ja, ich habe sie gesehen.«

Wieder schien er ihre Antwort zur Kenntnis zu nehmen, ohne überrascht zu sein. Seine Stimme klang weder spöttisch noch ungläubig, als er die nächste Frage stellte.

»Glauben Sie, daß sie das Haus verwüstet hat?« Er hielt ihrem Blick stand.

Sie zuckte mit den Schultern. »Ich habe vorher nie wirklich darüber nachgedacht, ob ich an Geister glaube oder nicht. Es war ein netter Gedanke, daß sie existieren könnten œ in sicherer Entfernung.«

»Wissenschaftlich gesehen ist der Gedanke natürlich unhaltbar.«

Sie lächelte. »Wirklich? Na ja.«

»Psychokinetische Energie ist meßbar, glaube ich, und man hat bewiesen, daß sie in der Lage ist, Dinge ein bißchen herumzuschleudern. Poltergeister sind nichts anderes. Sie stehen oft in Verbindung mit der Anwesenheit eines Teenagers. Mit unseren Ängsten und Frustrationen.« Er lächelte, und Kate dachte nicht ohne Belustigung, um wieviel erwachsener dieser ernste Junge war als sein großer Bruder.

»Allie hat was von einer Göre«, fuhr er fort, »aber sie ist kein schlechter Kerl. Sie hat nichts Bösartiges. Sie würde das nicht absichtlich tun.« Er sprach mit der Gewißheit eines Jungen, der zwei Jahre älter war. Er hob den Kopf, als ein ungewöhnlich starker Windstoß einen Hagelschauer an das Fenster schleuderte, und er fröstelte. »Kann ich das Zimmer sehen, wo es passiert ist, bevor ich gehe?«

»Nur zu. Oben links am Ende der Treppe.« Sie blieb in der Küche, als er hinauflief, und lauschte dem Klang seiner Schritte. Ein paar Minuten später kam er wieder herunter. »Alles sauber.« »Sie hat, was sie wollte.«

»Allie?«

»Nein. Nicht Allie.«

Seine Augen wurden weiter. »Ich wußte nicht, daß etwas fehlt. Ich dachte, daß nichts mitgenommen wurde.«

»Sie haben œ sie hat œ den silbernen Halsring mitgenommen, den ich im Grab gefunden habe.«

»Wow.« Er schwieg eine Weile, während er darüber nachdachte, und sagte dann: »Es kann kein Geist gewesen sein. Es muß doch ein echter Dieb gewesen sein.« Er klang enttäuscht. »Geister können nichts stehlen.«

»Und ob.« Keiner von beiden hatte bemerkt, daß Alison in der Tür erschienen war. Sie steckte in der Decke wie in einem Mantel. Ihr Gesicht war so weiß, daß es fast durchsichtig wirkte. Sie ging mit unsicheren Schritten zum Hocker und zog sich hoch. »Sie wollte den Halsring, weil er ihm gehört hat.«

»Wem?« Patrick starrte seine Schwester an.

»œ« Wieder hatte sie angefangen zu sprechen und dann gleich wieder innegehalten, als wäre ihr das Wort œ der Name œ von den Lippen gerissen worden. »Ich weiß nicht. Aber sie hat ihn geliebt.«

Patrick warf Kate einen schnellen Blick zu. Er schien sie um Verständnis zu bitten. »Allie, hör mir zu. Ich fahre jetzt heim und hole Mum und Dad. Du gehörst ins Bett, und zwar sofort.«

»Mir geht‘s gut.« Allies Körper strafte sie Lügen, als er unwillkürlich zu zittern begann.

»Komm mit ihnen zurück, so schnell du kannst«, sagte Kate leise, als sie mit Patrick zur Tür ging. »Bitte. Ich glaube, wir œ sie œ sollte hier nicht allein sein.«

Sie sah zu, wie er seinen leuchtend gelben Umhang überwarf. Plötzlich wollte sie nicht mehr, daß er ging. Sie wollte ihn am Ärmel festhalten und ihn anschreien, damit er blieb. Sie wollte, daß er sich mit ihnen im Haus verbarrikadierte. Dumme Gans. Wovor fürchtest du dich denn?

»Sie braucht einen Arzt, Patrick. Es ist halb so schlimm, glaube ich, solange sie sich warm hält, aber ich kenne mich mit solchen Sachen nicht aus. Mir wäre viel wohler, wenn jemand sie sich ansehen würde.«

Er nickte. »Keine Sorge. Mum war früher Krankenschwester. Sie weiß bestimmt, was zu tun ist. In zehn Minuten bin ich zu Hause. Wenn Greg noch nicht mit dem Land Rover zurück ist, rufen wir Bob Farnborough oben an der Hauptstraße an. Sein Auto hat Vierradantrieb.« Er drehte sich um und ging hinaus in den Schneeregen, dann blieb er stehen. »Es kommt alles in Ordnung, keine Sorge. Schließen Sie nur die Tür ab, und lassen Sie keinen rein.«

Sie starrte ihn an. Als sich ihre Blicke trafen, wurde ihr klar, daß auch er Angst hatte und daß er genauso gut wie sie wußte, daß Türen Claudia nicht fernhalten würden.