VII
Es war bitterkalt und noch nicht richtig hell. Gut eingepackt in einen Shetlandpullover, eine dicke Jacke, zwei Paar Socken in den Stiefeln und in die Handschuhe ihres jüngeren Bruders, stand Alison Lindsey da und starrte im Schutz der Bäume auf das Cottage. Es lag im Dunkeln. Unten waren die Vorhänge zugezogen, oben aber schienen beide Fenster, die auf der Vorderseite zum Garten hinauszeigten, keine Vorhänge zu haben. Sie runzelte die Stirn, nahm ihren Mut zusammen und lief so schnell sie konnte über das Gras. Sie rannte direkt auf den Holzschuppen zu, drückte sich hinein und tastete in der Finsternis um sich. Nach einer Sekunde stieß sie einen erzürnten Schrei aus. Ihre Werkzeuge waren verstellt worden. Verärgert trat sie gegen das Feuerholz und sprang mit einer Mischung aus Furcht und boshafter Befriedigung zurück, als einer der Stapel umzurutschen begann. Sie wich den herunterpurzelnden Scheiten aus und wartete, bis sie sich nicht mehr bewegten und der Lärm aufhörte. Der Staub legte sich, und auch vom Cottage her kam kein Laut. »Lady Muck schläft«, flüsterte sie und lächelte überlegen. Sie drehte sich wieder zur Tür und entdeckte ihren Spaten. Er war in die Ecke gelehnt.
Sie nahm ihn in die Hand und spähte in die Stille der Dämmerung. Es würde noch einige Zeit bis zum Sonnenaufgang dauern. Der Morgen war feucht und eiskalt. Über dem Meer lagen lange dunkle Schatten, die sich draußen im schwarzen Nebel verloren.
Sie lief, so leise sie konnte, über die Kieselsteine und sprang dann mit einem Satz in die Vertiefung auf der dem Meer zugekehrten Seite der Düne. Ihrer Düne.
Zufrieden stellte sie fest, daß die Flut in dieser Nacht nicht allzu hoch gewesen war. Der Seetang auf dem Strand, noch naß von der Gischt, lag einige Meter von ihrer Ausgrabung entfernt und war nicht annähernd bis zu der Stelle gekommen, an der sie grub. Die Zunge leicht zwischen den Zähnen hervorgestreckt, machte sie sich an die Arbeit, schnitt den weichen Sand in Teile und schaufelte ihn von der Düne fort. Von irgendwo in der Dunkelheit entlang der Küste hörte sie den Schrei einer Möwe.
Trotz der dicken Handschuhe froren ihr schon nach wenigen Augenblicken die Hände, und auch ihre Kopfschmerzen waren wiedergekommen. Mit einem gereizten Seufzer hielt sie inne, um sich auszuruhen, lehnte sich auf den Spaten und blies auf ihre in Wolle gehüllten Knöchel. Der Sand bröckelte dort, wo sie mit ihrer Arbeit begonnen hatte, und während sie darauf blickte, fiel das nächste Stück von selbst weg. Etwas Gebogenes, Glänzendes kam zum Vorschein. Sie warf den Spaten auf den Boden, beugte sich nieder und reinigte den Gegenstand vorsichtig vom Sand. Es war wieder ein Stück Ton. Diesmal jedoch ein viel größeres Stück. Groß genug, um die Krümmung der Schale oder der Vase erkennen zu lassen, von der es einmal ein Teil gewesen war. Als sie den feuchten Sand abwischte, konnte sie durch die Handschuhe die Verzierung spüren. Sie starrte lange auf die Tonscherbe, legte sie dann zur Seite und machte sich mit neuem Eifer an die Arbeit.
Schon Minuten später kam wieder etwas zum Vorschein. Es war dünn, gebogen und rostgrün, wie ein altes, verrottetes Metallstück. Sie vergaß die Schmerzen in den Schläfen und zog voller Aufregung daran. Es war daumendick und mehrere Zentimeter lang, mit einem rauhen Griff an einem Ende. Sie drehte es hin und her, starrte es lange an, kletterte dann aus der geschützten Vertiefung ihres Grabungsplatzes und rannte über den Kies auf das Meer zu. Der Kies war naß und roch nach Salz und Tang, und zwischen den Steinen lag die nächtliche Ernte aus Muscheln und toten Krabben. Sie konnte sehen, wie die Möwen in der Nähe danach pickten. Die Füße fast im Wasser, kauerte sie nieder, schwenkte den Gegenstand in den Ausläufern der Flut hin und her und starrte ihn dann wieder an. Er war nicht sauberer geworden, das Grün war fest mit ihm verbunden. Sie zog einen Handschuh aus und strich vorsichtig mit dem Finger darüber, spürte eine gewisse symmetrische Rauheit auf dem kalten Metall, als sei es irgendwann in grauer Vorzeit graviert worden, und das, obwohl die Verkrustungen von Zeit und Meer und Sand es jetzt für immer umhüllten.
Aufgeregt drehte sie sich zur Düne um und blieb wie angewurzelt stehen. Eine extrem starke Bö war aufgekommen. Sie hatte den Sand hochgepeitscht und ihn hochgewirbelt, so daß er einen Augenblick lang über den Strand tanzte und dann zurückfiel ins Nichts. Hinter ihr war der erste Sonnenstreifen über dem Horizont aufgetaucht. Einen Moment lang zögerte sie. Sie hatte das seltsame Gefühl, daß jemand ganz in der Nähe war und sie beobachtete. Mit einem Schulterzucken stopfte sie ihren Fund in die Jackentasche, während sie sich umblickte. Wenn jemand hier wäre, dann wäre es ein Freund. Joe Farnborough von der Farm, oder Bill Norcross, wenn er sich zu einem Morgenspaziergang entschlossen haben sollte, oder sogar Lady Muck oder jemand, der seinen Hund spazierenführte.
Ihr Spaten lag noch da, wo er in den Sand gefallen war. Sie tat einen unsicheren Schritt darauf zu. Die Haut in ihrem Nacken prickelte. Es war ein seltsames Gefühl. Sie konnte sich nicht erinnern, so ein Gefühl schon einmal gehabt zu haben, aber instinktiv wußte sie, was es war. Jemand beobachtete sie!
Die Zeilen eines Gedichts huschten ihr plötzlich durch den Kopf. Ihre Mutter hatte es ihr vor vielen Jahren einmal vorgelesen. Der kleinen, empfänglichen Alison war damals das Blut in den Adern geronnen, als sie es mit weit aufgerissenen Augen hörte, und seine Worte hatten sich ihr eingeprägt. Es war das einzige Gedicht, das sie je gelernt hatte.
Die Zelte stehn, die Sonne gleicht den Feuerpunkten und es schleicht die Nacht sich an, und der Verdacht, die Dschungeltiere sind erwacht…
Archaische Angst. Angst vor der Gefahr, die man nicht sehen kann.
Sie leckte sich nervös die Lippen. »Dumme Kuh«, sagte sie laut zu sich selbst. »Blöde Gans. Beweg dich. Jetzt. Was ist los mit dir?«
Die Sonne stand mittlerweile höher. Ein roter Fleck breitete sich langsam über dem Meer aus, unmerklich wurde es heller. Sie ballte die Fäuste und machte einen Schritt auf den Spaten zu. Ihr Mund war trocken, und sie zitterte. Vor Kälte. Natürlich vor Kälte. Zähneknirschend sprang sie zurück in die Vertiefung und packte den Spaten, hielt ihn mit beiden Händen vor sich. Der Wind hatte wieder zu blasen begonnen und hob den Schoß ihrer Jacke hoch, bauschte sie auf, peitschte ihr die Haare ins Gesicht. Der Sand wirbelte um sie herum. Mit der Handfläche rieb sie sich die Augen. Der Sand flog höher, wurde dichter. Fast wie die Gestalt eines menschlichen Wesens.
Langsam wich sie von der Düne zurück, kletterte aus der Grube und begann, sich auf das Cottage zuzubewegen. Sekunden später fing sie an zu rennen. Sie stürmte über das Gras, seitlich am Gebäude vorbei, warf den Spaten in den Schuppen und stürzte den Weg hinunter, auf die Bäume zu.
In der Düne lag vergessen das rotlackierte Tonstück, bereits von neuem mit Sand bedeckt.