XLVIII
Die Küche war blitzblank, der Braten im Ofen, und die Kartoffeln brieten langsam vor sich hin. Cissy sah sich mit einem zufriedenen Lächeln um. Sogar Joes Sonntagszeitungen waren am äußersten Ende des Küchentischs zu einem mehr oder weniger ordentlichen Stapel aufgeschichtet. Nichts würde ihr jetzt mehr ein schlechtes Gewissen bereiten, wenn sie und Sue runter zur Redall-Farm fuhren und in der Ecke beim Kamin eine Tasse von Dianas wunderbarem Kaffee aus dem Laden in Ipswich tranken.
Sie fragte sich oft, weshalb sie Dianas Haus so sehr mochte. Das Wohnzimmer der Redall-Farm war genau das, was es sein sollte, ein Zimmer zum Wohnen, wo man immer knietief durch Zeitungen, Nähzeug und Katzen watete und wo haufenweise Gregs Bilder und Patricks Bücher herumlagen. Diese Unordnung war allerdings immer durch frische Blumen verschönt; sogar im tiefsten Winter gelang es Diana, im Wald etwas zu finden. Und das Haus duftete immer nach Kaffee, selbstgebackenem Brot und getrockneten Kräutern, und auch wenn es gelegentlich ein wenig nach Katze roch, war doch alles sehr einladend.
Mit einem Seufzer blickte sich Cissy in ihrer eigenen Küche um. Auch wenn sie sich noch so sehr bemühte, Dianas Durcheinander war nichts für sie. Jedenfalls nicht, wenn es ihr eigenes Haus betraf. Sie hatte versucht, Blumen zu trocknen, aber überall waren verschrumpelte Blütenblätter auf den Boden gefallen; sie versuchte auch, Brot zu backen, aber sie ärgerte sich über den Anblick der mit Tüchern bedeckten Pfannen, in denen der Teig seitlich nach oben stieg; und das Ergebnis, auch wenn es gut roch, lag schwer wie Blei im Magen.
»Sue!« Sie stand am Fuß der Treppe und rief hinauf. »Kommst du mit runter nach Redall?«
»Komme schon.« Sie war tatsächlich zu Sue durchgedrungen. Der Walkman lag aus irgendeinem Grund (keine Batterien, vermutete sie) unbeachtet auf dem Nachttisch. Sue tauchte auf, zugänglich für menschliche Kommunikation. »Toll. Kommen sie dann mit zum Mittagessen?«
»Das hoffe ich. Hol deine Handschuhe, Schatz.« Cissy betrachtete skeptisch die Ausstattung ihrer Tochter œ schwarze Leggings, schwarzes T-Shirt, einen schwarzen Pullover, der vorn bis zu den Knien reichte und hinten gerade eben den Po bedeckte, einen schwarzen, um den Kopf gewickelten Schal und schwarzen Eyeliner. Sie seufzte. Als sie heute morgen aufgestanden war, hatte das Kind wie ein normaler Teenager ausgesehen. Jetzt sah sie aus wie ein Zombie aus den Sümpfen.
Mit einem Seufzer der Verzweiflung nahm Cissy die Schlüssel für den Range Rover vom Tisch in der Diele und ging voran nach draußen. Es war ein kalter, feuchter Morgen; der Himmel war stark bewölkt. Jeden Moment würde es wieder anfangen zu schneien. Sie kletterten in den Range Rover, und Cissy ließ den Motor an. Sie ließ ihn ein paar Augenblicke lang laufen, während sie die Scheibenwischer anschaltete und innen mit einem Tuch den Beschlag von den Scheiben wischte.
»Ich hasse dieses Wetter.« Sue beugte sich nach vorn, um das Radio anzumachen, und probierte die Sender durch.
Ihre Mutter verzog das Gesicht, als Radio Eins in die kalte Stille schmetterte. »Muß das sein?«
»Ach komm schon, Mum. Demnächst sagst du mir noch, daß du die Vögel hören willst.«
»Warum nicht?« Cissy zuckte mit den Schultern, dem Argument nicht gewachsen. Mit einem Seufzer löste sie die Handbremse und ließ das schwere Fahrzeug hinaus aus den Hof und auf die Straße rollen. Das Streufahrzeug war in der Nacht hier gewesen, und auf der Straße lag gelblicher Schneematsch. Es waren keine anderen Autos in Sicht, als sie vorsichtig die zwei Meilen fuhr, nach denen die Redall Lane abzweigte. »Ich hoffe, ihr Weg ist nicht zu schlecht«, murmelte sie, als sie einbog. »Ich verstehe nicht, wieso Roger ihn nicht asphaltieren läßt. Man könnte meinen, sie wollen, daß sie hier unten von der Welt abgeschnitten sind.«
»Sie haben nicht genug Geld für sowas«, warf Sue ein. Sie legte einen Knöchel auf ihr Knie und lehnte sich lässig gegen die Tür. Sie versuchte, es sich bequem zu machen, während das Auto über die Schlaglöcher ruckelte. »Wenn Dad was von Nachbarschaft hielte, würde er es für sie machen. Es würde ihn nicht mal was kosten œ er macht andauernd die Farmstraßen, und für die Lindseys würde das einen Riesenunterschied machen.«
Cissy holte Luft und wollte schon erwidern, daß das nicht so einfach sei œ Joe würde es nie tun, und Roger würde es nie annehmen -, als sie sich eines Besseren besann. Die Kinder sahen oft völlig klar, was getan werden mußte, und oft taten sie es dann auch. Es waren die Erwachsenen, die mit ihrem Hin und Her und ihren selbst auferlegten Regeln alles zum unlösbaren Problem werden ließen. Warum sollten sie zur Abwechslung nicht mal jemandem helfen? Joe konnte ja sagen, daß er zuviel Kies oder Asphalt oder was immer sie zum Straßenbauen verwendeten, bestellt habe; eine fromme Lüge, um Rücksicht auf Rogers Stolz zu nehmen.
»Warum lächelst du so?« Sue starrte sie trotzig an; sie wartete darauf, daß ihre Mutter ihr sagte, sie solle sich hinsetzen wie eine Dame. Cissys Lächeln wurde nur noch breiter. Na und, scheiß drauf. Das Kind konnte sich hinsetzen, wie es wollte. Schließlich war es ihr Leben.
Der Range Rover schlidderte glücklich um die erste der steilen Ecken und bewegte sich stetig auf die nächste zu. Wagemutig gab Cissy etwas mehr Gas. Sie wollte endlich dort sein. Über ihnen wölbten sich die Bäume unter einem feinen Nebel aus Schnee. Die weißen Furchen glänzten dunkel und reflektierten kein Licht vom Himmel. Cissy schaltete verärgert die Scheinwerfer an. Im nächsten Moment stieß sie einen Schrei aus: Das Licht fiel auf eine Gestalt, die vor ihnen auf dem Weg stand. Sie machte eine Vollbremsung und kämpfte mit aller Kraft mit dem Lenkrad, aber der Range Rover geriet ins Schleudern.
»O Gott!«
Verzweifelt bemühte sie sich, den Wagen unter Kontrolle zu bringen. Sie hörte, wie Sue mit einem lauten Krachen zur Seite gegen das Fenster geschleudert wurde.
»O mein Gott!« schrie sie wieder. Die Gestalt schien ihr Gesichtsfeld auszufüllen, die Hände erhoben. Dann raste der Wagen seitwärts über den Rand des Weges und krachte in den Graben. Cissys Kopf knallte gegen das Lenkrad, der Motor starb.
In die anschließende Stille drang die Stimme von Bruce Springsteen aus dem Radio und legte sich über das tickende Geräusch des Motors und das Zischen, das aus dem dampfenden Kühler kam.