XLIII

Marcus starrte die Frau an, mit der er vermählt war. Sie hatte noch nie so schön ausgesehen. Ihre gelösten Haare wehten wild im Wind, ihre Augen waren feurig, als sie auf ihn zu lief. Er lächelte kalt, die Arme vor der Brust verschränkt. Er bemerkte, wie die Priester sich zurückzogen, und er wußte, daß der Körper langsam, mit dem Gesicht nach unten, im weichen Schlamm des Moores versank. Das blutige Rot des Sonnenaufgangs ergoß sich über das Ried, spiegelte sich in den stillen Gewässern, die sie umgaben. Sie kam auf ihn zugerannt, aber es schien eine Ewigkeit zu dauern, bis sie ihn erreichte, bis sie die Hand zu seinem Gesicht hob, die Nägel wie Klauen, sich unter seinem ausgestreckten Arm hindurchbückte und nach dem Schwert griff, das in der Scheide an seinem Gürtel steckte. Er trat einen Schritt zurück, um sich zu schützen, und sie lachte. Der Klang ihrer Stimme ließ ihm das Blut in den Adern gerinnen. Sie hob das Schwert.

»Sei verflucht, Marcus. Sei verflucht. Sei verflucht. Du kannst uns nicht trennen.«

Einen Augenblick lang schien es, als ob das Schwert sich im dünnen Stoff ihres Gewandes verfinge. Dann hatte sie es daraus befreit und stieß es sich in den Bauch. Einen Moment lang stand sie da, hoch aufgerichtet, stark, stolz, die Fäuste um den Griff geballt. Dann riß sie das Schwert nach oben, ohne sich den Schmerz ansehen zu lassen, eine wahre Tochter Roms. Langsam begannen ihre Knie nachzugeben, und das Blut spritzte über ihren Rock.

Kate drehte sich ruckartig um und versuchte angestrengt, mit den Augen die Dunkelheit zu durchdringen. Sie hatte das Gefühl, daß jemand hinter ihr stand. »Greg?« Sie blickte wild um sich, aber sie konnte ihn nicht sehen; sie war weiter gegangen, als sie gedacht hatte. Der Strand war menschenleer. Es gab keine Spur von ihm, wie er im Sand saß. Ihr Herz begann unregelmäßig zu pochen, als ob sie gelaufen wäre. Sie hielt das Stück Treibholz umklammert, das sie am Rand der Flut gefunden hatte. Es fühlte sich kalt und naß, aber stabil an. Langsam ging sie den Weg zurück, den sie gekommen war, und spähte in die Dunkelheit. Lieber Gott, wo war sie bloß? Sie spürte, wie Panik in ihr aufstieg. Allein hatte er nicht weggehen können. Also mußte er hier noch irgendwo sein. Sie strich sich den Schneeregen aus den Augen und bemerkte, daß es jetzt mehr Schnee war als noch zuvor, der, vorhin noch hart und schneidend, jetzt leicht und federartig ihre Haut liebkoste.

Da war sie wieder. Die seltsame Überzeugung, daß jemand in ihrer Nähe war. Daß jemand neben ihr war, ganz dicht neben ihr, so dicht, daß sie die Wärme seines Körpers spüren, seine Umrisse erahnen konnte. »Idiot!« In ihrer Angst hatte sie laut gesprochen. Sie wandte sich ab und ging Richtung Meer, versuchte, sich von diesem Gefühl freizumachen. Eine Welle brach sich an ihren Stiefeln und bespritzte sie mit Gischt. Sie sprang zurück, außer Reichweite der nächsten Welle, und da fühlte sie es erneut œ da stand ein Mann neben ihr. Sie blieb stehen, stand ganz still und sah sich angestrengt um. Es war niemand da. Es war eine Täuschung, hervorgerufen durch Wind und Wetter.

Zähneknirschend ging sie weiter. »Greg!« Sie klemmte sich das Stück Holz unter den Arm und legte beide Hände an den Mund. »Greg! Wo bist du?« Erschöpft trottete sie weiter und spähte wieder in die Dunkelheit. Da begriff sie, daß sie wieder in Richtung Meer ging. Ohne daß sie es bemerkt hatte, war sie zwischen zwei Wellen über die Flutlinie hinaus geraten. Das Tosen der See und des Windes hatten ihr die Orientierung geraubt, und jetzt jagte eine Welle auf sie zu, hoch wie eine Flutwelle. Kate erstarrte. Tsunami. Ohne daß sie es gesucht hätte, blitzte das Wort in ihrem Kopf auf. Verzweifelt drehte sie sich um und versuchte zu laufen, doch sie konnte nicht. Sie kam nicht von der Stelle. Es war, als hielte sie jemand fest, als zwänge sie jemand nach vorn, auf das heranbrausende Wasser zu. Fast konnte sie spüren, wie jemand ihre Arme hielt und sie vorantrieb.

»Greg!« Sie hörte, wie ihre Stimme sich zu einem Schrei steigerte, als sich die Wassermassen über ihrem Kopf zu türmen schienen. »Greg!«

Das Wasser schlug krachend über ihr zusammen und warf sie zu Boden. Das letzte, was sie hörte, bevor das Tosen alles übertönte, war das Lachen eines Mannes.

Als sie wieder zu sich kam, lag Greg über sie gebeugt. »Gott sei Dank, dir ist nichts passiert. Verdammt, Kate, ich weiß wirklich nicht, was hier vor sich geht.« Gregs Körper bot ihr Schutz. Er hatte einen Arm um sie gelegt, fast so, als ob sie miteinander geschlafen hätten. Er mußte sich über die nassen Kiesel zu ihr geschleppt haben, sein armer nutzloser Fuß bei jeder Bewegung eine einzige Qual. »Ich habe die Welle gesehen. Ich habe gesehen, wie er dich geschoben hat. Ich dachte, du seist tot.« Er umklammerte ihre Hand, hielt sie gegen seine Brust.

Verzweifelt versuchte sie, einen klaren Gedanken zu fassen. »Wer hat mich geschoben?«

»Marcus. Es war Marcus, Kate. Ich habe seine Toga gesehen, seinen Mantel, und ich habe sein Schwert gesehen. Er war neben dir, dann hat er dich geschoben, und ich habe gesehen, wie sich diese verfluchte Welle auftürmte…« Er lehnte sich nach vorn und legte seinen Kopf auf ihre Brust. Es war ein seltsam tröstliches Gefühl vollkommen frei von Erotik. Sie hob die Hand und strich ihm durchs Haar.

»Marcus existiert nicht, Greg. Er ist nicht real. Er ist eine Statue. Ein Witz. Ein eingebildeter Geist.«

»Es war nichts Eingebildetes an ihm.« Er murmelte in ihre Jacke. »Er war real. Ich habe gesehen, wie er dich gestoßen hat. Ich habe gesehen, wie du nach vorn geschossen bist, auf diese Welle zu. Er war real, er hat versucht, von meinem Verstand Besitz zu ergreifen. Er hat das schon früher versucht, und jedes Mal habe ich ihn weggeschoben. Mir war nicht bewußt, was passierte; ich verstand es nicht. Aber jetzt, aus irgendeinem Grund, will er, daß wir beide sterben.«

Sie legte sich einen Moment lang zurück, starrte hoch zum Himmel, die Augen zum Schutz vor dem leise fallenden Schnee zusammengekniffen. Es schneite jetzt stärker. Weiter den Strand hoch, außer Reichweite des Wassers, blieb der Schnee liegen, bedeckte die Dünen, trieb im Wind. »Warum? Warum will er, daß wir sterben?«

Greg schüttelte den Kopf. »Ich weiß es nicht. Es hat was mit dem verdammten Grab zu tun. Wir haben seine Ruhe gestört.«

»Es ist nicht sein Grab. Er ist in Colchester begraben.« Sie wandte sich ihm zu. Dabei löste sich sein Kopf von ihrer Brust, so daß er mit dem Gesicht nach unten neben ihr zu liegen kam. Behutsam strich sie mit ihrer Hand über seinen Rücken. »Kannst du dich umdrehen? Warte, ich helfe dir. Wir müssen versuchen, irgendeinen Schutz vor dem Wetter zu finden.« Wo war das Stück Holz? Sie blickte um sich, aber in der Dunkelheit war nichts mehr davon zu sehen. Das Meer mußte es ihr entrissen haben, bevor es sie zurück auf den Strand geworfen hatte. Stöhnend richtete sie sich auf. Ihr ganzer Körper schien ein einziger blauer Fleck zu sein. Sie war durchnäßt bis auf die Haut und konnte bereits spüren, wie ihr immer kälter wurde. Wenn nicht schnell etwas passierte, würden sie beide an Unterkühlung sterben.

Greg hatte sich mit einem leisen Seufzer zurück auf den Sand fallen lassen und die Augen geschlossen. Einen Moment lang überkam sie Panik. Er war tot. Er war gerade gestorben, gleich neben ihr, zwischen zwei Augenblicken, wie Bill. »Greg!« Ihre Stimme steigerte sich zu einem lauten Schrei.

Er schlug die Augen auf und lächelte. »Hast du einen Plan?«

Ihre Erleichterung war so überwältigend daß sie ihn fast geküßt hätte. »Wir müssen hier weg. Auch wenn du noch so große Schmerzen hast. Nur so können wir am Leben bleiben. Zum Teufel mit Marcus. Wenn er wieder auftaucht, beten wir oder sowas. Vertreibt das nicht die Geister? Wir machen das Kreuzzeichen. Das Zeichen gegen den bösen Blick. Das machen sie immer in historischen Romanen, und da funktioniert es doch auch.«

Gregs Lächeln nahm zu. »Kennst du das Zeichen gegen den bösen Blick?« Er schien zufrieden, so dazuliegen. Wie sie selbst einen Augenblick zuvor konnte er spüren, wie ihn der stille, alles verschlingende Friede des Schnees umhüllte.

»Mir fällt sicher was ein. Komm schon, Greg. Beweg dich. Du mußt dich bewegen. Versuch, dich auf den Bauch zu rollen. Wenn du kriechst, brauchst du den Fuß nicht zu belasten. Komm schon. Du darfst nicht aufgeben.«

Mit einem Stöhnen gehorchte er ihr und schwang sich zur Seite, bis er auf dem Bauch lag, das Gesicht in den kalten, nassen Sand gedrückt. Ein stechender Schmerz überkam ihn, und er spürte, wie sich die Hitze seines eigenen Schweißes wie ein Mantel über seinen unterkühlten Körper breitete. Ächzend grub er seine Ellbogen in den Sand und schleppte sich einen halben Meter vorwärts. Dann fiel er wieder hin und stöhnte laut. »Das dauert so verflucht lang.«

»Vielleicht dauert es die ganze Nacht, aber wir schaffen es«, sagte sie voller Grimm. »Wenn es so nicht geht, mußt du aufstehen und dich auf mich stützen.«

»Klingt verlockend, aber ich glaube, wenn ich versuche aufzustehen, werde ich wieder ohnmächtig.« Er ballte die Faust und kroch mit übermenschlicher Anstrengung wieder ein Stück voran. Dann fiel er in sich zusammen. »Es hat keinen Sinn. Ich schaffe es nicht. Du mußt den Land Rover holen. Das Cottage kann nicht weit sein.« Er hob mühevoll den Kopf und blinzelte in den wirbelnden Schnee, als könne er den Blick darauf erzwingen.

»Ich kann dich nicht allein lassen, Greg.« Sie kniete vor ihm.

»Du mußt, sonst sterben wir beide. Ich komme schon klar. Ich bewege mich langsam vorwärts, wie gehabt, parallel zum Meer. Versuch nicht, runter auf den weichen Sand zu fahren. Bleib auf dem festeren Untergrund, weg von den Dünen. Versuch einfach, so nah wie möglich heranzukommen. Realistisch gesehen überleben wir nur, wenn wir‘s in den Land Rover schaffen. Ich hab genug, und du bist durch und durch naß. Sogar wenn er steckenbleibt, haben wir da drin eine Chance, und außerdem finden sie uns leichter.« Er kämpfte sich hoch auf die Ellbogen. »Also los, Kate. Hier, nimm die Schlüssel. Sie sind in meiner Tasche.« Er suchte mit schmerzverzerrtem Gesicht in seiner Jacke herum und zog sie mit tauben Fingern heraus. Als er sie auf ihre Handfläche fallen ließ, zwang er sich zu einem Lächeln.

Ihre Hand schloß sich um sie. Sie sah ihn voller Verzweiflung an. Er hatte recht. So würde er es nie schaffen.

Sie richtete sich auf und machte sich daran, die Jacke abzustreifen.

»Nein, mach keinen Unsinn.« Er schüttelte zornig den Kopf. »Du brauchst sie genauso sehr wie ich. Mir bricht bei der geringsten Bewegung der Schweiß aus. Mach dir um mich keine Sorgen. Behalt sie an und komm lieber so schnell du kannst wieder zurück.«

Sie nickte grimmig. Sie zögerte noch einen Moment, dann drehte sie sich um und lief mit unsicheren Schritten zurück den Strand hinunter. Sie hatte den Wind jetzt im Rücken, und das war um vieles leichter, ohne den Schnee und den Regen in den Augen.

Ihre Erschöpfung war mittlerweile so groß, daß sie Schmerz und Kälte kaum noch empfand. Sie kämpfte sich weiter und immer weiter, manchmal wurde sie langsamer und ging ein Stück, dann lief sie wieder, und nur ganz leise war sie sich bewußt, daß ein Teil von ihr über ihre Schulter horchte, ob ein Verfolger zu hören war. Aber wer sollte sie verfolgen? Marcus?

In großen Zügen sog sie ihre Lungen voll Luft und stapfte weiter, von der Angst vorwärtsgetrieben. Sie mußte es zurück zum Cottage schaffen. Sie mußte den Land Rover finden. Sie konnte sich unmöglich verlaufen, mit der Meer zu ihrer Linken, dessen Wellen sich an der Küste brachen, unzählige Male zurückwichen, immer wieder am Sand zerrten wie ein Tier, das seine Beute nur unwillig zurücklassen wollte. Und doch mußte sie feststellen, daß sie langsam in Panik geriet, als sie den Strand hinaufblickte. Wo war das Cottage? Sie hätte doch längst die erleuchteten Fenster sehen müssen? Sie hatte das Licht angelassen. Das wußte sie genau. Sie hatte sie angelassen, weil sie den Gedanken nicht ertragen konnte, den armen Bill im Dunkeln liegen zu lassen. Ihre Augen füllten sich mit Tränen, und sie wischte sich mit dem nassen, eisigen Ärmel ihrer Jacke darüber. Dann blieb sie stehen.

Sie beugte sich vornüber und sog die Luft in großen, keuchenden Zügen ein. Weil sie es nicht wagte, sich umzusehen, stierte sie weiter angestrengt in die Dunkelheit vor sich. Dann, plötzlich, sah sie es. Die aufragende Silhouette der Dünen und die eckigen schwarzen Umrisse eines Dachs. In den Fenstern des ersten Stocks war keine Spur von Licht.

Sie schluckte. Mit einer Willensanstrengung verlangsamte sie ihren Herzschlag, als sie dem Meer den Rücken zukehrte und den Weg zwischen den Dünen suchte. Der Garten des Cottage war schneebedeckt; unterhalb der Mauer war er vom Wind aufgewirbelt und zu flachen Haufen getürmt worden, die schon fast zehn Zentimeter hoch waren. Ohne sich Zeit zum Nachdenken zu lassen, ging sie an der Wand lang, auf die Haustür zu, und lugte um die Ecke. Der Land Rover stand noch da, wo sie ihn abgestellt hatten. Sie schloß die Augen und ließ sich an die Wand sinken, schwach vor Erleichterung. Erst jetzt wurde ihr bewußt, daß es sie nicht überrascht hätte, wenn er verschwunden gewesen wäre. Sie trat aus dem Schutz der Mauer und ging auf ihn zu, blieb dann unvermittelt stehen. Die Haustür des Cottage stand weit offen.

»Bill.« Ihre Lippen formten lautlos seinen Namen. Plötzlich stülpte sich ihr fast der Magen um, und ihre Beine schienen keine koordinierten Bewegungen mehr ausführen zu können, aber irgendwie zwang sie sich, auf die Tür zuzugehen. Aus der Diele fiel Licht, und sie konnte sehen, wie weiß und rein der Schnee war. Keine Spur von irgendwelchen Fußabdrücken.

Sie schlich zur Tür und spähte hinein. Die Wohnzimmertür stand auf, und sie sah, wie die Vorhänge gegen das Fenster wehten. Im Cottage stank es nach Erbrochenem. »Allie?« Ihre Stimme war ein Krächzen. »Allie?« versuchte sie es noch einmal. »Bist du da?«

Die Willensanstrengung, die nötig war, um sich zum Weitergehen und zu einem zögernden Blick in das Zimmer zu zwingen, war enorm, aber irgendwie gelang es ihr. Es war so, wie sie es verlassen hatte. Bill lag noch immer auf dem Sofa; nichts war angerührt worden. Vorsichtig trat sie ein. Der Ofen hatte sich abgekühlt. Es gab jetzt von dort kein Leuchten, das sie willkommen geheißen hätte. Das Zimmer war ausgesprochen kalt. Sie tat noch einen Schritt vorwärts und blieb dann stehen, überwältigt von Ekel und Entsetzen. Die Decke, die sie Bill über das Gesicht gezogen hatte, war zurückgeschlagen worden. Sein Gesicht, blau und aufgedunsen, war ihr zugewandt, die halbgeöffneten Augen waren in einem blinden Starren direkt auf sie gerichtet. Vor ihm auf dem Boden befand sich eine Lache von Erbrochenem.

Sie stürmte aus dem Haus und rannte zum Land Rover, wo sie sich über die Kühlerhaube fallen ließ und den Kopf in den Armen vergrub. Eine Weile lang rührte sie sich nicht, kämpfte auf zitternden Beinen gegen die Übelkeit, dann gelang es ihr endlich, in der Tasche nach den Schlüsseln zu tasten. Sie fand sie und stolperte zur Fahrertür, wo sie verzweifelt versuchte, einen der Schlüssel in das Schloß zu stecken. Erst nach einer Weile bemerkte sie, daß die Tür nicht verschlossen war. Sie machte sie mühsam auf, zog sich auf den Sitz hinauf und knallte die Tür zu. Dann brach sie in Tränen aus.

Ihre Brille. Sie hatte ihre Brille verloren. Wild schniefend suchte sie mit zitternden Händen in ihrer Tasche herum, bis sie sie endlich fand; sie war in einer der Innentaschen. Sie rieb sich mit dem feuchten Ärmel die Augen und setzte sie auf. Dann beugte sie sich nach vorn und steckte den Zündschlüssel ins Schloß. Sie tastete an den ungewohnten Gängen herum und riß den Schaltknüppel vor und zurück, ehe es ihr gelang, den ersten Gang zu finden. Schließlich wendete sie das schwere Fahrzeug und fuhr ruckweise auf die Dünen zu.

»Komm schon. Komm schon. Bleib jetzt bitte nicht stecken, du Scheißding, bleib bitte nicht stecken«, bettelte sie mit heiserer Stimme, als sie verzweifelt nach vorn durch die beschlagene Windschutzscheibe schielte.

Der Land Rover ruckelte über das Grasstück und hinunter auf den Sand, die Reifen rutschten und schlidderten, aber irgendwie fanden sie doch Halt in der nachgebenden, nassen Oberfläche des Strandes. Im Schneckentempo schlängelte sie sich damit zwischen den Dünen hindurch, vor sich im Scheinwerferlicht nur eine wirbelnde Mauer aus Sand und Schnee und Regen. Als sie endlich das Meer erkennen konnte, sah es aus wie eine Barriere aus wütendem Weiß, das vor ihr aufragte und sich gegen das Land schleuderte. Sie warf das Lenkrad herum, fuhr jetzt nach Norden. Sie fuhr in Schrittgeschwindigkeit, blieb aber immer in Bewegung. Jeder ihrer Muskeln war angespannt, all ihre Willenskraft darauf gerichtet, daß die Räder die Bodenhaftung nicht verloren. Wo war er? Bitte, lieber Gott, mach, daß ich ihn finde. Voller Verzweiflung suchte sie den Strand nach Gregs zusammengekrümmter Gestalt ab. Sie hatte hoffentlich nicht zu lange gebraucht? Sie verfluchte die Zeit, die sie nutzlos vergeudet hatte, und steuerte das Fahrzeug weiter weg vom Meer, als es mit einem fürchterlichen Ruck in eine mit Wasser gefüllte, tangbedeckte Furche fuhr und stehenblieb. »O nein!« Verzweifelt jonglierte sie mit Kupplung und Gaspedal und bemühte sich, nicht noch tiefer hineinzufahren. »Bitte. Bitte, komm schon.« Sie riß den Schaltknüppel gewaltsam vor und zurück, als der Wagen nach vorn schaukelte und dann mit einem Ruck wieder stehenblieb. Die Reifen drehten durch. »Verdammt!« Voller Wut schlug sie auf das Lenkrad ein. »Komm schon. Komm schon!« Im kalten, mitleidlosen Strahl der Scheinwerfer blieb der Strand unerbittlich. Weit und breit gab es kein Leben. Im zweifachen Lichtstrahl wirbelte Schnee herum, der Sand glänzte vor Kälte, und dahinter, sogar über das Motorengeräusch hinweg, konnte sie das wütende Tosen des Meeres hören. Voll konzentriert versuchte sie eine neue Gangkombination, und wirklich, wie durch ein Wunder erwachte das alte Fahrzeug zu neuem Leben und zog sich aus der Senke, befreite sich mit einem Schütteln wie ein großes Nilpferd, das sich im Schlamm gesuhlt hatte. »Paß jetzt auf.« Kate sprach jetzt laut zu sich selbst. »Paß jetzt bloß auf, du blöde Kuh. Schau, wo du hinfährst. Das nächste Mal kommst du nicht mehr raus.« Sie umklammerte das Lenkrad mit aller Kraft, beugte sich wieder vor und spähte in die Schatten am Rande des Scheinwerferlichts.

Mitternacht: Geisterstunde an diesem menschenleeren, gottverlassenen, einsamen Ort.

Wo in Gottes Namen war er?