XLIX
Patrick hielt das Gewehr fest unter seinem Arm. Er hielt sich an keine der Regeln; es war geladen und es war entsichert, aber Kate hatte nichts dazu gesagt, als sie ihm nach draußen gefolgt war und hörte, wie Diana hinter ihnen die Tür verriegelte.
»Sollen wir einen Blick auf den Wagen werfen?« Patrick wandte sich fragend zu ihr um. Sein Gesicht war abgezehrt und bleich, und sie spürte etwas, das wohl irgendwie mütterlich war. Auch wenn er noch so sehr versuchte, erwachsen zu sein, so war er in mancher Hinsicht doch noch ein kleiner Junge und erwartete von ihr, die Erwachsene zu sein. Aber eigentlich brauchte sie ebenso eine Hand, an der sie sich festhalten konnte.
Sie blieb stehen und horchte. Die Luft war rauh und kalt; sie roch nach feuchten Kiefern und Schlamm, verfing sich in ihrem Hals und fühlte sich in ihrem Gesicht feucht und klamm an.
»Warum eigentlich nicht«, sagte sie langsam. »Es dauert nur ein paar Minuten.« Sie war genauso wenig erpicht darauf wie er, den dunklen Weg hochzugehen.
Sie kämpften sich durch das hohe Gras zu dem Sandstück, das zwischen dem Garten und dem Watt lag, und blieben einen Moment lang stehen, um hinaus auf den Schlick zu blicken. »Die Flut ist weit genug draußen. Ich gehe hin und seh‘ es mir an.« Patrick gab ihr das Gewehr. »Warten Sie hier?«
Sie nickte. Das Gewehr war überraschend schwer. Sie hatte Zweifel, ob sie es zur Schulter führen und dann ruhig halten konnte, wenn sie mußte. Aber es fühlte sich beruhigend an. Sie kniff die Augen zum Schutz vor dem Wind zusammen und sah zu, wie Patrick in seinen langen Stiefeln von Grasbüschel zu Grasbüschel sprang, sich so hinaus zum Schlick kämpfte, ab und zu spritzend durch das zurückgehende Wasser stapfte und sandige, schlammige Sandbänke hochkletterte, die wie kleine Inseln aus dem Wasser ragten. Er erreichte den Wagen, und sie sah, wie er durch die Fenster spähte und vorsichtig um ihn herum ging. Er suchte in seiner Tasche, holte den Schlüssel heraus, sperrte die Beifahrertür auf und schlüpfte hinein. Mit angehaltenem Atem sah sie zu. Der Garten hinter ihr war vollkommen still. Sie stellte sich vor, daß Diana und Greg vom Küchenfenster aus zusahen, und der Gedanke tröstete sie.
Nur Sekunden später kam Patrick wieder aus dem Wagen geklettert. Sorgsam schloß er die Tür ab œ etwas, das ihr unglaublich komisch vorkam, weil es so fehl am Platze war. Dann machte er sich auf den Rückweg. Er war schmutzig und außer Atem, als er schließlich wieder neben ihr stand.
»Er war abgeschlossen. Es gibt keine Spur, daß jemand versucht hat, die Tür aufzubrechen und die Drähte unter dem Armaturenbrett kurzzuschließen. Alles war so, wie es sein sollte. Kein Schmutz, kein Wasser, keine Kratzer. In bestem Zustand.«
»Sollten wir uns darüber freuen?« fragte Kate trocken. Patrick sah sie an. »Wie ist er da hingekommen, Kate?«
Sie zuckte mit den Schultern. »Das überlegen wir uns später. Konzentrieren wir uns jetzt lieber darauf, zur Straße hinaufzukommen.« Sie gab ihm das Gewehr und drehte sich um, weg vom Meer.
Er nickte. »Es gibt eine Abkürzung. Nehmen wir die. Ich zeige sie Ihnen.« Er ging voraus, zurück über das Gras.
Im Haus wandte Greg sich vom Fenster weg. Hinter ihm hatte sein Vater sich auf das Sofa gelegt. Innerhalb von Sekunden war er eingeschlafen. Mit einem mitfühlenden Blick auf Rogers erschöpftes Gesicht humpelte Greg zurück zur Küche. »Sie sind fort. Hör mal, Ma, was machen wir jetzt mit Allie? Sie schläft bestimmt nicht mehr sehr lange.«
Er wußte, was er zu tun hatte œ sie irgendwo einsperren -, und er wußte auch, daß seine Mutter nichts davon hören wollte. »Wir können nicht die Augen davor verschließen, daß sie wieder gefährlich werden könnte. Ich weiß, daß es nicht ihre Schuld ist; es ist nicht Allie, um Gottes Willen. Aber wir müssen vorsichtig sein.«
»Was schlägst du also vor?« Dianas Stimme war heiser vor Erschöpfung.
»Hat die Tür zu ihrem Zimmer einen Schlüssel?«
»Das weißt du doch. Sie sperrt sich schließlich dauernd ein.«
»Dann ist es auch kein Unglück für sie, wenn wir sie hinaufbringen und einsperren, wenn wir sie ms Bett gebracht und gut zugedeckt haben. Für unseren eigenen Seelenfrieden.«
Zu seiner Überraschung zuckte sie nur mit den Schultern. »Ist gut.«
Er warf einen Blick auf seinen Vater und dann zurück zu ihr. »Wir beide werden es tun müssen, Ma.«
Sie nickte. Einen Augenblick lang saß sie still, wurde sichtlich matter, dann straffte sie ihre Schultern und hob den Kopf. Sie versuchte, tapfer zu lächeln. »Tut mir leid, Greg. Ich bin nicht gerade eine große Hilfe. Du hast natürlich recht.« Sie stand auf. »Ich bringe sie nach oben.«
»Das kannst du nicht allein.«
»Natürlich kann ich -« Diana brach plötzlich ab. Für einen Moment hatte keiner von beiden mehr Alison beobachtet, aber jetzt, während sie sprachen, bemerkten sie, daß das Mädchen die Augen aufgeschlagen hatte.
»Allie?« Es war Greg, der zuerst sprach. »Alles mit dir in Ordnung?«
Ihre Augen waren weit, ängstlich, verwirrt. Es waren wieder ihre eigenen. Er blickte seine Mutter an und sah, daß auch sie es gesehen hatte. Sie ging auf ihre Tochter zu, kniete sich nieder und legte die Arme um sie. »Allie, Liebes. Du hast uns einen schönen Schrecken eingejagt.«
»Bin ich hingefallen?« Alison bemühte sich, sich aufzusetzen, und lehnte sich an ihre Mutter.
»Du hattest einen Schwindelanfall, altes Haus«, erwiderte Greg. Er grinste sie beruhigend an. »Wieder besser?«
»Ich… ich glaube schon.«
»Ins Bett, Sweetheart.« Dianas Stimme war fest. »Dann bringe ich dir was zu essen rauf.«
Alison richtete sich unsicher auf und blieb dann, leicht schwankend, einen Moment lang stehen, um sich benommen umzusehen. »Er ist weg, oder?« sagte sie endlich.
»Ja, er ist weg.« Greg schüttelte warnend den Kopf, als Diana den Mund aufmachte, um zu sprechen. »Es gibt nichts, worüber du dir Sorgen machen mußt, Schwesterchen.«
Alison lächelte. »Nichts, worüber ich mir Sorgen machen muß«, wiederholte sie gehorsam. Sie sah noch immer benommen aus.
Diana nahm ihren Arm. »Komm, Liebes. Nach oben. Du erkältest dich noch hier unten.«
Greg sah zu, wie sie durch das Zimmer gingen, dann setzte er sich. Plötzlich war ihm wieder bewußt, wie schlimm sein Fuß schmerzte.
Es dauerte mehrere Minuten, bis Diana zurückkam. »Sie hat sich sofort hingelegt, und sie scheint wieder eingeschlafen zu sein.«
»Hast du die Tür abgesperrt?«
Sie nickte. »O Greg, ich hasse es, das zu tun.«
»Es tut ihr ja nicht weh. Und besser das als eine Wiederholung von œ was auch immer vorhin passiert ist.«
Sie nickte, riß sich zusammen und ging entschlossen zu ihm. »Also gut. Sehen wir uns den Fuß an.«
»Sollten wir nicht warten, bis der Arzt kommt?«
»Damit er ihn amputieren kann? Komm schon. Leg dein Bein rauf auf den Stuhl.« Sie wußten beide, daß sie sich irgendwie beschäftigen mußte.
Vorsichtig zog sie den Verband ab. Sie betrachteten den geschwollenen Fuß. »Ich werde wohl den Eiter ablassen müssen.« Sie sah ihn an.
Es gelang ihm, ein Lächeln aufzusetzen. »Traust du dir das zu?«
»Natürlich. Ich hole den Erste-Hilfe-Kasten.«
Er war im Arbeitszimmer. Sie machte das Licht an und spähte nach dem Kasten, den sie auf den Schreibtisch gestellt hatte. Er schien nicht da zu sein. Nervös begann sie, das Zimmer zu durchsuchen, dann hielt sie plötzlich inne. Es war kalt hier, außerordentlich kalt. Und sie konnte Erde riechen, feuchte Erde. Sie kämpfte gegen den plötzlichen Zwang an, aus dem Zimmer zu laufen. »Greg? Was habe ich mit dem Verbandskasten gemacht?« Ihre Stimme war unnatürlich laut, als sie über ihre Schulter rief. Die Tür hinter ihr war zu. Sie hatte sie doch bestimmt nicht zugemacht! Sie sprang hin, packte den Griff. Sie ließ sich nicht öffnen. »Greg!« Es war jetzt ein Schrei. »Greg!« Jemand war hinter ihr. Jemand war ganz nah bei ihr. Sie roch ein seltsames Parfüm; süß, widerwärtig süß, und die Kälte war jetzt sogar noch intensiver, schnitt in ihre Finger, während sie mit der Türklinke kämpfte. »Greg!« schluchzte sie auf, wirbelte herum und hob ihre Arme vors Gesicht, um abzuwehren, wer immer es war.
Das Zimmer war leer. Sie starrte um sich, fassungslos. Sie war sich so sicher gewesen; sie hatte sie gehört, sie gefühlt, sie gerochen; eine Frau. Sie wußte, daß es eine Frau gewesen war. Schluchzend vor Angst drehte sie sich um, um wieder mit der Klinke zu kämpfen. Die Tür ging problemlos auf.
»Ma? Ist alles in Ordnung?« Sie konnte Gregs Stimme hören, die nach ihr rief; nicht besorgt, nicht ängstlich, eher neugierig. Hatte er denn ihre Schreie nicht gehört? Sie schluckte schwer bei dem Versuch, sich zu fassen, und sah dann zurück ms Zimmer. Der Verbandskasten stand auf dem Regal neben der Tür, wo sie ihn sofort hätte sehen müssen, wenn sie hingeschaut hätte. Sie packte ihn, warf die Tür hinter sich zu und ging zurück ins Wohnzimmer.
»Konnte ihn nicht gleich finden.« Sie lächelte Greg breit und unnatürlich an.» Gut. Was ich jetzt brauche, ist kochendes Wasser und das Desinfektionsmittel, dann bin ich soweit.« Sie holte ein Handtuch aus der Schublade, während das Wasser warm wurde, legte es unter Gregs Fuß und packte umständlich ihre Ausrüstung auf dem Tisch aus.
Er legte eine Hand auf ihren Arm. »Bist du okay?«
Sie nickte. »Mir geht‘s gut.«
»Es kommt schon wieder alles in Ordnung.« Er lächelte sie beruhigend an. »Es gibt für all das eine Erklärung; Bill kann nichts mehr lebendig machen, aber ich weiß, daß es nichts mit Allie zu tun hatte. Sobald die Polizei hier ist, wird sich alles klären, du wirst sehen.«
Sie nickte wieder und konzentrierte sich darauf, ihre Verbände und Bandagen zu sortieren.
Sie legte die Rasierklinge mehrere Minuten lang in kochendes Wasser, anschließend wusch sie sich die Hände mit Wasser und Seife, dann mit dem Desinfektionsmittel und wartete, bis die Klinge hinreichend abgekühlt war, um sie anzufassen. »Schau nicht hin.«
Er grinste. »Wenn ich nicht hinschaue, stellt sich hinterher womöglich heraus, daß du mir den Fuß abgehackt hast.« Er knirschte mit den Zähnen, als sie die Klinge auf die geschwollene Haut legte. Sie schien fast keinen Druck auszuüben, da drang schon ein Brei aus gelbgrünem Eiter aus der Wunde. Er schluckte schwer, wandte, ohne es zu wollen, doch die Augen ab und zuckte vor Schmerz zusammen, als er den Druck ihrer Finger spürte, die den Rest des Eiters herausdrückten. Sie nahm mit einer Pinzette ein Stück Baumwolle und tupfte die Wunde immer wieder ab, dann war es endlich vorüber. Er fühlte den kühlen, sauberen Verband auf der brennenden Haut, und dann die Bandage.
»Danke.« Er sprach durch seine zusammengebissenen Zähne, wobei ihm ganz schwindlig vor Schmerz war.
Sie hatte es bemerkt. »Ruh dich ein wenig aus. Ich mache uns inzwischen eine Tasse Tee.« Sie sammelte die Tupfer ein und warf sie in den Abfalleimer, räumte alles auf und wischte den Tisch ab. Dann nahm sie den Kessel und war schon auf halbem Weg zum Spülbecken, als das Licht ausging.
»Scheiße!« Greg sah sich um. »Es muß eine Sicherung sein.«
»Beweg dich nicht.« Diana legte ihm die Hand auf die Schulter, als er aufstehen wollte. »Du wartest hier, und ich gehe und suche eine im Schrank.«
Ohne das Licht war das Zimmer fast dunkel; graues, düsteres Tageslicht fiel vom Garten her durch die Fenster, wo es wieder angefangen hatte zu schneien œ dieses Mal waren es weiche weiße Flocken, die aus den dichten Wolken herunterwehten.
Sie hörten einen lauten Knall im ersten Stock und sahen sich erschreckt an.
»Allie!« rief Greg. »Sie ist aufgewacht.« Er blickte zu seinem Vater. Roger hatte sich nicht bewegt, der Kopf lag auf dem Arm.
»Ich sehe nach.« Diana setzte den Kessel ab. Sie war entsetzt und beschämt, weil sie Angst hatte œ Angst davor, zu ihrer eigenen Tochter zu gehen.
»Sei vorsichtig. Denk dran, daß sie nicht sie selbst ist«, sagte Greg leise.
Sie starrte ihn zornig an. »Und wer, denkst du, ist sie?«
»Ich weiß nicht. Niemand. Ich sage nur, sei vorsichtig. Sie hat viel durchgemacht und sie hatte fürchterliche Alpträume, und ich glaube, daß sie im Moment nicht die Hälfte von dem weiß, was sie tut.«
Der nächste Knall folgte auf den ersten, und beide sahen nach oben. »Das kam aus Patricks Zimmer«, flüsterte Diana.
»Nimm das Nudelholz mit«, murmelte Greg, als sie sich den Pfosten näherte, die das Wohnzimmer von der Küche trennten. »Zur Sicherheit.«
»Um damit meine eigene Tochter zu schlagen?« Sie blieb stehen.
»Wenn nötig, ja. Euch beiden zuliebe.« Er hievte sich auf die Beine. »Zum Teufel mit diesem Fuß, ich komme mit.«
»Nein, Greg -«
»Doch. Gib mir einen Gehstock aus der Diele. Es geht ganz gut, solange ich ihn nicht zu stark belaste.« Er starrte hoch zur Decke.
Sie brachte ihm den Stock ohne weitere Einwände und ging dann voraus. Sie machte die Tür auf, die die dunkle Treppe verbarg. Sie sah nach oben und horchte. Greg war gleich hinter ihr. Schwer atmend versuchte er, mit dem Stock das Gleichgewicht zu halten.
Mit angehaltenem Atem begannen sie, die Treppe hochzusteigen. Oben angelangt, spähten sie vorsichtig in den Flur. Er war leer. Die Tür zu Alisons Zimmer war geschlossen wie zuvor. Der Schlüssel war in ihrer Hosentasche. Sie hielt ihn fest. Mit einem Blick über die Schulter zu Greg schlich sie verstohlen zur Tür und horchte. Am Ende des Flurs stand die Tür zu Patricks Zimmer einen Spaltbreit auf.
Sie biß sich auf die Lippen, als sie versuchte, geräuschlos vorwärts zu gehen, auf die Tür zu. Greg folgte ihr. Er spürte, wie ihm auf der Stirn der Schweiß ausbrach, als er sich zwang, leise hinter ihr herzugehen. Ohne Licht war der rückwärtige Teil des Flurs fast dunkel; die schwarzen Balken warfen keilförmige Schatten über das zarte Rosa der Decke. Die Vorhänge, obwohl offen, hielten doch alles Licht ab, das vom bewölkten Himmel hereinfallen mochte. Im Garten war alles völlig still. Sogar das Geräusch des Windes war erstorben. Diana umfaßte den Griff des Nudelholzes fester und wurde langsamer, je näher sie der Tür kam. Sie zögerte hineinzugehen.
Greg, der hinter ihr stand, spürte, wie er im Nacken eine Gänsehaut bekam. Er streckte die Hand aus und packte seine Mutter am Arm. »Laß mich«, flüsterte er.
Sie widersprach nicht. Sie drückte sich an die Wand, um ihn vorbeizulassen und beobachtete, wie er langsam mit dem Ende seines Stocks Patricks Tür aufschob. Als sie über seine Schulter spähte, konnte sie zuerst nichts sehen, dann machten ihre Augen langsam das dunkle Innere des Zimmers aus. »Himmel, schau dir die Bücher an«, sagte Greg laut. Er schob die Tür ganz gegen die Wand und tat einen Schritt in das Zimmer. Der Inhalt aller Bücherregale war in die Mitte des Fußbodens geworfen worden. Es war niemand da.
»Hat Allie das gemacht? Warum? Und wie ist sie rausgekommen?« flüsterte Diana. Das Zimmer roch leicht nach Moschus.
Greg zuckte mit den Schultern. Er stocherte mit seinem Stock unter dem Bett herum und ächzte vor Schmerz, als er sein Gewicht auf den verletzten Fuß verlagerte. Dann öffnete er die Schranktür. Nirgendwo sonst im Zimmer konnte sich jemand verstecken. Diana schob sich an ihm vorbei und zog die Vorhänge auf, um etwas mehr Licht hereinzulassen. Zum Vorschein kam nichts außer dem Durcheinander aus Büchern in der Mitte des Teppichs.
»Einige davon sind zerrissen«, sagte sie traurig, als sie dastand und das Chaos betrachtete. »Er wird ganz schön geknickt sein.«
»Wo ist sie?« Greg drehte sich um und hüpfte zurück auf den Flur. Eine nach der anderen warf er die übrigen Türen auf œ zu seinem eigenen Zimmer, zum Schlafzimmer seiner Eltern, zum Badezimmer. Alle waren leer. Blieb nur noch Alisons Zimmer. »Sie muß wieder da drin sein.« Er sah seine Mutter an. »Soll ich nachsehen?«
Sie nickte traurig. Er legte die Hand auf den Türgriff und drehte ihn. »Abgeschlossen«, sagte er mit einem Flüstern.
»Ich habe den Schlüssel.« Sie legte ihn in seine Hand. Mit einem leichten Zögern steckte er ihn ins Schloß und drehte ihn um, so leise er konnte.
Auch Alisons Zimmer war dunkel. Die Vorhänge waren zugezogen, und das Licht auf ihrem Nachttisch, das angeschaltet gewesen war, war jetzt aus, wie alle anderen. Greg stand in der Tür und spähte in die Dunkelheit; versuchte, etwas zu sehen. Wenn sie doch eine Taschenlampe hätten, die funktionierte. Seine Ohren, die angestrengt in die Stille horchten, hörten nur ein Atemgeräusch. Es war langsam und gleichmäßig und kam vom Bett. Er griff in seine Tasche und zog eine Schachtel Streichhölzer hervor, gab seiner Mutter, die unmittelbar hinter ihm stand, den Stock, zündete ein Streichholz an und hielt es hoch. Das Licht erhellte kaum das Zimmer, aber es genügte, um im Bett die gekrümmte Gestalt seiner Schwester zu sehen. Mit schmerzverzerrtem Gesicht machte er einen schlurfenden Schritt nach vorn und hielt es nahe an ihr Gesicht. Einen kurzen Moment lang sah er ihre geschlossenen Augen, die dunklen Kratzer auf ihrer Wange, ihre Faust, die unter ihrem Kinn die Decke umklammerte.
Mit angehaltenem Atem wartete er. Fast rechnete er damit, daß sie mit einem Schrei aus dem Bett springen würde, aber nichts geschah. Die Stille füllte das Zimmer. Alles, was er hören konnte, war ihr langsames, schweres Atmen, und hinter ihm das seiner Mutter, schneller, leichter, voller Angst. Er holte ein zweites Streichholz aus der Schachtel. Als er es anzündete, schien das kratzende Geräusch ohrenbetäubend laut in dem Zimmer widerzuhallen. Es flackerte auf und wurde gleichmäßig, aber Alisons Lider zuckten nicht einmal. Er beobachtete sie mehrere Sekunden lang, bevor er das Streichholz in die Höhe hielt und sich im Zimmer umblickte. Soweit er sehen konnte, war alles wie sonst auch: Ihre Kleider lagen auf einem Haufen auf dem Boden, Kassetten und Bücher wild durcheinander auf den Stühlen und dem Tisch. Das einzige, was ihm auffiel, war der Geruch. Als das schwache Licht wieder ausging, sog er den Geruch ein. Das Zimmer war voll von dem schweren, süßen Duft, den er zuvor auch im Arbeitszimmer gerochen hatte. Irritiert begann er, rückwärts aus dem Zimmer zu gehen. Diana tat es ihm nach. Lautlos zog er die Tür zu und schloß wieder ab, dann ging er mit seiner Mutter zur Treppe.
Als sie unten angekommen waren, ließ er sich neben seinem schlafenden Vater in einen der tiefen Lehnstühle fallen. Er bemerkte plötzlich, daß er zitterte. Glänzender Schweiß lief ihm eiskalt über die Haut, als der Schmerz wieder mit neuer Gewalt sein Bein hochlief. Er lehnte sich zurück, schloß die Augen und kämpfte mit einer Ohnmacht.
»Ich überprüfe die Sicherungen.« Dianas Stimme erreichte ihn trotz des Dröhnens in seinen Ohren. Sie suchte in seiner Tasche nach der Streichholzschachtel, blieb einen Moment lang stehen, um sanft die Hand auf Rogers Kopf zu legen, und war schließlich verschwunden.
Greg hatte sich in das sich drehende Kaleidoskop des Schmerzes davonrutschen lassen und sank tiefer in etwas, das sich dem Schlaf näherte, als er spürte, wie ihm ein Glas in die Hand gedrückt wurde.
»Brandy.« Die Stimme klang knapp und befehlend. »Komm schon, Greg. Es tut mir leid, aber ich brauche dich wach.«
Er öffnete gehorsam die Lippen und spürte das Feuer auf seiner Zunge. Noch eine Minute lang leistete er Widerstand, dann spürte er, wie er um Luft ringend zurück ins Bewußtsein getrieben wurde.
»Ich habe alle Sicherungen überprüft, und keine ist durchgebrannt. Trotzdem funktioniert nichts.«
Als er die Augen öffnete, sah er, daß das Zimmer mit Kerzen erleuchtet war. Er war noch immer benommen. »Hast du das Parfüm gerochen?«
»Was für ein Parfüm?« Ihre Stimme klang irritiert. »Hast du mich verstanden, Greg? Der Strom ist weg. Überall. Und ich kann nicht herausfinden, woran das liegt.« Ihre Stimme wurde etwas lauter, und ihm wurde klar, daß es Angst war, was er hörte. Verzweifelt riß er sich zusammen und kippte noch einen Mundvoll Brandy hinunter. Dieses Mal schoß Feuer durch seine Adern, und er fühlte, wie ihm schnell klar im Kopf wurde.
»Es ist der Wind und der Schnee«, sagte er, so ruhig er konnte. »Du weißt doch, daß der Strom oft ausfällt, wenn das Wetter schlecht ist. Wir haben den Kamin, den Ofen und Kerzen. Kein Grund zur Sorge.«
»Nein.« Sie klang nicht gerade überzeugt. »Was oben passiert ist, Greg, das war nicht Allie, oder doch?« Sie setzte sich neben ihm auf die Armlehne seines Sessels. Er konnte fühlen, wie sie zitterte, als sie sich an seine Schulter lehnte. Er nahm ihre Hand und drückte sie zärtlich. »Nein. Allie war das nicht.«
»Aber wer -?«
Er schüttelte den Kopf. »Der Wind? Ein Erdbeben? Vielleicht war das Gewicht der Bücher zu schwer für die Regale. Vielleicht waren es die Katzen. Wo sind sie eigentlich? Den beiden traue ich durchaus zu, daß sie Millionen von Büchern runterwerfen, wenn sie im ganzen Haus rumtoben.«
»Vielleicht, als sie jünger waren.« Sie schniefte. »Jetzt nicht mehr. Schon ewig nicht mehr. Normalerweise sind sie hier, beim Feuer.« Plötzlich füllten sich ihre Augen mit Tränen. »Ich habe sie nicht mehr gesehen, seit Allie zurückgekommen ist.«
Greg runzelte die Stirn. Jetzt, da es ihm aufgefallen war, war ihre Abwesenheit überdeutlich. Es war selbstverständlich, daß der eine oder der andere oder beide immer da waren, auf dem Sessel, in dem er jetzt saß, oder bei seinem Vater auf dem Sofa oder auf dem Schaukelstuhl neben dem Ofen. Ohne sie wirkte das Zimmer unvollständig, leer. Bedrohlich. »Ich vermute, sie sind nach draußen gelaufen, bevor das Wetter noch schlechter wird«, sagte er und versuchte, seine Mutter zu trösten. »Sie sind bestimmt nicht weit weg, nicht bei diesem Wetter. Es sind zarte kleine Kerle, auch wenn sie gern glauben, daß sie stark und zäh sind.«
»O Greg!« Trotz ihres Bemühens, ruhig zu wirken, entrang sich ihr ein Schluchzen. »Was geschieht nur mit uns? Der Wagen; die Katzen; Allie; Bill. œ Ich ertrag‘s einfach nicht mehr.«
Er legte den Arm um sie. »Nur eine Abfolge seltsamer Zufälle«, sagte er, so fest er konnte. »Und irgendein Scheißkerl da draußen, der bald hinter schwedischen Gardinen sitzen wird, wenn Paddy und Kate ein Wort mitzureden haben.«
»Werden sie durchkommen?« Es war ein Flehen.
»Natürlich werden sie durchkommen.« Er wünschte sich, so sicher zu sein, wie er klang.