LXV
Als Boadicea mit ihrer Anhängerschaft über das Land fegte und die Stadt niederbrannte, die sie Camelodunum nannte, war er einer der wenigen, denen die Flucht gelang. Er nahm seine neue Frau und sein Kind, ritt rechtzeitig aus der Stadt und wartete in Sicherheit, ab, während der Rauch des Auf Stands über das Land trieb. Ein Funke hatte die Revolte entzündet, wie er es erwartet hatte. Aber er hatte nichts damit zu tun gehabt. Claudias Fluch hatte ihn nicht getroffen. Der unbekannte, unbesungene Prinz, geopfert in einem britannischen Sumpf, war unbemerkt im Nebel der Zeit versunken. Er triumphierte. Später, wenn die Rebellion niedergeschlagen war und es Nions Stamm nicht mehr gab, weil man das stolze und rebellische Volk restlos abgeschlachtet hatte, würde er das Land erhalten.
Er bat als Belohnung für die Dienste, die er Rom geleistet hatte, um das Sumpfgebiet, wo die Furie, die er einst seine Frau genannt hatte, gestorben war. Es war ihm übertragen worden, und noch viel mehr. Er wurde reich und dick, kaufte mehr Land, besaß zwei Villen. Er beobachtete, wie sein Sohn aufwuchs; der Junge, der dichtes, kastanienbraunes Haar und glasgraue Augen hatte wie seine Mutter. Und einmal im Jahr ritt er nach Osten, wo das Land an den Sumpf grenzte, und er stand da und schaute hinunter, starrte auf die Schwertlilien und die wilde Baumwolle, die im messerscharfen Wind wehten. Andere, Fremde, die er nie gesehen hatte, brachten den Sumpfgöttern immer noch Opfer dar œ Töpfe mit Münzen, kleine Schmuckstücke, sogar Waffen. Er opferte nichts. Er warf keine Rose hinein, um der Liebe zu gedenken, die es nicht mehr gab; er schleuderte keinen Dolch für die Götter des Hasses hinein. Er stand nur da und starrte auf den sich bewegenden, im Sonnenlicht glitzernden Schauplatz, und bevor er ging, spuckte er auf ihren Fluch.
»Der Sturm wird schlimmer.« Diana wandte sich vom Fenster des Arbeitszimmers ab und ließ den Vorhang fallen. Sie blickte hinunter auf das Bett, auf dem ihr Mann lag. Sein Gesicht war grau vor Schmerz. Seine Hände krallten sich unruhig in die Decke, die sie über ihn gezogen hatte.
»Keine Sorge. Joe schafft es bestimmt.« Seine Stimme wurde merklich schwächer. »Er ist ein sturer Kerl. Ich kann mir nicht vorstellen, daß er sich von so einem lächerlichen Schneesturm unterkriegen läßt. Und den Kindern passiert schon nichts.«
Diana zwang sich zu einem Lächeln. »Ich weiß.« Sie wandte sich wieder zum Fenster, damit er ihr Gesicht nicht sehen konnte, zog den Vorhang ein wenig zurück und spähte hinaus in das Schneegestöber. Irgendwo da draußen war er. Marcus. Sie konnte ihn fühlen. Böse. Wartend. Wartend worauf? Sie zu benutzen? Sich ihrer Energie zu bedienen? Und keine Tür konnte ihn fernhalten. Sie wandte sich erneut Roger zu. Seine Augen waren geschlossen, und sie beobachtete ihn einen Moment lang. Man konnte fast sehen, wie ihn die Kräfte verließen. Ihr böser Besucher würde in ihm keine Nahrung finden. Sie zitterte. Er starb. Sie konnte sich nicht länger etwas vormachen. Er starb vor ihren Augen. Sie wollte sich in seine Arme werfen und ihn festhalten, die eigene Stärke in ihn hineinwünschen, aber das war unmöglich. Sie konnte nichts tun, als warten und zusehen. Sie schüttelte traurig den Kopf, als sie auf Zehenspitzen zur Tür schlich, das Arbeitszimmer verließ und hinaus in die kalte Diele ging. Sie spürte den Zug, der unter der Haustür hereinkam. Er war eiskalt; ein wenig Schnee war unter der Isolierung hereingeweht und lag in einem weißen Schleier über den Steinplatten. Sie schloß leise die Tür hinter sich und ging hinüber ins Wohnzimmer.
Cissy und Sue saßen auf dem Sofa beim Feuer, Seite an Seite. Ihr Blick ging automatisch zum Sessel gleich neben der Kaminecke, wo bei einem Wetter wie diesem normalerweise die beiden Kater lagen, Haufen aus schwarzem und weißem Fell. Es gab keine Spur von ihnen.
Greg stand in der Küche, auf die Lehne eines der Eichenstühle gestützt. Er schien ins Nichts zu blicken. »Wie geht es ihm?« fragte er, als sie gedankenverloren zu ihm hinüberschlenderte.
Sie zuckte mit den Achseln. »Nicht gut.«
Er sah sie eindringlich an. »Joe kommt schon durch, Ma.«
Sie versuchte zu lächeln. »Ja, sicher. Aber ich fürchte, daß es für deinen Vater zu spät sein wird, Greg. Wir müssen darauf gefaßt sein.«
Er legte den Arm um sie, zog sie eng an sich. »Irgendwann mußte es ja passieren. Wir wußten, daß es nicht mehr lange dauert«, sagte er behutsam.
Sie nickte stumm.
»Er hat immer gesagt, daß er hier von uns gehen will und nicht im Krankenhaus.«
»Ich weiß.« Es war ein Flüstern.
»Soll ich mich eine Weile zu ihm setzen?« Er küßte sie auf den Kopf. »Und du schläfst ein bißchen; du schaust aus, als würdest du gleich umfallen. Ich rufe dich, wenn er dich braucht.«
Sie nickte und ging zur Tür an der Treppe. »Sowie er mich braucht, Greg«, wiederholte sie leise.
»Versprochen.«
Die Treppe war kalt, und das obere Stockwerk des Hauses dunkel, als sie müde zu dem Schlafzimmer hochstieg, das sie so viele Jahre lang mit Roger geteilt hatte. Einen Moment lang blieb sie in der Tür stehen und sah sich um. Sie wußte nur zu gut, daß er nie wieder durch diese Tür gehen würde. In der Ecke auf dem Boden lag ein Stapel mit Geschenken, die teilweise unter einer Decke verborgen waren œ eine wehe Erinnerung daran, daß es bis Weihnachten nicht einmal mehr zwei Wochen waren.
Sie ging hinüber zu dem niedrigen Fenster und starrte hinaus. Es wurde langsam hell, aber der Schnee fiel jetzt sehr dicht, wirbelte durch die Luft und versperrte den Blick auf den Horizont. Von diesem Zimmer aus, das nach Osten lag, konnte man normalerweise über die Dünen bis zum Meer schauen, aber heute war alles grau und weiß œ eine wirbelnde, körperlose Masse. Geistesabwesend drehte sie sich um œ und blieb abrupt stehen.
Die Frau beim Bett war so deutlich zu sehen, daß sie jedes Detail ihrer Kleidung, ihres Haars, ihrer Haut, ihrer Augen erkennen konnte. Einen Moment lang standen sie da und sahen sich in die Augen, und Diana wußte zum ersten Mal, daß Claudia sie so deutlich sehen konnte, wie sie Claudia sehen konnte.
»Jesus, Maria und Joseph!« Die Worte waren aus ihrem Mund gekommen, noch bevor sie wußte, daß sie gesprochen hatte. »Was willst du?«
Sie starrten sich noch den Bruchteil eines Moments lang an, dann war Claudia verschwunden.
»Ma!« Gregs Stimme vom Fuße der Treppe klang dringlich. »Ma, komm schnell.«
Diana wirbelte zurück zur Tür, wobei sie unbewußt registrierte, daß das Zimmer nach einem süßlichen, widerlichen Parfüm roch. »Was ist los? Was ist passiert?«
»Er will dich sehen.« Greg humpelte vor ihr her in das Arbeitszimmer. Roger lag gegen die Kissen gelehnt da. Das Atmen fiel ihm schwer, und seine Wangen, die so lange farblos gewesen waren, zeigten krankhafthektische, rötliche Flecken.
»Er ist hier, Di«, sagte er langsam. »Dieser Mistkerl ist hier, in diesem Zimmer. Es gibt ihn wirklich.«
Diana blickte Greg an.
»Marcus«, sagten Gregs Lippen. »Er hat Marcus gesehen.«
Diana kniete sich seitlich neben das provisorische Bett und nahm Rogers Hand. »Er kann dir nichts tun, Liebling.«
»Verdammt richtig. Ich kann ihm nichts bieten. Es sind die Kinder, die er will. Er will ihre Energie. Aber die kriegt er nicht.« Er packte Dianas Hand so fest, daß sie vor Schmerz zusammenzuckte. »Ich werde ihn auf seinem eigenen Gebiet bekämpfen.« Der Atem rasselte in seiner Kehle.
»Roger -«
»Damit hat er nicht gerechnet, was? Ich werde ihn jagen. Bis in die Hölle, wenn nötig.« Er blickte von seiner Frau zu seinem Sohn und zurück. »Keine Sorge. Ich bin nicht verrückt. Ich sterbe, aber verrückt bin ich nicht. Ich war nie gläubig. Bis jetzt habe ich weder an Himmel noch Hölle geglaubt, und auch nicht an Gott oder Satan. Aber durch diesen Mistkerl habe ich gelernt, daß es da draußen noch etwas gibt. Wenn seine Seele da weiterleben kann, so schwarz wie sie ist, dann kann meine das auch!« Er lachte schwach, und Diana vergrub neben ihm den Kopf in der Decke und versuchte, ihr Schluchzen zu unterdrücken. »Ich werde rausfinden, was das alles soll. Und wenn er zurückkommen kann, dann kann ich das auch. Ich werde wiederkommen, um es euch zu sagen.«
»Dad -« Greg versuchte, ihn zu unterbrechen, aber Roger sprach weiter. Seine Worte wurden jetzt, da die Schmerzmittel zu wirken begannen, immer undeutlicher.
»Nein, ich bin fest entschlossen. Ich werde rausfinden, warum sie ihn verflucht hat. Sie ist hier, im Haus. Sie war seine erste Frau. Sie ist gekommen, um mir zu helfen. Sie will, daß ich ihn finde. Ich kriege ihn. Ich werde gewinnen -«
»Dad!« Greg kniete sich unbeholfen auf der anderen Seite des Bettes nieder. Er zuckte zusammen, als sein Fuß über den Boden schleifte. »Dad, sag sowas nicht.«
»Warum nicht?« Roger drehte sich um und sah ihn an. Seine Augen leuchteten unnatürlich hell, aber sie waren völlig klar. »Nach dem, was der Mistkerl mit meiner Tochter gemacht hat, denkst du wohl, daß ich ihn einfach so davonkommen lasse?«
»Nein, natürlich nicht, aber -«
»Nichts aber. Ich bin fest entschlossen. Ich verfolge ihn. Eine Jagd. Eine ruhmreiche Jagd durch das Jenseits. Wie gefällt dir der Gedanke?« Es klang wie im Delirium, als er wieder lachte, während er Dianas Hand umklammert hielt. Dann begann er zu husten.
»Roger -« Sie versuchte verzweifelt, ihn zu beruhigen. »Hol Wasser, Greg, schnell. Roger, Darling, bitte, beruhige dich. Das wird schon wieder.«
»Red keinen Mist!« Er keuchte die Worte durch den nächsten Hustenanfall. »Tu mir den Gefallen und behandle mich wie einen Erwachsenen, Di. Ich weiß es. Du weißt es. Greg weiß es.« Er hielt inne, atemlos, und trank dankbar von dem Wasser, das Greg an seine Lippen hielt. »Danke, Sohn. Seht mal. Besser so, als monatelang in irgendeinem schrecklichen Hospiz dahinzusiechen. Ich liebe Redall. Alles hier. Ich bin hier geboren. Mein Vater wurde hier geboren. Viele Familien können das heutzutage nicht mehr von sich sagen. Ich wäre froh, wenn du oder Paddy es auch zu eurem Zuhause machen würdet. Dieser Ort steckt uns in den Knochen.« Er lächelte grimmig. »Wer weiß, vielleicht stammen wir ja sogar von Marcus ab. Ich bin mit Händen und Füßen an diesen Ort gebunden œ seine Geschichte habe ich im Blut.« Er sah Diana an. »Was ich versuche zu sagen, Liebes, und was ich nicht richtig hinkriege, ist, daß ich glücklich bin, hier zu sterben. Und ich gehe nicht mehr weg. Ich werde euch immer lieben, egal, was passiert. Und ich werde dableiben. Nicht, um euch Angst einzujagen. Nur, um über euch zu wachen und um Marcus unter Kontrolle zu halten.« Er schloß die Augen, erschöpft.
Diana sah Greg an. Sie hatte die Augen voller Tränen. »Greg « Sie formte seinen Namen tonlos mit den Lippen.
Greg atmete tief durch. Keiner von ihnen sagte ein Wort, als sie, jeder eine Hand von ihm haltend, zusahen, wie Rogers Gesicht die Farbe verlor, die es mit Leben erfüllt hatte, und er wieder einschlief. Um sie herum schien das Zimmer im Kerzenlicht dunkler zu werden.
»Eine Jagd«, sagte Greg schließlich und versuchte, seine Stimme ruhig zu halten. »Die Idee gefällt mir.« Dann runzelte er die Stirn. Wenn das möglich wäre œ durch Raum und Zeit zu reisen -, wenn der Tod nichts weiter als eine Tür war, dann wäre dies nur tröstlich, wenn man erwartete, auf der anderen Seite von Engeln empfangen zu werden.
Aber Marcus war ein Dämon.