LVII

Er ritt schnell, beugte sich vor zum Nacken seines Pferdes. Die Brosche, die Eingeborenenbrosche, mit der sie ihre Toga festgesteckt hatte, hielt jetzt, da er gegen den Windritt, seinen Mantel. Der Prinz der Trinovanter hatte den Preis bezahlt und war unterwegs zu seinen Göttern, an seiner Seite die Frau, die der Hölle entstiegen war, mit ihren Flüchen, ihrem Haß. Sollte sie ihn nur verfluchen. Wer würde je wissen, was heute hier geschehen war? Es gab keine Zeugen, keine Überlebenden. Ihre Schwester war ein einfaches, fügsames Mädchen, sie würde ihm glauben, wenn er ihr erzählte, daß Claudia mit ihrem Liebhaber zu dessen Brüdern in den Westen geflohen war. Sie würde bestürzt sein, aber sie würde ihm glauben. Und sie würde die Notwendigkeit einer Scheidung einsehen.

Er lächelte, während er dahinritt, und er hob die Hand, um sein Pferd noch schneller vorwärts zu peitschen, als es den Anstieg erklomm und mit den Hufen Wolken aus Staub emporwirbelte. Er hatte bereits beschlossen, wieder zu heiraten. Ihre Schwester sah ihr sehr ähnlich. Außerdem war sie viel jünger und ungleich gehorsamer. Sie würde seinen Haushalt führen und seinen Sohn großziehen; ihm mehr Söhne schenken, wenn sie ihre Pflichten gut erfüllte. Und er würde dafür sorgen, daß der Stamm des Prinzen nie wieder nach Colonia Claudia Victricensis kommen würde. Der Stamm war eine Brutstätte für Aufwiegler; sie hatten sich mit den Icenern gegen Rom verschworen. Ein brennender Strohhalm konnte den Haß gegen ihre Oberherren entzünden, aber es würde nicht sein Strohhalm sein; aufsein Betreiben würde es keinen Auf stand geben. Und auch sie würde nicht dazu beitragen. Claudia. Die Frau, die er wie eine Göttin behandelt hatte. Niemand würde je erfahren, was sich heute hier zugetragen hatte. Sie würde es keinem mehr erzählen können; sie hatte ihren Verrat und ihre Wut mit in den schlammigen, schmählichen Tod genommen.

»Es sind zehn Menschen in diesem Haus.« Roger stand mit dem Rücken zum Kamin und blickte auf die anderen hinunter, die um ihn saßen. Allie hatte noch immer nicht gesprochen. Sie schlief in der Ecke auf einem Berg von Polstern und Kissen. Sue saß neben ihr, hielt ihre Hand, und ihre Augen schlössen sich, als sie in der Wärme des Zimmers langsam einnickte. »Ich kann einfach nicht glauben, daß wir das, was uns heute nacht hier bedroht, nicht bezwingen können. Anne. Sie sind, wie ich höre, eine Expertin.« Er verbeugte sich in ihre Richtung. »Und wir scheinen uns darin einig zu sein, daß unser Feind kein Mensch ist. Darf ich Sie bitten, uns zu sagen, was zum Teufel wir tun sollen!« Er ging zu seinem Sessel und ließ sich mit einem Stöhnen hineinsinken.

Anne fühlte sich tausendmal besser als zuvor, als sie noch allein durch den Wald gegangen war. Aber jetzt, nachdem man ihr den ganzen Schrecken der Lage erläutert hatte, konnte nicht einmal eine Schüssel heiße Suppe das Frösteln vertreiben, das ihren ganzen Körper durchzog. Sie schüttelte den Kopf. »Ich bin Psychologin, kein Medium. Ich weiß sehr wenig über Gespenster. Soweit ich weiß, habe ich noch nie eines gesehen.« Wer aber war dann der geheimnisvolle Reiter gewesen, der auf dem Weg an ihr vorbeigedonnert war? Niemand im Haus wußte etwas über ihn.

»Du mußt Allie helfen, Anne«, bat Kate sie von ihrem Sitz auf dem Boden aus. Sie hatte sich an die Seite von Gregs Stuhl gelehnt und starrte in die Glut. Seine Hand lag leicht auf ihrer Schulter.

»Ich glaube, sie ist besessen«, sagte Greg ruhig. »Ihre Kraft, ihre Stimme, ihre Handlungen. Nichts davon gehört zu Alison.«

»Greg. Nicht!« Dianas Stimme war voller Qualen. Sie blickte hinüber zu den beiden Mädchen. Sues Kopf war nach vorn gefallen; sie hielt Alisons Hand nicht länger fest, und ihre Finger hingen nach unten. Sie döste. Alison bewegte unruhig den Kopf hin und her und lag dann wieder still. Ihre Augen waren nicht richtig geschlossen. Unter den halboffenen Lidern war das Weiße als bleicher Schlitz zu sehen.

Anne biß sich auf die Lippe. Sie sahen sie alle an, und sie wußte nicht, was sie sagen sollte. »War sie in letzter Zeit beim Arzt?« fragte sie endlich. »Es gibt eine ganze Menge Beschwerden, auf die einiges von dem, was mit ihr passiert ist, gut passen würde. Hat sie zum Beispiel in den letzten paar Monaten eine Kopfverletzung gehabt? Schon ein sanfter Schlag könnte genügen.« Sie sah von Diana zu Roger und dann wieder zurück. Diana schüttelte den Kopf. »Und soweit Sie wissen, hat es auch zu keiner Zeit einen organischen Schaden gegeben? Zysten, Gewebsveränderungen, Tumore oder ähnliches? Hat sie über Kopfschmerzen geklagt?«

»Ja, das hat sie.« Patrick und Greg sprachen gleichzeitig.

»Aber Sie sind da auf dem falschen Dampfer«, fuhr Greg fort. »Ganz und gar.«

»Nicht unbedingt.« Anne sah ihn ernst an. »Es könnte medizinische Gründe dafür geben, daß sie unter diesen seltsamen Verwirrtheitszuständen leidet, und wir müssen sie ausschließen, wenn wir können.« Sie sah wieder Diana an. »Gibt es, soweit Sie wissen, in der Familie irgendwelche Fälle von Schizophrenie oder genetisch bedingte Störungen?«

Diana schüttelte den Kopf.

»Und es kann auch nicht sein, daß sie Drogen nimmt?«

»Völlig unmöglich. Ich war Krankenschwester, Anne. Glauben Sie, ich habe an all das nicht schon selbst gedacht? Außerdem ist Allie nicht die einzige, die seltsame Erlebnisse hatte.«

Anne hielt inne. Sie hatte sich auf ziemlich sicherem Gelände gefühlt, als sie medizinische Fakten heranzog. »Okay«, fuhr sie behutsam fort. »Untersuchen wir also noch andere Möglichkeiten und finden wir heraus, worüber wir genau reden. Stimmt es, daß innerhalb dieses Hauses nichts Konkretes passiert ist?« Sie sah Gregs Hand auf Kates Schulter ruhen.

»Außer daß Allie so eigenartig geworden ist; aber das ist wahrscheinlich, wie Kate gesagt hat, am Strand passiert.«

»Und meine Bücher lagen alle auf dem Boden«, warf Patrick ein.

»Und ich habe ihr Parfüm gerochen. Es war in Ihrem Arbeitszimmer, Roger.« Kate umklammerte fester ihre Knie.

Roger zog eine Augenbraue hoch. »Was nimmt sie? Chanel?«

»Etwas mit Blumen œ Jasmin vielleicht œ und Moschus. Und außerdem ist immer der Geruch von nasser Erde dabei.«

Anne sah sie aufmerksam an. »Wie oft hast du das gerochen?«

»Oft. Im Cottage auch.«

»Und geht es immer irgendeiner Art von Phänomen voraus?«

Kate zuckte mit den Schultern. »Nicht immer. Manchmal ist es nur das.«

»Und er. Marcus. Hat er auch einen Geruch?«

Kate blickte zu Greg auf. Er schüttelte den Kopf. »Mir ist nichts aufgefallen. Wenn er in der Nähe ist, hat man zu sehr die Hosen voll, als daß einem noch groß was auffallen würde.«

»Ist es eine Massenhysterie?« fragte Diana langsam. »Stecken wir uns alle gegenseitig an?« Sie zitterte trotz der Wärme des Feuers.

Anne zuckte mit den Schultern. »Schon möglich. Wie viele von Ihnen haben tatsächlich etwas gesehen?« Sie sah Roger an, der fast bedauernd den Kopf schüttelte. »Diana?«

»Nein. Es ist alles Hörensagen. œ Natürlich bis auf das, was mit Allie passiert ist.«

»Kate und ich haben sowohl Marcus als auch Claudia gesehen«, sagte Greg langsam. Er streichelte zärtlich Kates Nacken. »Cissy und Sue haben ihn deutlich gesehen. Allie hat sie offensichtlich beide gesehen. Paddy-?«

»Ich habe ihn gespürt«, sagte Patrick langsam. »Und wir haben ihn da draußen gesehen. Ich habe auf ihn geschossen. Und er hat auf meinem Computer eine Nachricht geschrieben.«

»War er es, oder hast du sie geschrieben, ohne es zu bemerken?« fragte Anne.

»Ich weiß nicht. Ich erinnere mich nicht, es getan zu haben. Aber wie sollte ein Römer wissen, wie man mit einem Computer umgeht?«

Anne lächelte. »Er wüßte es nicht.«

»Ich habe auch etwas Seltsames auf meinem Computer geschrieben«, fügte Kate hinzu. »Einen Fluch. ‹Mögen die Götter dich bis in alle Ewigkeit verfluchen, Marcus Severus Secundus, für das, was du heute hier getan hast…¤«

Sie sagte die Worte mit ruhiger Stimme, aber sie blieben unangenehm lange im Zimmer hängen. Kate saß still, den Blick auf das Feuer gerichtet. »Ich frage mich, was er mit ihr gemacht hat.«

»Es muß etwas ziemlich Furchtbares gewesen sein«, sagte Greg leise.

»Mord. Ich glaube, er hat sie ermordet. Ihr Kleid ist voller Blut.«

»Und es ist ihr Grab, das Alison in den Dünen gefunden hat.«

Anne zitterte. Sie zog eines der Kissen vom Ende des Sofas, warf es auf den Boden vor dem Kamin und setzte sich darauf, die Arme um die Knie gelegt wie ihre Schwester. »Angenommen, du hast recht«, sagte sie nachdenklich. »Wovon müssen wir dann ausgehen? Daß Alison mit ihrer Ausgrabung ein uraltes Verbrechen aufgedeckt hat? Daß eine Frau nach 2000 Jahren oder so noch immer nach Rache schreit, und daß sie und der Mann, der sie ermordet hat, aus irgendeinem Grund jeden angreifen, der ihnen über den Weg läuft? Daß sie in der Lage sind, einen Mann totzuschlagen, eine Scheune niederzubrennen, ein Auto ins Meer zu werfen, die Telefonleitung zu unterbrechen, Erde und Maden und Parfüm erscheinen zu lassen und jeden körperlich zu bedrohen, der töricht genug ist, nach draußen zu gehen?«

»So klingt es wie ein ziemlich schauriges Szenario«, kommentierte Roger trocken. »Aber weil wir keine bessere Theorie haben, und weil es fast genau Mitternacht ist, also die traditionelle Geisterstunde, und weil, was immer auch geschehen ist, eine recht große Gruppe verantwortungsbewußter Menschen, von denen die meisten ansonsten geistig gesunde Erwachsene sind, in Angst und Schrecken versetzt hat, würde ich sagen, sie klingt erst einmal ziemlich überzeugend.«

»Vielleicht hat Kate recht, und wir sollten beten«, warf seine Frau zögernd ein. »Ich weiß, daß du Gebete ablehnst, Schatz, aber es scheint die einzige Möglichkeit zu sein, die uns bleibt, und traditionell gesehen, um deinen Ausdruck zu benutzen, ist es die einzig vernünftige Reaktion.«

»Es ist die einzig mögliche Reaktion«, murmelte Patrick.

»Blödsinn«, gab Roger zurück. »Die einzig vernünftige Handlung ist, daß wir alle schlafen gehen. Morgen frühstücken wir dann erst mal, und anschließend gehen einige von uns mit Joe den Weg hinauf und rufen die Polizei. Immerhin ist ein Mord geschehen. Wenn da draußen irgend jemand ist, und ich bezweifle, daß er noch immer da ist, dann ist es meiner Meinung nach ein Mensch. Irgendein Irrer, der irgendwo entsprungen ist. Der arme Bill war zufällig zur falschen Zeit am falschen Ort. Die Polizei wird ihn schnappen. Aber daß wir anderen jetzt alle durchdrehen wegen dem, was passiert ist, kommt nicht in Frage. Ich bin sicher, daß wir eine logische Erklärung finden werden. Ihr könnt machen, was ihr wollt. Ich gehe jetzt schlafen.« Er stand auf.

Niemand sonst rührte sich. »Es gibt nicht genug Betten für alle, Roger«, warf Diana geistesabwesend ein.

»Dann können alle, die das wollen, hier unten am Kamin bleiben. Es gibt jede Menge Decken. Jeder kann es sich bequem machen.« Roger bückte sich und warf ein paar Scheite ins prasselnde Feuer. Es sprühte Funken. »Joe. Ich schlage vor, du nimmst das Bett meines Sohnes, weil er besser nicht Treppen steigen sollte. Kate, Sie und Anne -«

»Wir bleiben hier unten, Roger, danke. Ich fühle mich sehr wohl hier am Feuer.« Kate lächelte ihn an.

»Ich auch«, setzte Patrick hinzu.

Kate blickte zu Greg. »Du gehst besser ins Arbeitszimmer und legst dich hin, Greg. Schone deinen Fuß. Wir halten Wache. Wenn irgendwas passiert, rufen wir dich.«

Er legte ihr wieder die Hand auf die Schulter. Die Berührung war nur leicht, ein Streifen, nicht mehr. »Danke, aber ich glaube, ich bleibe lieber her. Ich fühle mich hier zu wohl, um wegzugehen.«

Als die älteren Mitglieder der Gruppe nach oben gegangen waren, setzte Anne sich in den Sessel, den Roger freigemacht hatte. »Hat irgendwer von euch die Wettervorhersage gehört?« sagte sie leise. »Sie ist unglaublich schlecht. Ich weiß nicht, ob es durch die Nähe zum Meer besser wird, aber morgen soll es Schneestürme geben. Es wird nicht leicht sein, Hilfe zu holen.«

»Denken Sie, wir sollten es jetzt versuchen, bevor es zu schlimm wird?« Greg lehnte sich nach vorn.

Sie zuckte mit den Schultern. »Ich weiß nicht, was ich denken soll. Ich wollte euch nur warnen.«

»Ich finde nicht, daß wir nochmal rausgehen sollten«, warf Kate ein. »Bis jetzt haben wir Glück gehabt.« Ihr Blick wanderte hinunter zu Gregs Fuß. »Aber ich denke, wir sollten nichts mehr riskieren.«

»Ich finde, wir sollten eine Flasche Wein aufmachen.« Greg hievte sich auf die Füße. »Wenn wir wachbleiben, können wir das genausogut auch genießen, und wenn es uns hilft einzuschlafen, ist es auch nicht schlecht.«

Er humpelte hinüber zur Küche. Dann blieb er plötzlich stehen. »Wo sind die Katzen?«

Paddy zuckte mit den Achseln. »Ich habe sie nicht gesehen.«

Greg runzelte die Stirn. »Sind sie oben?«

»Wenn sie wie C. J. sind, dann liegen sie mitten im besten Bett«, sagte Anne. »Keine Katze ist bei dieser Art Wetter irgendwo anders.«

»Sie gehen gewöhnlich nicht rauf.« Greg bückte sich und zog eine Flasche aus dem Weinständer in der Ecke. »Meistens ist es zu kalt. Schön warm ist es nur um den Kamin oder den Herd herum.« Er nahm den Korkenzieher aus der Schublade, entfernte die Folienversiegelung und begann, den Korkenzieher einzudrehen. »Üblicherweise hat jeder von uns fünfzehn Decken und Steppdecken und Heizgeräte und sowas, aber den Anforderungen eines Katers genügt das natürlich nicht. Hier, Paddy, sei so gut und trag das für mich. Wir brauchen auch ein paar Gläser.« Mit einem Stöhnen humpelte er zurück zum Feuer. Er legte Kate wieder die Hand auf die Schulter, dieses Mal fester, und ließ sie dort. »Nur Mut, hier kann uns nichts passieren.«

Sie schüttelte den Kopf. »Ich habe gerade an den armen Bill im Cottage gedacht, so ganz allein.«

Sie ließ sich von Paddy ein Glas geben und nahm einen Schluck. »Ich kann kaum glauben, daß all das wirklich geschehen ist. Es ist lächerlich. Es ist unmöglich. Im wirklichen Leben passiert einem so etwas nicht.« Gregs Hand lag noch immer auf ihrer Schulter. Ohne nachzudenken, nahm sie die Hand und hielt seine Finger. Sie waren warm und beruhigend kräftig, als sie die Berührung erwiderten.

»Ich fürchte, so etwas passiert gerade den ganz normalen Leuten«, warf Anne ein. Sie lächelte Patrick an, als er ihr ein Glas gab. »Aber ich bin froh sagen zu können, daß es normalerweise selbst für das seltsamste Phänomen eine ganz banale Erklärung gibt. Ich bin geneigt zu glauben, daß die meisten von euren unheimlichen Geschehnissen hier eine Kombination völlig normaler Dinge gewesen sind. Autos geraten bei schlechtem Wetter nun mal ins Schleudern; auf steilen, vereisten Wegen gibt es dauernd Unfälle. Leute bilden sich ein, Dinge zu sehen, wenn das Wetter schlecht ist. O ja, das tun sie, Kate. Und Leute stecken sich sehr leicht gegenseitig mit einer Art Hysterie an, wenn sie verängstigt sind und wenn es erst einmal einen richtigen Grund gab, Angst zu haben. Immerhin ist ein Mann ermordet worden.«

»Aber schon bevor er ermordet wurde, war es so. Als ich dich angerufen habe. Da haben wir schon über alles geredet.« Kate veränderte leicht ihre Stellung, um sich an Gregs unverletztes Knie zu lehnen.

»Poltergeister.« Anne nickte. »Mit Alison im Mittelpunkt. Das halte ich für gut möglich. Sie scheint im Moment emotional sehr gestört zu sein.« Sie warf einen Blick auf die beiden Mädchen, die auf ihrem provisorischen Bett in der Ecke tief zu schlafen schienen.

»Also halten Sie Poltergeister für real?« fragte Greg.

»Ja. Insofern, als sie eine äußerliche Manifestation innerer Konflikte sind; die Energie, die das Gehirn erzeugt, ist wirklich erstaunlich.«

»Stark genug, um ein großes Auto in den Sumpf zu werfen? Stark genug, eine Scheune in Brand zu setzen?«

»Letzteres könnte genausogut ein Herumtreiber gewesen sein, Greg.« Kate hatte den Verlust ihres Wagens überraschend ruhig hingenommen; gemessen an dem, was sonst noch alles passiert war, erschien ihr das fast unwichtig.

Paddy hatte sein Glas halb leergetrunken, als er plötzlich den Kopf hob. »Die Katzen waren doch nicht in der Scheune, oder?«

»Natürlich nicht. Wenn überhaupt, dann gehen sie nur im Sommer in die Scheune, um Vogelnester zu plündern. Sie können ja auch gar nicht rein, wenn die Tür abgeschlossen ist.«

»Natürlich können sie. Es gibt œ oder besser gab œ jede Menge Löcher, durch die sie reinschlüpfen konnten.«

»Sie waren bestimmt nicht drin, Paddy, keine Sorge«, warf Anne ein, als sie die Panik in Patricks Stimme hörte, die er nur schwer verbergen konnte. Der Junge war am Ende seiner Kräfte. »Beim ersten Anzeichen von Ärger wären sie weg gewesen. Katzen haben für sowas einen siebten Sinn.«

Einen Moment lang herrschte Stille, dann stieß Greg ein kurzes, bellendes Lachen aus. »Nicht gerade die glücklichste Wortwahl, unter diesen Umständen.«

Anne schnitt eine Grimasse, als sie sich hochzog. »Tut mir leid. Wie sieht‘s aus, gibt es hier unten ein Klo? Ich will keinen von den Schläfern aufwecken.«

»Gleich über den Flur, hinter dem Arbeitszimmer.« Kate zeigte auf die Tür. »Da, nimm die Kerze mit.«

Im Flur war es nach der Wärme am Feuer ausgesprochen kalt. Anne schützte die Flamme mit der Hand und drückte sich an den Mänteln, Stiefeln und der geschlossenen Tür zum Arbeitszimmer vorbei. Im Nacken konnte sie den Zug von der Haustür spüren. Sie brauchten einen Vorhang dafür. Überall im Flur standen Sachen herum. Vorsichtig hielt sie die Kerze in die Höhe und versuchte, nicht zu stolpern. Sie beleuchtete die Körbe und Schuhe, die Spazierstöcke, eine Schachtel mit Katzenfutter, einen alten Elektro-Ofen œ dieses Haus zu beheizen, war offensichtlich ein Problem -, eine Schachtel mit etwas, das nach Steinen aussah, ein paar Rollen Weihnachtspapier und eine Schachtel mit Weihnachtsschmuck, der nur noch auf den Baum zu warten schien, und œ sie blieb stehen. Vor ihr hatte sich etwas bewegt, außerhalb des Kerzenlichts. Es mußte eine der Katzen sein. Sie hob die Hand ein wenig höher und versuchte, den schwachen Lichtkreis ein bißchen weiter nach vorn zu werfen. Da war es wieder. Im Schatten. Aber nicht auf dem Boden; es war so groß wie ein Mensch. »Wer ist da?« Widerwillig mußte sie zugeben, daß ihre Stimme zitterte.

Keine Antwort. Kein Geräusch, bis auf das leise Seufzen des Windes vor der Haustür. Sie hörte keine Stimmen mehr aus dem Wohnzimmer.

»Wer ist da?« wiederholte sie, diesmal lauter. Sie stand wie angewurzelt. »Ach, Scheiße, komm schon. Sei nicht albern. Wer ist da?«

Sie konnte es jetzt riechen. Das Parfüm. Intensiv, exotisch, derb, mit einer starken Beimischung nasser Erde. Sie schluckte und bemerkte, daß ihre Hände bebten; das Kerzenlicht hatte angefangen zu zittern.

»Okay, Lady Claudia. Zeig dich.«

Sie zwang sich, noch einen kleinen Schritt vorzutreten. Jetzt zitterten auch ihr die Knie. Das Kerzenlicht fiel über den Flur, ließ noch eine Reihe mit Haken erkennen, noch etliche Regenmäntel und Jacken. Sonst nichts. Kein Gespenst. Keine römische Dame. Sie atmete tief durch. Ihre Hand war klamm und eiskalt, als sie sie nach dem Türgriff ausstreckte und die Tür aufzog. Die kleine Toilette war ordentlich, mit hellgrünen Vorhängen, einem dicken Fleckerlteppich, einem grünen Handtuch und Seife. Sie stellte die Kerze auf das Fensterbrett und wollte gerade den Reißverschluß ihrer Hose öffnen, da schaute sie nach unten, in das kleine Waschbecken. Im Becken lag etwas schwarze Erde, und darin schlängelten sich mehrere Maden, die im Kerzenlicht fette, schwerfällige Schatten warfen.