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Schneeregen traf die Seite der Düne, drang in die sandigen Spalten, blieb dort einen Moment lang liegen, halb Schnee, halb Eis, schmolz dann und lief in die Risse und Ritzen. Wieder fiel ein Klumpen Sand ab. Der schwarze, schwammige Torf darunter roch süßlich. Jetzt, da er nicht mehr mit einer luftdichten Hülle überzogen war und da seit fast 2000 Jahren zum erstenmal Tageslicht auf ihn fiel, wusch ihn der Schneeregen in einem schwarzen Streifen über die Vorderseite der Ausgrabung nach unten.

Weiter unten sank der große goldene Halsreif, das Symbol von Nions königlicher Abstammung, noch tiefer in den Grund. Durch sein Gewicht von seinem silbernen Begleiter getrennt und angenommen von welchen Göttern auch immer, dort in dieser finsteren Unterwelt, würde er nie wieder im Licht der Sonne erstrahlen.

Das Meer war unruhig, die Wellen braun von den Sandbänken, die der Sturm in der Nacht abgenagt und neu formiert hatte. Darüber sandte ein tief und schnell fliegender Schwärm Gänse seine laut tönenden Signalrufe hinaus in den Wind, wo sie sich verloren.

Noch eine Flut, noch ein Sturm, und die Düne würde verschwunden sein, der Torf und der Lehm würden sich mit den tosenden Tiefen der Nordsee mischen, und ihr Geheimnis würde für immer verborgen sein. Wieder löste sich ein Stück weicher schwarzer Erde, rutschte hinab, und die Luft, zerstörerisch, ätzend, heimtückisch, berührte den Arm, der dort in etwas gebettet lag, was einmal ein Floß aus blühenden Binsen gewesen war. Um den Oberarmknochen, lose, wo er einmal eng angelegen hatte, lag der zu einem Halbkreis gebogene Armring des Priesters.

»Kommen Sie, hier durch.« Patrick wandte sich Kate zu und reichte ihr seine Hand. Sie keuchten jetzt beide, erschöpft von der Kletterei durch ein Wirrwarr aus nassem Gestrüpp.

»Bist du sicher, daß du weißt, wo diese Abkürzung hinführt?«

Kate kletterte hinter ihm her und hörte, wie ihre Jacke an einem Brombeerstrauch hängenblieb und den nächsten Riß bekam, als sie sich einen rutschigen Abhang hochhievte. Schließlich stand sie neben ihm in einer Lichtung.

»Natürlich. Greg und ich sind früher immer so gegangen. Der Weg verläuft völlig anders; so schneiden wir die ganze Ecke ab und kommen gleich unterhalb des Hauses der Farnboroughs raus.« Patrick sah sich um. Es war vollkommen dunkel in der Lichtung; die Bäume, glänzend vom Schneeregen, hingen tief über ihnen, und auf den Blättern einer Steineiche konnten sie das Zischen des Regens hören. Die Luft roch nach nasser Erde, Bucheckern und verfaulenden Blättern.

Kate lief ein Schauder über den Rücken. Sie blickte zu Patrick. Er trug das Gewehr jetzt auf dem Rücken; in der Hand hielt er einen dicken Stock, den er aus einem Gebüsch gezogen hatte, als sie in den Wald eingetaucht waren. Beides beruhigte sie. Sie blickte sich wieder um. Nicht zum erstenmal hatte sie das Gefühl, daß sie beobachtet wurden. Ihre Faust legte sich fester um ihren eigenen Stock. Er war nicht so lang wie der von Paddy, aber genauso kräftig. Sie hielt ihn vor sich, als ihr Blick sich in den Schatten verlor.

Patrick sah ihren Blick. »Da ist niemand.« Er klang nicht sehr zuversichtlich. Wenn da jemand wäre, würden wir hören, wie die Vögel auffliegen. Fasane. Tauben. Sie haben ja vorhin gehört, was für einen höllischen Lärm sie machen, als wir sie aufgescheucht haben. Und hier unten gibt es Elstern. Sie alle würden es uns wissen lassen, wenn irgendwer in der Nähe wäre œ oder irgendwas.

Sie nickte. »Trotzdem wünschte ich, wir hätten einen Hund dabei.«

Patrick nickte. Er grinste. »Eine Abteilung Fallschirmjäger wäre auch nicht verkehrt. Los. Es kann nicht mehr weit sein. Wenn wir erst auf der Straße sind, geht‘s uns gleich besser.«

Also spürte er es auch. Kate schaute wieder hinter sich. Es war nichts mehr zu sehen, woher sie gekommen waren. Das Gewirr aus Brombeersträuchern, toten braunen Gräsern und Nesseln hatte sich wieder geschlossen, ohne eine Spur davon zu hinterlassen, wo sie sich durchgekämpft hatten. Einen Moment lang geriet sie in Panik. »Wohin jetzt?«

»Aufwärts. Die Straße liegt ein gutes Stück höher als unsere Farm. Es geht immer den Berg hoch. Wir müßten dann irgendwo zwischen Welsly Cross und der Farnborough-Farm auf die Straße stoßen. Wir können uns gar nicht verlaufen.«

»Nein?« grinste sie matt. »Ich hoffe, das sind keine dieser berühmten letzten Worte.«

Er war schon im Begriff weiterzugehen, als er plötzlich stehenblieb. Er sah sie lange an. Sein schmales Gesicht war eingefallen vor Erschöpfung. »Sie sehen völlig kaputt aus.«

Sie lächelte. »Genauso wie du.«

»Das alles ist bald vorbei, oder?«

»Natürlich ist es das.« Der Versuch, ihn zu beruhigen, vergrößerte ihre eigene Zuversicht keineswegs. Sie schaute zum Himmel. Wo sie ihn durch die ineinanderverschlungenen Zweige des Gebüschs sehen konnte, wurde er immer schwärzer. »Wir sollten weitergehen.«

»Ich weiß. Es war nur ein Vorwand, um wieder zu Atem zu kommen.« Er zog den Gewehrriemen höher über seine Schulter, dann drehte er sich um und ging mehr mit gespielter Tapferkeit als wirklicher Zuversicht voraus, den hohen rutschigen Abhang hinauf, der aus dem Dickicht und, wie er hoffte, nach Norden führte.

Zehn Minuten später blieb er stehen. »Es müßte hier so eine Art Waldweg geben. Aber er könnte zugewachsen sein.« Er klang unsicher.

»Hast du einen Kompaß?« Alle Jungen auf dem Land behängten sich doch mit so etwas.

Er schüttelte den Kopf. »Ich kenne diesen Weg wie meine Westentasche.«

Sie enthielt sich eines Kommentars.

Er räusperte sich. »Es wird immer dunkler.«

»Ich weiß. Bald schneit es wieder. Man kann es riechen.«

Er lächelte. »Und dabei hat Greg gedacht, Sie seien Lady Muck aus der Stadt. In vieler Hinsicht wissen Sie mehr über das Land als er.«

»Das mag sein -« Sie verstummte, als sie aus dem Augenwinkel eine Bewegung sah. Sie wirbelte herum und starrte in die Schatten der Bäume. »Was war das?« flüsterte sie.

»Wo?« Er riß sich das Gewehr von der Schulter.

»Es war, als hätte sich etwas bewegt.«

Sie starrten schweigend in die Dunkelheit, Seite an Seite.

»Wahrscheinlich ein Kaninchen oder ein Reh«, flüsterte Patrick.

Sie versuchte, das dichte Gebüsch mit ihren Blicken zu durchdringen. Da war es wieder, ein Schatten vor den Schatten. Aufrecht. Ein Mensch. »Da.« Ihr Flüstern war kaum zu hören. »Da ist jemand.«

»Was sollen wir tun?« Patricks Stimme wurde vor Panik höher, und das erinnerte sie daran, daß er noch ein Schuljunge war und wahrscheinlich noch mehr Angst hatte als sie.

»Ich weiß es nicht. Er muß uns gesehen haben.«

»Glauben Sie, daß er ein Gewehr hat?«

Sie schüttelte den Kopf. »Kaum. Das wüßten wir mittlerweile.«

»Soll ich auf ihn schießen und versuchen, ihn zu vertreiben?«

»Ich weiß nicht.« Sie hatte wieder angefangen zu zittern. »Was, wenn ihn das nur wütend macht?«

»Wenn er dann auf uns losgeht, wissen wir wenigstens, wer er ist. Und ich kann ihn dann wirklich erschießen.« Sie sah, wie Patricks Finger sich um den Abzug legte.

Sie hatte nur eine Sekunde lang den Blick von dem Schatten abgewandt. Jetzt, als sie wieder hinschaute, war er näher gekommen. Er war groß; dunkel. Zu ihrem Entsetzen sah sie, daß er sich sehr schnell bewegte. Er schien keine Probleme mit dem Wirrwarr aus Gestrüpp zu haben. »Ja. Los, schieß.« Sie hörte, daß ihre Stimme vor Angst zitterte.

Der Gewehrknall war gewaltig. Er hallte durch den Wald, wurde von den Bäumen zurückgeworfen und machte sie vorübergehend taub. Ein Fasan flog schreiend auf, gefolgt von einem Paar Tauben mit laut klatschenden Flügeln. Patrick ließ vorsichtig das Gewehr sinken und fühlte in seinen Taschen nach den Patronen. »Wo ist er geblieben? Habe ich ihn getroffen?« Zu seinem Verdruß wußte er nicht, ob er auf die schemenhafte Gestalt gezielt hatte oder nicht. Er hatte zuviel Angst gehabt, um zu denken.

»Ich sehe nichts.« Sie starrte in die Bäume, richtete den Blick angestrengt auf die dunkelsten Ecken. Es war nichts zu sehen.

Mit bebenden Händen lud Patrick das Gewehr. »Wenn ich jemanden getötet habe, komme ich ins Gefängnis.«

»Aber nicht, wenn dieser Jemand Bill ermordet hat, verlaß dich drauf.« Sie berührte beruhigend seine Schulter. »Ich weiß nicht, ob da jemand war. Es könnte auch nur ein Schatten gewesen sein.«

»Sollen wir nachsehen?«

Sie zögerte, dann schüttelte sie den Kopf. »Schauen wir lieber, daß wir auf die Straße kommen und die Polizei holen. Die können dann nachsehen.«

Langsam, jetzt noch nervöser, kämpften sie sich voran. Ein paar Minuten später blieb Patrick so plötzlich stehen, daß Kate mit ihm zusammenstieß. »Da, sehen Sie.« Er zeigte nach vorn.

Sie folgte seinem Finger und hielt den Atem an. Da war er wieder. Auf dem Wildwechsel vor ihnen. Neben ihr hob Patrick das Gewehr. Sie sah, wie der Lauf schwankte, als er den Hahn spannte, und starrte auf die Gestalt. Es war nicht mehr als ein Schatten. Sie konnte keine Gesichtszüge sehen œ überhaupt kein Gesicht, nur eine Silhouette. Aber es war ein Mann.

Er war verschwunden, bevor Patrick abdrücken konnte. »Wo ist er?« Patrick stand völlig reglos, das Gewehr an der Schulter.

»Verschwunden.« Kate spürte, wie sie zitterte. »Er verschwand, während ich ihn beobachtete. Paddy, halt das Gewehr schußbereit, und laß uns langsam weitergehen.«

Sie machte einen Schritt nach vorn, so nahe an Patrick, daß er spüren konnte, wie ihre Jacke seinen Arm streifte.

»Man sollte nicht mit einem geladenen Gewehr herumlaufen«, flüsterte er.

»Das ist ein Notfall. Stolper nur nicht.« Sie waren mittlerweile dort, wo er gestanden hatte. Sie sah auf den Boden. Es gab keine Fußspuren im Schlamm.

»Marcus?« Sie hauchte den Namen.

Patrick ließ das Gewehr sinken. »Mir gefällt das gar nicht, Kate. Und wir müßten längst auf der Straße sein.« Er warf einen Blick über die Schulter. »Wir haben uns verirrt.«

»Wie groß ist dieser Wald?« Sie suchte den Boden immer noch nach Fußabdrücken ab. Hier und da, wo der Boden weich war, entdeckte sie die Spur eines Kaninchens und die tiefen, scharf geschnittenen Spuren eines Rehs, aber keine, die ein Mensch hinterlassen hatte. »Hunderte von Morgen. Auf der anderen Seite sind Nadelbaumschonungen. Meilenweit.« Er zitterte sichtlich.

»Findest du zurück zu eurer Farm?« Sie sah ihn an. Der Junge war den Tränen nahe.

Er schüttelte den Kopf. »Ich weiß nicht, wo wir sind.«

»Also gut«, meinte sie zuversichtlich. »Denken wir nach. Dein ursprünglicher Plan, immer dem ansteigenden Gelände zu folgen, klingt vernünftig. Wir können nicht den ganzen Tag hier draußen bleiben; wir dürfen nicht aufgeben. Also los. Am besten, wir gehen nur bergauf. Wenn wir dann, wie du sagst, auf die Straße stoßen, ist alles in Ordnung.« Sie versuchte, sich im Geiste ein Bild von der Landkarte zu machen. Das Meer mußte im Osten liegen; die Flußmündung im Süden. Blieben nur zwei Richtungen: nach Norden, wo die Straße von Osten nach Westen zur Küste führte, oder nach Westen, wo sich vermutlich der Wald bis zu der trostlosen, landwirtschaftlich genutzten Grassteppe östlich von Colchester und südlich der sanft bewaldeten Bodenfalten des Stour-Tals erstreckte.

»Komm schon, Paddy. Wir können uns nicht verirren. Nicht hier. Schließlich ist das kein unerforschtes Gebiet. Uns wird nur langsam kalt, und müde werden wir auch.«

»Und verängstigt«, warf er ein. Sie wünschte, er hätte es nicht gesagt.

»Also gut, und verängstigt.«

»Sie denken, es ist Marcus, stimmt‘s?«

Sie schüttelte den Kopf. »Ich weiß nicht. Ich weiß nicht, was ich denken soll. Ich will auch nicht mehr denken. Sparen wir uns unsere Kraft für das Gehen auf.«

Er zögerte, wollte etwas sagen, dann überlegte er es sich anders. Er sicherte das Gewehr und hängte es wieder über die Schulter. »Okay. Wo, würden Sie sagen, geht‘s nach oben?«

Sie blickte sich um. »Immer den Wildwechsel da rauf. Soll ich vorangehen?« Der Weg war so schmal, daß sie hintereinander gehen mußten. Sie sah, wie er zögerte, und wußte, daß er nichts lieber als Ja sagen würde. Aber seine Ritterlichkeit oder männlicher Stolz, oder der Besitz des Gewehrs, oder etwas von allen dreien siegte, und er schüttelte den Kopf. »Ich gehe zuerst. Sie können mir den Rücken decken.« Sein Kichern grenzte an Hysterie.

Zwei Minuten später blieb er stehen und schnappte vor Entsetzen nach Luft. Der Schatten auf dem Weg war nur ein paar Meter von ihnen entfernt. Ein eisiger Wind wirbelte um ihn herum, peitschte Blätter und Erde vom Boden auf, heulte durch die Zweige der Bäume nach oben, wurde immer stärker, bevor er sich zu einem Schrei erhob, als der Haß und die Wut sie trafen wie etwas, das sich mit Händen greifen ließ. Kate hörte, daß Patrick einen Schrei ausstieß, und sie sah, wie er zur Seite taumelte und das Gewehr in die Luft flog. Einen Augenblick lang bekam sie keine Luft. Sie spürte, wie sich ihr die Kehle zuschnürte. Die Füße versagten ihr den Dienst. Sie hörte einen gewaltigen Knall, und plötzlich wurde ihr schwarz vor Augen.