XXIV
Die Priester waren in einer feierlichen Prozession zum heiligen Ort gegangen, einem Kreis ans Bäumen auf dem Hügel über dem Sumpf. Nion gehörte nicht zu den Höhergestellten œ er war jung -, aber wegen seiner königlichen Abstammung nahm er eine Sonderstellung ein, als sie, feierlich und in Roben gehüllt, auf die ihnen zugewiesenen Plätze im Kreis traten.
Nion blickte um sich. Die Gesichter seiner Lehrer, seiner Freunde, seiner Mitpriester waren gestrafft, ihre Gedanken nach innen gerichtet, ihre Körper gebadet und ganz ihrem Zweck geweiht. Er verzog das Gesicht bei dem Versuch, den eigenen Geist auf Gebet und Meditation zu richten. Die Wahl des Opfers war eine Zeremonie, an der er erst einmal teilgenommen hatte. Damals war das heilige Brot über der Flamme gebacken und gebrochen worden, wie es die jahrhundertealte Tradition vorschrieb. Das verbrannte Stück, das Stück, das den Göttern gehörte, war von einem alten Druiden gewählt worden, der achtzig Sommer zählte oder mehr œ einem Mann, der sein Leben den Göttern geweiht hatte und zu allem bereit war, was diese bestimmten. Doch selbst er hatte, als er das verbrannte Stück herauszog, das seinen Tod besiegelte, einen kurzen Moment lang sein Entsetzen nicht verbergen können, bevor er demütig den Kopf neigte.
Die Zeremonie lief nach strengen Regeln ab. Der Mann würde zunächst von seinen Mitpriestern geehrt und mit Gold gekrönt werden. In den Stunden, die ihm dann noch blieben, würde er seiner Familie Lebewohl sagen, seine Angelegenheiten in Ordnung bringen und sich zuletzt all seiner Gewänder entledigen und sich in Wasser baden, das mit Kräutern und Gewürzen geweiht war. Dann würde er den heiligen, mit einem Betäubungsmittel vermischten Wein des Todes trinken und sich bereitwillig zum Opfer niederknien: durch die Garrotte, falls sein Tod die Götter der Erde wohlgefällig stimmen sollte, durch den Strang, wenn er den Göttern des Himmels, und durch Ertrinken, falls er den Göttern der Flüsse und Seen geopfert wurde. Jetzt sah Nion, den Kopf bedeckt wie die anderen, wie der Backstein gesegnet und erhitzt wurde. Sein Mund war trocken vor Angst, obwohl die Wahl ja vorbestimmt war. Er warf einen Blick auf den ältesten der anwesenden Druiden, einen Mann, der so zerbrechlich war wie ein Schilfrohr im Wind. Sein kahles Haupt wirkte unter dem Leinenschleier runzlig wie ein altes, totes Blatt. Die Wahl würde fast sicher auf ihn fallen, das Brot so herumgereicht werden, daß seines das verbrannte Stück sein würde. Wie mochte er sich fühlen, wo er doch wußte, daß er bei Morgengrauen tot sein würde? Nion schloß die Augen und versuchte, sich auf das Gebet zu konzentrieren. Um die Mittagsstunde würde er Claudia treffen. Sein Körper, stark, kraftvoll, lüstern, bebte bei dem Gedanken. Streng tadelte er sich und lenkte seine Gedanken zurück zu der Szene, die er vor sich sah.
Das Brot kochte mittlerweile, der Duft durchdrang die Morgenluft. Seine Nasenflügel nahmen den beißenden, versengten Geruch auf, und er schluckte nervös. Seine Augen wanderten wieder automatisch zu dem alten Mann, der erbleicht war wie schlecht gewordene Buttermilch.
Er sah zu, die Arme unter dem Mantel verschränkt, wie man das Brot abkühlen ließ, in kleine Stücke brach œ einundzwanzig, sieben mal drei, eines für jeden von ihnen œ und in den Korb legte. Langsam wurde der Korb im Kreis herumgegeben. Langsam. Langsam. Eine nach der anderen griffen die Hände hinein. Die Wahl war getroffen. Die Hände kamen heraus. Eines nach dem anderen entspannten sich die Gesichter erleichtert und wurden die Stücke gegessen. Der Alte war an der Reihe. Er griff hinein, sichtbar zitternd, und zog die Hand wieder heraus. Nion sah, wie er ungläubig sein Stück hin und her drehte. Dann wandelte sich seine Miene in ein zahnloses Lächeln. Die Götter hatten also einen alten, zerbrechlichen Mann zurückgewiesen. Angesichts der Bedrohung aus Rom war solch ein Opfer nicht genug.
In Nions Magen bildete sich vor Furcht ein schmerzhafter Knoten. Er bemerkte, daß mehrere Männer ihn, unter ihren Kopfbedeckungen verstohlen hervorlugend, beobachteten.
Der geflochtene Korb kam näher. Seine Hände schwitzten. Es blieben nur fünf Stücke. Dann war er vor ihm, gehalten von der Hand des Erzdruiden, der das Brot gebacken und selbst das erste Stück genommen hatte. Nion zögerte einen Augenblick. Er hob die Augen zum Gesicht des anderen und las dort sein Schicksal, noch bevor er in den Korb gegriffen hatte.
Das Brotstück, das er nahm zerbröckelte. Es war noch warm vom Backstein, und es war schwarz verbrannt.
Die Flut stand hoch um sechs Uhr morgens, der Wind kam von Nordost, über den Ural, ließ Eis auf die Kontinente tropfen und peitschte das Meer zu wütenden Schaumkronen.
Alison träumte schlecht und warf sich unruhig im Bett hin und her. Von überall fiel kalte nasse Erde auf sie herunter, verstopfte ihre Nasenlöcher, krümelte in ihre Augen, füllte ihre Ohren, so daß sie nichts mehr hören konnte, drückte sie in das feuchte Riedgras. Verbarg sie. Verbarg die Wahrheit. Die Wahrheit, die ausgesprochen werden mußte.
Mit einem panischen Schrei setzte sie sich auf, befreite sich aus dem Federbett. Sie blickte sich im Zimmer um. Es war stockdunkel, und sie konnte hören, daß es draußen im Garten in Strömen regnete. Wenn es hell wurde, würde auf dem Fensterbrett eine Pfütze zu sehen sein. Noch benommen von ihrem Traum, stand sie auf und griff nach ihrer Kleidung. Es gab da etwas, das sie tun mußte; etwas Dringendes. Das Hämmern hinter ihren Augen war hartnäckig, wie das Schlagen der Flut gegen die Küste. Es trieb sie an, schob sie gegen ihren Willen vorwärts. Sie machte die Tür auf und blieb einen Moment lang im Flur stehen, um zu horchen. Das Haus war still. Ihre Eltern schliefen am anderen Ende in einem Zimmer, das hinaus auf den Wald zeigte. Greg neben ihr und Patrick eins weiter schliefen immer wie tot, bis man sie aufweckte. Sie zitterte heftig. Heute war ein Tag, um die Toten aufzuwecken.
Kaum bei Sinnen, zog sie ihre wasserdichte Jacke an, zwängte ihre Füße in die Stiefel, öffnete die Tür und spähte hinaus in den eisigen Morgen. Der tosende Wind kam aus Nordost und wehte ihr voll ins Gesicht, während sie unter großen Schwierigkeiten die Tür hinter sich zuzog und sich in der Dunkelheit durch den Wald kämpfte. Sie wußte nur, daß sie es bis zum Grab schaffen mußte; sie mußte dort sein, bevor die Flut es wegspülte. Sie mußte es retten.