II
Er fehlte ihr.
Die Wohnung war geputzt und bereits leergeräumt, obwohl sie noch darin lebte. Die Tage vergingen nur langsam. Sie mußte schnell irgendeine Wohnung finden, eine, die sie sich leisten konnte, in der sie leben, in der sie ihre verletzte Selbstachtung wiedergewinnen, in der sie schreiben konnte.
Sie versuchte, das Geschehene zu rechtfertigen; sich darüber klar zu werden. Ja, er hatte recht. Es hatte nicht funktioniert. Es hatte zu viele Konflikte zwischen ihnen gegeben, zu viel Konkurrenz. Und sie war es gewesen, die alle Opfer gebracht hatte: ihre Zeit, ihre Konzentration, ihr Geld und ihre Hingabe.
Aber das war jetzt vorbei. All ihre Zeit, ihre Konzentration, ihre Hingabe konnte sie jetzt auf eine Sache richten: auf einen Mann. Byron. Stehend strich sie Honig auf eine Scheibe Brot, sah, wie die Vollkornstücke auseinanderbröselten, und versuchte, die Stücke wieder zusammenzufügen. Sie konnte nicht in London bleiben. Ihr Geld œ das Geld, das sie ihm geliehen hatte œ war ihr einziges Kapital gewesen. Sie hatte, den Taschenrechner in der Hand, einen Morgen damit zugebracht, ihre Bankauszüge und ihren Bausparvertrag durchzugehen, um herauszufinden, wie lange sich die letzten paar hundert Pfund strecken ließen. Gott sei Dank war sie klug genug gewesen, einen Teil davon in Staatsanleihen anzulegen, und die hatte sie nicht einmal für Jon angerührt. Ohne dieses Geld wäre sie jetzt wirklich in Schwierigkeiten gewesen.
Das war alles ihre Schuld. Sie war nun einmal ein Dummkopf, der klassische, vernarrte Hanswurst. Die Schuld lag ganz allein bei ihr. Natürlich auch bei Jon. Sie beschimpfte ihn in Gedanken. Das half etwas, doch immer wieder kehrte sie zu dem leeren Platz in ihrem Leben zurück, zu der Tatsache, daß er ihr fehlte.
Aber das Leben mußte weitergehen, und so fand sie sich zwei Tage später im Rundfunkgebäude wieder, wo ihr alter Freund, Bill Norcross, eine der Produktionsabteilungen leitete.
»Dann ist also wahr? Mit dir und Jon ist es aus und vorbei. Die schöne Kate Kennedy ist aus dem Käfig ausgebrochen und hat die Hand gebissen, die sie gefüttert hat.«
Bill lehnte sich in seinem Sessel zurück und deutete für Kate auf einen zweiten, der im spitzen Winkel zu seinem Schreibtisch stand.
Kate verzichtete auf eine scharfe Erwiderung und setzte sich. Sie sah seine Augen wie automatisch vom Ende ihrer schwarzen Lederstiefel zu ihrem Rocksaum hochwandern. Geschützt durch das Wissen, daß ihre Schenkel in eine dicke und nicht sonderlich elegante schwarze Wollstrumpfhose gehüllt waren, schlug sie die Beine übereinander, bewußt provozierend. »Er hat mich nie ernährt, Bill. Ich habe für mich selbst gesorgt«, sagte sie ruhig.
Bill strahlte sie liebenswürdig an. Sie war groß, so wie Jon, und ihr Körperbau war dem seinen so ähnlich, daß viele sie für Bruder und Schwester gehalten hatten. Während Jon aber schlaksig und lässig aussah, wirkte sie elegant und anmutig, ein Eindruck, den ihr langes, braunes Haar, im Nacken locker mit einem scharlachroten Seidenschal zusammengebunden, und ihre schlanken Finger noch verstärkten. Im Moment hielten diese eine Brille, die Kate erst aufgesetzt hatte, um Bills Gesichtszüge zu mustern, aber dann gleich wieder abnahm, als reichte ein Zehn-Sekunden-Schwenk für ein Leben.
»Ich brauche deine Hilfe, Bill. Ich brauche einen Platz, wo ich eine Zeitlang wohnen kann.« Sie hielt inne und schenkte ihm ein vorsichtiges, zögerndes Lächeln. »Ich dachte, ich könnte vielleicht in deinem Cottage unterkommen.«
Bill runzelte die Stirn. »Mein Gott. Du mußt wirklich verzweifelt sein. Weißt du, wo mein Cottage liegt?«
Sie lachte. »Soviel ich weiß, oben im Norden von Essex.«
»In der schönsten Ecke von Essex und damit, wie ich finde, in der schönsten Ecke von England. Nur leider ist das zu dieser Jahreszeit auch die unzugänglichste und kälteste Ecke dieses Landes. Ich habe dort nur ein Minimum an sogenanntem Komfort. Das Schlafzimmer ist voller Gerumpel, das Dach undicht, und außerdem ist das Haus furchtbar feucht und kalt. Du würdest dich elend fühlen. Hat Jon dich rausgeworfen?«
»Sozusagen.« Ihre Lippen wurden schmal. »Ich hatte gedacht, daß wir uns die Wohnung teilten, aber das war wohl ein Irrtum.«
»Also habt ihr euch getrennt?«
Sie nickte. »Das theatralische Getue ist vorbei. Wir sind nun einmal furchtbar zivilisiert.«
Es tat weh, darüber zu sprechen.
Sie kannte Bill seit fünfzehn Jahren, seit ihrem ersten Semester an der Uni. Er war einer ihrer besten Freunde, aber vom Geld würde sie ihm nichts erzählen. Es ging ihn nichts an, was sie mit ihren Ersparnissen gemacht hatte und daß ihr Geld nicht mehr für die Miete reichte. Außerdem hatte Jon versprochen, alles zurückzuzahlen, wenn er den nächsten Vorschuß bekam. Oder den übernächsten… Fröhlicher, großzügiger, nutzloser, egoistischer, verdammter Jon! Und sie war der Dummkopf, der auf ihn hereingefallen war!
Bill lehnte sich zurück und verschränkte die Arme vor der Brust. Er war ein korpulenter Mann mit Haarausfall, Mitte Dreißig, mit einem humorvollen, sympathischen Gesicht, das zu seinem Kummer nichts außer einer fröhlichen, immerwährenden Jovialität ausstrahlte.
»Gehe ich recht in der Annahme, daß Jon dich um den Großteil der Kohle erleichtert hat, die du für Jane bekommen hast?«
Sie zog eine Augenbraue hoch. »Hat er dir das gesagt?«
»Nicht direkt, nein. Ich hab‘s mir gedacht. Schließlich kannte ich euch beide schon eine ganze Weile, bevor ihr euch begegnet seid. Bist du völlig blank, oder kannst du dir noch ein bißchen Miete leisten?«
»Ein bißchen schon«, sagte sie vorsichtig. »Aber keine Londoner Preise.«
»Nun gut. Nicht weit von meinem Häuschen. In Essex. Oben in der Redall-Bucht. Meine Nachbarn haben da ein Cottage, das wollen sie für sechs Monate vermieten. Es liegt nur ein paar Meilen von meinem weg, ist aber viel zivilisierter. Und still.« Er lachte plötzlich. »Still wie ein Grab.«
»Und würden sie es mir vermieten?«
»Bestimmt. Sie haben davon gesprochen, als ich das letztemal oben war. Sie brauchen das Geld. Wenn ich dich empfehle und wenn du einen Scheck mit drei Monatsmieten im voraus auftreiben kannst, bin ich ziemlich sicher, daß sich das machen läßt.« Er beugte sich unvermittelt nach vorn und zog eine Schreibtischschublade auf. Der Stapel Photos, den er vor ihr auf die Schreibunterlage warf, war verknittert und abgegriffen. »Es ist trostlos da, Kate. Überleg es dir gut. Du wärst dort schrecklich einsam.«
Sie nahm die Photos und warf dabei einen Blick auf sein Gesicht. »Ich weiß, daß es trostlos ist. Ich kenne die Küste. Ich war schon ein-, zweimal da oben.«
Auf den Bildern waren Urlaubsszenen zu sehen: Menschen, Boote, Hunde, Kinder, Sand, Kieselsteine und immer das Meer ein graugrünes, schmutziges Meer. Auf einem sah sie in der Ferne ein kleines Cottage. »Ist das dein Häuschen?«
Er nickte. »Im Winter fahre ich nicht oft hm. Ich halte die Kälte und die Verlassenheit dort nicht aus.«
»Es sieht hübsch aus. Aber irgendwie überlaufen.« Sie sah ihn spitzbübisch an. »Ich brauche Abgeschiedenheit. Vergiß nicht, daß ich ein Buch schreibe.«
»Was sonst?« Mit einer ausladenden Armbewegung stand Bill auf. »Wenn ich‘s schaffe, eine Mieterin für Roger und Diana zu finden, die gutes, hartes Geld für das Privileg bezahlen kann, in deren gottverlassenem Cottage zu wohnen, wo man sich œ ich meine natürlich nicht dich œ die Eier abfriert, dann bringt mir das jede Menge Brownie-Punkte bei ihnen ein, und sie sind ewig in meiner Schuld. Gib mir ein paar Tage, um sie anzurufen und ihnen deinen Scheck zu schicken, und ich garantiere dir, daß sie dich œ vorausgesetzt, daß er nicht platzt œ mit offenen Armen empfangen.«
Sie stand auf. »Erzähl Jon bitte nicht, wo ich bin, Bill œ falls er sich dafür auch nur entfernt interessieren sollte«, sagte sie beim Gehen. »Zumindest vorläufig will ich den völligen Bruch. Zu meinen Bedingungen.«
»Biest.« Er sagte es mit großer Zuneigung.
»Nun, warum nicht. Er hat mir das alles eingebrockt.« Sie war überrascht, daß sie keinen Ärger empfand.
»Dieser blöde Arsch.« Bill grinste liebenswürdig. »Ich sag‘ dir was. Ich fahre am Wochenende mit dir hin. Es kann nicht schaden, wenn mein Häuschen ein bißchen auslüftet. Dann kannst du mich Sonntag abend am Bahnhof absetzen, und ich überlasse dich dem Ostwind und fahre zurück nach London, um für mein leibliches Wohl zu sorgen.«
Es ging schnell, ihre Sachen aus Jons Wohnung zu holen. Es schien nicht viel zu sein œ außer ihren Büchern natürlich.
Überdies hatten sie alles freundschaftlich geregelt, ganz wie sie sich das vorgenommen hatte. Erwachsen und geschäftsmäßig hatten sie sich verhalten, und völlig ruhig beim Entflechten ihrer Angelegenheiten œ eine Scheidung ohne die Komplikationen einer Ehe. Jon war mit einem kühlen Kuß auf die Wange nach New York abgereist, einige Tage früher als geplant. Er fragte nicht, was sie vorhatte; und über das Geld hatten sie nicht gesprochen.
Ein halbes Dutzend Kisten wurde im rückwärtigen Teil ihres Autos verstaut, ein Karton mit Pflanzen, sorgfältig gegen den kalten Wind geschützt, und ein Arm voll überflüssiger Kleider. Das war alles, was von ihrem Leben in London blieb. Sie schaffte alles auf den Dachboden von Bills Haus in Hampstead. Es sollte eingelagert werden, bis auf die Pflanzen natürlich, die er verhätscheln und umhegen würde, weit weg vom Wind in East Anglia. Es blieben ihr Laptop und ihr Drucker, ihre Bücher, ihre Kästen mit Karteikarten und Notizen und ein paar Koffer mit Jeans, dicken Pullovern und Gummistiefeln. Erst, als sie alles in ihren kleinen Peugeot gepackt und sich ein letztes Mal in der Wohnung umgeschaut hatte, drohte sie der kleine, tückische Klumpen in ihrer Kehle zu ersticken. Sie schluckte ihn hinunter, ohne eine Miene zu verziehen.
Das war der Anfang vom Rest ihres Lebens. Sie schlug die Eingangstür hinter sich zu, schob die Schlüssel durch den Briefschlitz und hörte, wie sie auf der anderen Seite der Tür mit einer dumpfen Endgültigkeit auf dem Teppich landeten, die genau zu ihrer Stimmung paßte. Sie hatte sich nicht danach erkundigt, wie sich Cyrus Grandini Zutritt zur Wohnung verschaffen würde, und Jon hatte es ihr auch nicht gesagt. Sie klappte rasch ihren Jackenkragen hoch und rannte die Stufen hinunter zu ihrem Auto. Sie würde Bill auf ihrem Weg quer durch London im Funkhaus abholen, und dann würden sie zusammen nach Nordosten fahren.