XXXI

Das Licht war seltsam kalt. In der kühlen Dämmerung vor Sonnenaufgang war der Sumpf in einen fahlen Nebelschleier getaucht, der sich lautlos wie ein erstickendes Leichentuch über das Gras und das Schilf legte.

Nion stand am Rand des Teichs. Gebadet und in seine besten Kleider gehüllt, war er bereit. Hinter ihm standen die beiden Priester. Ihr Handwerkszeug lag vor ihnen auf einem Altar: eine Garrotte und ein Messer. Sie warteten jetzt, im Gebet, und beobachteten ihn. Sie respektierten seine Vorbereitungen. Wenn er soweit war, würde er es ihnen sagen.

Er runzelte die Stirn. Warum nur zwei Priester? Er hatte mit allen gerechnet, mit einem ganzen Kreis von Teilnehmern, und nicht mit dieser stillen, beinahe schäbigen Veranstaltung, ohne Zeugen und unbesungen. Langsam machte er sich an die Vorbereitungen. Um den Nacken trug er zwei Halsringe. Einen breiten, gewundenen Halsring aus Gold, das Symbol seines königlichen Blutes und seiner Priesterwürde, und dar unter einen aus verziertem Silber, den Claudia ihm geschenkt hatte.

Er nahm den ersten, zog das schwere Gold über seine warme Haut, spürte das Gefühl der Enge, schluckte, verscheuchte aus seinen Gedanken, was noch kommen würde, betrachtete den Halsring in seinen Händen, strich mit den Fingern behutsam über das kunstvolle Muster auf dem Metall, bewunderte es zum letzten Mal. Es war wahrlich ein würdiges Geschenk an die Götter. Er hob es hoch über seinen Kopf, erwartete fast, daß sich ein verfrühter Strahl der Sonne, die sich noch versteckt hielt, verirren und auf das glänzende Metall fallen würde. Es kam keiner. Er murmelte die Worte der Opfergabe und schleuderte den Reif dann mit all seiner Kraft in das vom Nebel bedeckte Wasser. Er ging vor ihm in die jenseitige Welt ein. Als nächstes kam der silberne Reif. Nion zog ihn sich vom Hals, berührte ihn mit den Lippen, schleuderte ihn dann dem ersten hinterher. Dann drehte er sich um und bückte sich nach seinen Waffen. Schwert, Speer, Dolch. Eine nach der anderen hob er sie hoch zum Zeichen des Opfers, hielt sie auf seinen Handflächen im Gleichgewicht und warf sie ins Wasser. Unter dem gewellten Weiß des Nebels gingen sie im kalten braunen Sumpf unter und versanken unaufhaltsam.

Nun kamen seine Kleider. Er löste seinen Umhang, faltete ihn sorgfältig zu einem möglichst kleinen Bündel, tat es langsam, peinlich genau, zögerte vielleicht die letzten wenigen Augenblicke hinaus, bevor sich der Rand der Sonne über dem Meer zeigte. Er heftete das Bündel mit seiner Umhangnadel fest und schleuderte es seinen Waffen hinterher. Dann kam der Beutel mit Geldstücken, sein Ledergürtel, seine Armbinden, seine Tunika. Schließlich war er nackt, bis auf den Streifen aus geflochtener Eschenrinde um seinen Arm, sein Geburtsrecht und sein Namenszeichen. Die Luft strich kalt über seine Haut. Er wollte auf keinen Fall, daß die Priester dachten, er zittere vor Furcht, und straffte seine Schultern, die Augen wie sie auf den östlichen Horizont gerichtet, an dem es mit jeder Sekunde heller wurde. Plötzlich bemerkte er, daß hinter ihm einer der Priester die Garrotte vom Altar aufgenommen hatte und begann, sie sich um die Hände zu wickeln.

Nion ballte die Fäuste. Die Sonne war noch immer nicht erschienen, aber dort draußen, hinter dem kalten Wasser, versteckt im Nebel, warteten die Götter.

Bis zum späten Nachmittag funktionierte das Telefon in Redall Cottage wieder. Roger fuhr Kate mit dem Land Rover durch den dichten Schneeregen und den Schlamm zurück und kontrollierte mit ihr Zimmer für Zimmer das Haus.

»Scheint alles in Ordnung zu sein«, sagte er schließlich. Er hatte darauf bestanden, den Ofen anzuzünden und einen Vorrat an Scheiten hereinzutragen. »Sind Sie wirklich ganz sicher, daß Sie hierbleiben wollen?« Auf dem Küchentisch standen ein Karton voller Konservendosen, eine Kaffeebüchse, eine Flasche Scotch, ein paar Streichholzschachteln und einige andere Dinge, die Diana aus ihrer Speisekammer abgezweigt hatte. »Nur für den Fall, daß Sie von diesem furchtbaren Wetter eingeschlossen werden, das sie vorhersagen.« Und dann hatte auch sie sie beiseite genommen und noch einmal gefragt, ob sie nicht bei ihnen wohnen wolle, aber Kate blieb hartnäckig. »Ich muß arbeiten. Wirklich.«

Roger sah sich um, anscheinend unwillig zu gehen. »Sind Sie sich wirklich ganz sicher?« fragte er noch einmal.

»Absolut sicher.« Sie grinste ihn an. »Wirklich. Ich muß endlich wieder arbeiten.«

»Gut.« Er lächelte freundlich. »Na, Sie wissen ja, wo wir sind, wenn Sie irgendwas brauchen.«

Sie stand an der Tür und sah ihm nach, wie er in den Wald fuhr. Dann ging sie zurück ins Haus.

Was die Ausgrabungsstätte betraf, so war nichts beschlossen worden. Greg wollte sie unter so viel Sand wie möglich begraben, Roger und sie waren dafür, die Archäologen in Colchester anzurufen, nur Alison war, als sie endlich aufwachte, bei dem Gedanken, daß jemand das Grab auch nur ansehen könnte, völlig hysterisch geworden. Aus Respekt vor ihren Tränen hatte Diana für ein oder zwei Tage ihr Veto gegen jegliche Aktivität eingelegt, und Kate hatte sich widerwillig fügen müssen. Schließlich war es ihr Grund und Boden, ihre Düne.

Kate sah auf die Uhr. Es war fast vier. Sie stellte den Kessel auf, hievte sich auf den Hocker und griff zum Telefonbuch. Anne war zu Hause.

»Hallo, Fremde, ich habe mich schon gefragt, wie du so zurechtkommst.« Die Stimme ihrer Schwester klang fröhlich.

»Gut. Wie läuft‘s in Edinburgh?«

»Wunderbar. Sogar noch besser, als ich gehofft hatte. Die Arbeit ist faszinierend. Außerdem liebe ich die Stadt, und C. J. liebt die Wohnung. Sie ist riesig, verglichen mit unserer alten, und hinter dem Haus gibt es einen Garten mit einer Mauer drum rum. C. J. ist im siebten Himmel. Wenigstens war er das, bis es mit dem Schnee losging.« Sie lachte. »Jetzt erzähl mir aber von der wilden Küste East Anglias.«

»Alles ein bißchen eigenartig, um ehrlich zu sein.« Kate hielt inne und sah zu, wie der Dampf aus der Kesselschnauze stieg. »Anne. Gibt es sowas wie Poltergeister?«

Einen Moment lang war am anderen Ende der Leitung alles still. »Eine interessante Frage. Warum willst du das wissen?«

»Aus verschiedenen Gründen.« Kate verzog das Gesicht. Jetzt gab es kein Zurück mehr, bis Anne ihr nicht auch noch das winzigste Detail aus der Nase gezogen hatte. Sie atmete tief durch. »Ich erzähle dir erst einmal die ganze Geschichte, dann sagst du mir deine Meinung…«

Es dauerte überraschend lange, bis alles erzählt war. Anne hörte schweigend zu, schnipste nur einmal mit den Fingern nach Carl Gustav, als er herausfordernd seine Krallen an der Rückseite eines Sessels spielen ließ. Er sprang freudig auf ihren Schoß, wo er sich für einen längeren Aufenthalt zusammenrollte.

»Nach dem, was du sagst, und nach deiner einleitenden Frage zu schließen, vermutest du, daß Alison im Mittelpunkt des Ganzen steht, habe ich recht?« fragte sie schließlich.

»Das wäre doch eine Möglichkeit, oder? Die Ängste von Jugendlichen und so weiter. Fehlgeleitete Energie.«

»Denkbar ist das schon.« Kate konnte das Lächeln in Annes Stimme hören. »Und das Krachen, das du mir beschrieben hast, könnte sich spaltendes Holz gewesen sein. Du hast das Cottage wahrscheinlich aufgeheizt wie seit einer Ewigkeit nicht mehr, und jetzt fällt es langsam auseinander. Hast du daran schon gedacht? Es könnte allerdings auch das Explodieren von psychischer Energie sein, wenn man an solche Dinge glaubt. Ich habe auf jeden Fall darüber gelesen. Aber der Rest. Die Erde. Die Maden. Igitt. Das klingt nicht nach einem Poltergeist, um ehrlich zu sein. Mehr nach einem Horrorroman.«

Kate verzog ihren Mund. »Anne, das hier ist kein Roman! Laß das. Ich brauche deine Hilfe!«

»Na ja, vielleicht hat sie ja die plötzliche Wärme aufgeweckt. Aber für mich klingt das eigentlich mehr wie ein böser Streich, den man dir da spielt, Kate, Liebes, und wenn der Bruder œ Greg heißt er, hast du gesagt? œ auch nur annähernd so zornig ist, wie du sagst, würde ich gar nicht weiter suchen. Es sieht doch alles sehr nach einem unglücklichen, frustrierten Mann aus.«

»Du glaubst also nicht, daß irgendwas davon übernatürlich sein könnte?«

»Das halte ich für unwahrscheinlich. Sogar der Geist, den du glaubst, gesehen zu haben. Du warst müde. Du könntest es dir eingebildet haben. Der Geruch ist leicht zu erklären. Sowas bleibt manchmal Monate, sogar Jahre in Häusern hängen. Und Maden, mein Gott! Was will er, daß du denkst? Daß sie aus einem zweitausend Jahre alten Grab kommen? Wie lange, glaubst du, hält sich das Fleisch an den Knochen? Wie lange, glaubst du, daß organische Stoffe überhaupt weiterbestehen? Und überhaupt, wie wären sie in dein Cottage gekommen?« Anne spielte mit Carl Gustavs Ohren. Kate konnte am anderen Ende der Leitung sein Schnurren hören. Sie fühlte sich plötzlich furchtbar allein.

»Wie gehe ich also damit um, große Schwester? Ich will hier nicht ausziehen. Es ist wunderbar hier. Ich liebe dieses Cottage, und die Arbeit läuft gut.«

»Ist irgendwas passiert, seit sie die Schlösser ausgewechselt haben?«

»Ja.«

»Und du glaubst nicht, daß die Maden sich auf etwas Totem unter den Bodenbrettern vermehren?«

»Nein.« Kate sah hinunter auf ihre Füße. Der Boden, das hatte sie schon festgestellt, war hundertprozentig aus Beton.

»Und du glaubst auch nicht, daß Alison eine Streichholzschachtel voll auf das Fensterbrett geschmuggelt haben könnte, während du nicht im Zimmer warst?«

»Nein. Das glaube ich nicht.«

»Ich glaube, ich muß länger darüber nachdenken. Das ist eine knifflige Angelegenheit.« Anne lachte. »Faszinierend, aber knifflig. Du hast doch keine Angst?«

»Ich glaube nicht.«

»Du klingst, als wärest du dir nicht sicher.«

»Na ja, wie würde es dir damit gehen? Mitten im Nirgendwo. Es wird langsam dunkel. Ich habe plötzlich eine Fliege hier drin.« Vor ein paar Minuten war sie noch nicht da, das wußte sie bestimmt, und jetzt umkreiste sie das Licht.

»Na, tröste dich damit, daß Fliegen nichts Übernatürliches an sich haben. Du findest vielleicht nicht heraus, woher sie kommen, aber es ist so sicher wie das Amen in der Kirche, daß sie ähnlich wie die Maden von irgendeinem fauligen Fleisch -«

»Was hast du gesagt?« unterbrach Kate sie. Vor Angst hatte sie einen Kloß im Hals.

»Ich sagte fauliges Fleisch.«

»‹Dein fauliger Körper und deine verdorbene Seele¤«, zitierte Kate langsam. »Das sind die Worte, die mir nicht mehr aus dem Kopf gehen.« Sie hatte plötzlich schreckliche Angst.

»Das ist Zufall. Hast du noch nie von Synchronismus gehört?« Anne hatte die Angst in der Stimme ihrer Schwester gehört und versuchte sofort, sie zu beruhigen. »Außerdem kann man kaum von Zufall sprechen, wenn man über Maden redet. Hör zu, Liebes, gleich kommt jemand zum Essen. Ich muß jetzt wirklich weitermachen, sonst kriegen meine Gäste nur Sardinen auf Toast. Können wir morgen weiterreden? Ich schlage nach, was ich über Poltergeister und Teenager als Werwölfe finde, damit du ein bißchen Munition für Alison hast, aber wenn ich du wäre, würde ich was Starkes trinken, alle Türen verriegeln, nachsehen, ob unter der Anrichte eine Streichholzschachtel voller Maden versteckt ist, und mich in ein gutes Buch vertiefen. Und wenn du dann immer noch Angst hast, möchte ich, daß du mich sofort anrufst. Jederzeit. Klar? Ich muß Schluß machen.«

Sie hatte aufgehängt, bevor ihr Kate auf Wiedersehen sagen konnte.

»Anne. Anne?« Sie schüttelte den Hörer. Anne war nicht mehr da, aber es klang so, als bestünde die Verbindung noch. Sie horchte noch einen Moment. »O nein. Nicht schon wieder.« Sie spürte, wie plötzlich Panik in ihr aufstieg, und rüttelte am Telefon, legte auf und nahm dann den Hörer wieder ab. Die Leitung selbst war nicht unterbrochen. Aber man hörte kein Freizeichen. Sie legte den Hörer wieder auf und nahm ihn erneut ab. Es geschah dasselbe.

In Edinburgh starrte Anne auf das Telefon vor sich auf dem Tisch und biß sich auf die Lippe. Es sah Kate gar nicht ähnlich, vor irgend etwas Angst zu haben; überhaupt nicht. Zum Teufel mit den Gästen. Kate war wichtiger als ein perfektes Souffle. Sie nahm den Hörer ab und wählte Kates Nummer.

Die Leitung war tot.

Kate sah sich in der Küche um. Alles kam ihr trostlos vor. Verflixt und zugenäht. Natürlich war es halb so schlimm. Morgen würde sie durch den Wald zum Farmhaus gehen und wieder einmal eine Telefonstörung melden. Wie Anne gesagt hatte: Sie sollte lieber etwas trinken, sehen, ob sie Maden fand, und sich dann wieder an die Arbeit machen.

Es war viertel vor zwölf, als sie endlich den Computer ausschaltete, sich streckte und aufstand. Ihre Augen waren müde, und ihr Gehirn fühlte sich an, als sei es gequirlt worden. Sie starrte auf den Stapel mit ausgedruckten Seiten auf dem Schreibtisch, nahm dann ihre Brille und setzte sie wieder auf, um den letzten Abschnitt noch einmal durchzulesen. Er war gut. Er war aufregend, lebendig, großartig. In Hochstimmung wanderte sie hinüber in die Küche und griff nach der neuen Flasche Whisky. Die Lindseys tranken anscheinend Johnnie Walker. Sie schenkte sich etwas ein und ging zurück ins Wohnzimmer. Verdammt, wenn die Leitung unterbrochen war, konnte auch niemand bei ihr anrufen, und sie hatte, gestand sie sich plötzlich ein, auf einen weiteren Anruf von Jon gehofft. Sie seufzte. Er fehlte ihr so.

Der scharfe Knall über ihrem Kopf ließ sie kaum aufschrecken. Sie starrte nur kurz an die Decke, beugte sich langsam vor zum Tisch und griff nach der Flasche.

»Verpiß dich, Marcus«, murmelte sie. »Du bist entweder psychische Energie oder ein Balken, der sich spaltet. Auf jeden Fall gehst du mich nichts an.«