LI
Fett, zuversichtlich, arglos starben die Priester wie Schafe; ihre Kehlen ließen sich durchschneiden wie Butter. Auf den Lippen hatten sie noch ein entrüstetes, protestierendes Winseln, als sie zu Boden fielen. Soviel zur Macht ihrer Götter! Er wischte sein Messer an einer Falte seines Mantels ab und steckte es triumphierend lächelnd zurück in die Scheide. Damit war die Sache erledigt. Die Britannier, die Hure, alle tot, alle auf dem Weg in den Hades. Niemand würde es je erfahren. Die Trinovanter würden nie einen Grund zur Rebellion von ihm geliefert bekommen. Dieses kleine Drama endete am Rande des Sumpfes, wo es auch begonnen hatte. Wenn hier Männer verschwunden waren, würde man annehmen, daß die Götter mehr als ein Opfer verlangt hatten; sie waren gierig, diese britannischen Götter; sie dürsteten nach Blut wie Hunde in der Arena. Er verschränkte die Arme und starrte hinaus über den Sumpf, zum Himmel im Osten. Er war jetzt wolkenlos. Die Sonne schien kalt und dunstig, sauber wie die Klinge seines Messers, und das Licht schnitt durch den Wind. Ein schwerer Salzgeruch lag in der Luft und legte sich über den flachen, fahlen Geruch des Schlamms, reinigte ihn mit dem Weihrauch der Meere im Norden. Sein Blick fiel auf die Binsen, die am Rande des Sumpfes wuchsen; sie waren grün, auf den Spitzen saßen stachelig schimmernde Blüten. Alles war wie zuvor. Es gab nicht die geringste Spur, daß jemand da gewesen war. Er spannte langsam die Muskeln seiner Finger an und starrte auf seine Hand. Vier Leben, ausgelöscht wie Flammen, als ob es sie nie gegeben hätte. Und niemand würde es je erfahren.
Sie erwachte vom Klang eines Schusses. Laut und nah explodierte er in ihrem Gehirn. Dann Stille. Eine lange, lange Stille, in der sie sich mühsam durch das Nichts quälte. Ein Schuß. Es konnte kein Schuß gewesen sein. Wer sollte geschossen haben? Das Geräusch mußte in ihrem Kopf gewesen sein. Ein Teil des Alptraums. Ein Teil des Schmerzes. Cissy bemühte sich nicht, aus Unsinn Sinn zu machen. Sie schlief weiter.
»Mummy!«
Dieses Mal war es ein Schrei, der wie ein Traum in ihren Kopf trieb. »Mummy, es tut so weh. Hilf mir.«
Das Geräusch drehte sich und drehte sich, und endlich gelangte es in einen Teil ihres Gehirns, der zu einer Handlung fähig war. Cissy zwang sich mit einem Stöhnen, die Augen aufzumachen. »Susie?« Sie versuchte, sich zu bewegen. Um ihre Rippen lag ein enges Band, das sie am Atmen hinderte. »Susie?«
»Mummy.« Auf das Wort folgte ein Schluchzen.
Das Geräusch drang durch den Rest von Cissys Verwirrung. Mein Gott! Sie hatte einen Unfall gebaut. Es fiel ihr schwer, den Kopf zu heben. Sie schaute sich um und versuchte, Sinn in eine Welt zu bringen, die verkehrtherum war. Die auf der Seite lag. Der Wagen lag auf der Seite, und sie hing in ihrem Sicherheitsgurt. Sie schaute nach unten. Rot. Blut. Eine schreckliche Menge Blut. Lieber Gott, hatte Sue überhaupt den Sicherheitsgurt angelegt? Das Kind war unter ihr, vor dem Beifahrersitz zusammengekauert.
»Bist du okay?« Irgendwie schaffte sie es, daß ihre Stimme trotz
der Schmerzen in ihren Rippen ruhig klang.
»Wir hatten einen Unfall!« Die Erwiderung war im Ton einer
Beschwerde abgefaßt.
»Das sehe ich, Darling.« Cissy biß sich auf die Lippe bei dem
Versuch, sich unter Kontrolle zu halten. »Darling, ich weiß nicht,
wie ich mich bewegen soll. Bist du verletzt? Versuch eins nach dem
anderen, ob du deine Arme und Beine bewegen kannst. Sieh nach, ob
sie alle in Ordnung sind.« Ihre Lider waren schwer. Sie wollte die
Augen schließen, sich von dem Schmerz fortschleichen.
»Alles okay.«
»Und dem Kopf? Tut er weh?«
Sue bewegte ihn versuchsweise hin und her, und ihre Augen füllten
sich mit Tränen. »Ja.«
»Und dein Genick?«
»Ja.«
»Aber nicht so schlimm, daß du dich nicht bewegen
kannst.«
»Nein.«
»Kannst du irgendwie rausklettern?« Verschwommen sah sie, daß die
Windschutzscheibe weg war. Deshalb war es so kalt. Sie zitterte
jetzt, ihr ganzer Körper wurde von kurzen, qualvollen Anfällen
geschüttelt. »Wenn ich meinen Sicherheitsgurt aufmache, falle ich
direkt auf dich drauf.«
»Explodiert jetzt das Auto?« Sue weinte so sehr, daß sie nichts
gehört hatte.
»Nein, Darling, natürlich explodiert es nicht. Ein Range Rover kann
nicht explodieren.« Wenn doch, dachte sie, wäre das vermutlich
schon geschehen. »Bitte, Susie, ich will, daß du versuchst, tapfer
zu sein. Wir müssen hier rauskommen. Versuch, ob du dich durch die
Windschutzscheibe rauswinden kannst. Und dann schau, ob du
aufstehen kannst.« Das Atmen fiel ihr jetzt schwer. »Das ist ein
furchtbar großes Abenteuer.« Wer hatte das gesagt? Peter Pan, nicht
wahr? Aber er sprach vom Tod. »Bitte, Darling. Du mußt
rausklettern. Wenn du mir nicht helfen kannst, mußt du runter zur
Redall-Farm gehen und Hilfe holen. Wenn ich…« sie schluckte und
erstickte fast, »… Wenn ich ohnmächtig werde, darfst du keine Angst
haben. Ich glaube, ein paar Rippen sind gebrochen. Es ist nichts
Ernstes -« bitte lieber Gott » œ aber es tut sehr weh. Ich glaube,
wir müssen den Gurt durchschneiden.« Um sie drehte sich alles. Sie
runzelte die Stirn und versuchte, noch klar zu sehen. Sie konnte
Susie jetzt gar nicht mehr erkennen. Oder hören. Warum konnte sie
nichts hören? Sie versuchte, den Kopf zu heben und sich umzusehen,
aber ihre Augen schwammen in Tränen. Hände. Wo waren ihre Hände?
Warum konnte sie ihre Hände nicht bewegen?
»Ich bin draußen, Mummy.« Susies Stimme war weit weg, aber sie
schien kräftiger zu sein. »Ich glaube, mir ist nichts passiert.«
Plötzlich war ihr Gesicht da, nah bei Cissy. »Kannst du
rausklettern?«
Cissy versuchte nachzudenken. Rausklettern. Es klang wie eine gute
Idee. Aber wie? Durch ihren Schmerz schien sie in der Luft zu
hängen, im All zu treiben.
»Ich…« Sie versuchte es noch einmal. »Alles in Ordnung. Meine
Rippen. Ich glaube, meine Rippen sind gebrochen.«
»Es ist der Sicherheitsgurt. Du hängst im Sicherheitsgurt.« Susies
Stimme war außergewöhnlich kräftig. »Ich sehe mal, ob ich ihn mit
irgendwas durchschneiden kann.«
»Nein.« Das Kopfschütteln tat weh. Vielleicht war auch ihr Genick
gebrochen. Ihre Gedanken waren verstreut, wie ein Schwärm Tauben,
nachdem ein Knallkörper losgegangen war. Ordne sie neu. Krieg sie
in den Kopf. Denk nach. »Kannst ihn nicht durchschneiden. Du mußt
ihn lösen.«
»Mum, ich kann nicht. Ich komme nicht an den Verschluß ran, du
drückst ihn zu.« Susies Haare hingen ihr ins Gesicht. »Wir müssen
dich irgendwie hochkriegen. Kannst du dich in diese Richtung
ziehen?«
Die Hände des Mädchens waren besonnen und kompetent. Sie würde eine
gute Krankenschwester abgeben. Cissy dachte ein paar Sekunden lang
über ihre Hände nach. »Mummy!« Die Stimme klang jetzt böse;
ungeduldig. »Konzentrier dich. Du kannst nicht da hängenbleiben.
Wir müssen dich hier rauskriegen. Leg deine Hand da oben hin. Da,
wo meine ist. Gut so. Jetzt halt dich fest. Genau. Nicht
loslassen.«
Sie würde auch einen guten Befehlshaber abgeben. Entschlossen.
Bestimmt. Ruhig. Wenn sie sich in ihrer endlosen Popmusik verlor,
konnte man leicht vergessen, was das Kind für ein Mensch war. Sie
war ein Schatten geworden, der im Haus herumging und nach einem
unhörbaren Rhythmus zuckte »Mummy!«
Dummes Ding. Gab Befehle. Dumme Befehle.
»Mummy! Leg deine Hand hierhin.«
Auch noch ungeduldig. Pampige kleine Kuh nannte sie ihr Vater. Joe.
Joe! Wo war Joe?
Sie mußte laut gerufen haben. Susies Gesicht war da, wieder direkt
vor ihr. Besorgt, freundlich. »Dad kommt bald, aber zuerst müssen
wir dich hier rausholen.«
Susie hatte gesehen, daß ihrer Mutter etwas Blut aus dem Mundwinkel
tropfte. Es jagte ihr fürchterliche Angst ein. Cissy sollte sich um
sie kümmern, nicht umgekehrt. Sie warf erneut einen Blick über die
Schulter, auf die dunklen Bäume. Es war nichts von ihm zu sehen,
von dem Spinner, der plötzlich mitten auf dem Weg vor ihnen
gestanden hatte und der Schuld daran war, daß sie ins Schleudern
geraten waren, aber er mußte noch da draußen sein. Er mußte gesehen
haben, wie sie umstürzten.
Marcus
Der Name trieb in ihren Kopf. Der tote Römer aus Allies Grab am
Strand.
»Mummy!« Ihr Entsetzen gab ihr Kraft, und sie wandte sich wieder
der zerbrochenen Windschutzscheibe zu, lehnte sich an die
Kühlerhaube, versuchte, ob sie die Schulter ihrer Mutter packen
konnte. »Wenn ich es sage, versuchst du, so viel von deinem Gewicht
wie möglich hier rüber zu legen, auf den Türrahmen. Ich probiere
dann, den Sicherheitsgurt aufzukriegen.« Sie atmete tief durch und
streckte den Arm durch die zerbrochene Windschutzscheibe in den
Wagen. Am Sicherheitsgurt klebte Blut; der Verschluß war
schlüpfrig, schwer zu drücken, und der Gurt spannte sich unter dem
Gewicht ihrer Mutter. Sie legte die Finger um den Verschluß und
machte sich bereit. »Jetzt. Jetzt! Komm schon, zieh dich hoch, so
weit du kannst. JETZT!« Verzweifelt drückte sie den Verschluß nach
unten, um ihn zu lösen. Nichts geschah. »Nicht nachlassen. Zieh
dich weiter rauf!« Er mußte aufgehen. Er mußte.
Ziehen. Cissy krampfte die Finger um den Fensterrahmen. Ziehen.
Gute Idee. Das Gewicht verringern. Den Druck von den Rippen nehmen.
Sie zog erneut, und der Druck war weg.
»Geschafft!« Der schrille Schrei in ihrem Ohr war ekstatisch. Dann
fiel sie. Verzweifelt klammerte sie sich wieder fest. Susie hatte
den Arm um sie gelegt und mußte ihr ganzes Gewicht halten. Sie
spürte, wie das Mädchen schwankte. Der Arm schloß sich um sie, und
der Schmerz kam mit voller Wucht zurück, aber irgendwie war sie
halb durch die Windschutzscheibe gekommen. Als sie mit den Händen
wild um sich schlug, spürte sie Gras und Dornensträucher; durch ihr
Gewicht rutschte sie über die Kühlerhaube aus dem Wagen auf den
Boden, und plötzlich lag sie im Schlamm, zusammengerollt, vom
Schmerz übermannt.
»Gut gemacht!« Susie triumphierte. »Jetzt setz dich hin. Lehn dich
hier an die Böschung.«
Das Mädchen warf wieder einen Blick auf die Bäume. Da war doch
etwas. Es bewegte sich in der Dunkelheit der Schatten. Sie stand
auf, ließ ihre Mutter zurück auf den Boden sinken und strengte ihre
Augen an, um zu sehen, was es war.
»Wer ist da?« Ihre Stimme bebte. »Greg? Paddy?« Sie hoffte
inständig, daß es einer von ihnen war. Sie konnten nicht weit vom
Farmhaus entfernt sein. Sie blickte sich um, verwirrt. Wie weit
waren sie gekommen, bevor sie umgekippt waren? Sie wußte es
nicht.
Da war es wieder. In den Bäumen bewegte sich etwas. Ihr Mund war
trocken wie Sandpapier; sie konnte nicht richtig atmen. Ihre Knie
begannen zu zittern. »Mummy.« Es war ein Reflex, dieses
verzweifelte Flüstern nach Hilfe. Sie wußte, daß ihre Mutter sie
nicht hören konnte. »Mummy, kannst du ihn sehen?«
Die Gestalt war groß; das Gesicht finster, mit einer Adlernase,
grausam. Seltsam, sie hatte immer gedacht, Geister seien
durchsichtig, nicht körperhaft, und man könne durch sie
hindurchgehen. Ohne sich dessen bewußt zu sein, sank sie neben
ihrer Mutter auf den Boden und nahm ihre Hand. »Mummy. Hilf mir. Er
kommt.«
Cissy hörte sie. Sie versuchte, ihre Finger zu bewegen, aber es
schien nicht zu gehen; ihre beruhigenden Worte verloren sich im
Blut, das ihr in die Kehle sickerte.