XLVII

Kate schreckte aus dem Schlaf. Sie starrte an die Decke und fragte sich, wo sie war. In ihrem Kopf drehte sich alles. Nichts an dem Zimmer kam ihr bekannt vor. Durch die zugezogenen, orangefarbenen Vorhänge fiel schwaches Licht.

Sie blickte sich um, sah überfüllte Regale, einen unordentlichen Schreibtisch mit Computer, auf jedem freien Flecken Poster an der Wand. Sie blinzelte auf ihre Armbanduhr. Viertel nach neun. Nun bemerkte sie, daß sie unter dem Federbett noch angezogen war. Sie drehte sich zum Bettrand. Jeder Teil ihres Körpers tat ihr weh. Sie blieb für einen Moment still liegen und versuchte, ihre Gedanken zu sammeln. Was war letzte Nacht passiert? Warum konnte sie sich an nichts mehr erinnern?

Sie drehte ihr Gesicht zur Tür, als sie ein leises Klopfen hörte. Es war Patrick. Er grinste. »Tut mir leid, daß es hier so unaufgeräumt ist. Ich bringe Ihnen Tee.«

Natürlich. Plötzlich war alles wieder da. Der Schrecken und die Angst; die Kälte und die Erschöpfung. Sie stützte sich auf ihren Ellbogen, strich sich das Haar aus dem Gesicht und griff nach der Tasse. »Du bist ein Engel. Mir war gar nicht bewußt, wie durstig ich bin. Ist mit den anderen alles in Ordnung?«

»Jedenfalls leben sie.« Patrick zog den Stuhl unter seinem Schreibtisch hervor und setzte sich rittlings darauf, ihr gegenüber. »Was passiert mit uns? Was sollen wir jetzt machen?«

Sie nippte an ihrem kochend heißen Tee. »Wir müssen rauf zur Hauptstraße kommen. Wir brauchen Hilfe. Einen Arzt; die Polizei.« Sie hielt inne, legte die Stirn in Falten. »Wie geht‘s Greg?«

»Sein Fuß ist ganz entzündet. Mum sagt, er müßte eigentlich ins Krankenhaus.« Die Welle der Angst, die sich über sie ergoß, überraschte sie. Greg war der einzige von ihnen, der stark war; der einzige, der sie beschützen konnte, wenn… Wenn was? Wenn sie angegriffen wurden?

Fast, als hätte er ihre Gedanken erraten, schüttelte Patrick den Kopf. »Wer immer Bill getötet hat, ist längst nicht mehr hier. Er hat gestern unser Auto gestohlen. Ich gehe jetzt zu Fuß zu den Farnboroughs. Dafür brauche ich nicht mehr als eine Stunde.«

Sie trank noch etwas Tee und spürte, wie er ihre Kehle hinunterfloß wie ein Lebenselixier. »Du kannst nicht allein gehen. Ich komme mit. Ich wasche mich schnell und esse einen Happen.« Ihr wurde plötzlich bewußt, wie hungrig sie war. »Dann bin ich zu allem bereit. Wie ist das Wetter?«

Patrick stand auf. Er lehnte sich über den Schreibtisch, zog die Vorhänge auf und ließ ein schwaches, bräunliches Licht herein. »Nicht besonders. Es ist immer noch windig, und es ist ziemlich viel Schnee gefallen. Sie sagen einen Schneesturm voraus -« Er brach plötzlich ab.

»Was ist los?« Die Panik, die mit einem Ruck durch ihren Magen lief, sagte Kate, daß sie nicht annähernd so ruhig war, wie sie gedacht hatte. Die ganze Angst war noch da, unter der Oberfläche, und wartete nur darauf, wieder über sie hereinzubrechen.

»Unser Auto!« Patricks Stimme klang erstickt. Kate stellte die Tasse ab, taumelte aus dem Bett und stellte sich neben ihn. Wo? Verdammt, meine Brille ist in meiner Jacke. Sie blickte mit zusammengekniffenen Augen über das schneebedeckte Gras zum Watt.

»Da. Da draußen.« Patricks Stimme war halb erstickt vor Schreck.

Der Volvo stand ein paar hundert Meter vom Gras und vom Sand entfernt, am Rand des Watts, und hielt ein prekäres Gleichgewicht auf hohen, grasbestandenen Stücken Schlamm. Unter seinen Rädern lief die Flut fröhlich plätschernd aus der kleinen Bucht und ließ einen Vorhang aus Seetang zurück, der über die Stoßstangen des Wagens drapiert war.

»Sitzt jemand drin?« Kate konnte aus dieser Entfernung nur die Umrisse erkennen.

»Ich glaube nicht.« Patricks Stimme klang besorgt. »Wie ist es bloß da hingekommen? Hinfahren kann man es nicht bis dort.«

»Nicht mal bei Ebbe?«

»Schauen Sie sich an, wie hoch der Boden ist, auf dem es steht! Das sind richtige kleine Inseln. Sie müssen mehr als einen Meter über dem Boden liegen. Es gibt keine Möglichkeit, wie der Wagen da hingekommen sein könnte, gar keine.«

»Die Flut muß ihn hingetragen haben. Es gab einen heftigen Sturm letzte Nacht -«

»Und er hat in unsere Richtung geblasen. Vom Meer weg. Das ist ein Auto, Kate. Ein verdammt großer Volvo. Nicht irgendein Spielzeugauto. Im Wasser würde er untergehen.«

»Ja. Natürlich.« Sie merkte, daß sie zitterte, und schob die Hände tief in die Taschen. »Können wir da rausgehen? Wenn die Flut ein bißchen zurückgegangen ist?«

Er nickte geistesabwesend. »Ich muß es Dad sagen.«

»Ich komme gleich runter.«

Sie trat einen Schritt zurück und sah zu, wie er zur Tür ging. Er wirkte benommen. Sie blickte zum Fenster. Das Auto war noch da. Ein Sonnenstrahl, der sich verirrt hatte, brachte die Windschutzscheibe zum Glänzen.

Auf dem Weg nach unten warf sie durch die offene Tür einen Blick in Alisons Zimmer. Das Mädchen lag reglos da, das Haar über das Kissen ausgebreitet. Der Teddybär lag auf dem Boden, daneben eine Wärmflasche. Kate blieb einen Moment lang stehen und sah sie an. Sie hatte das Gefühl, daß Alison nicht wirklich schlief.

»Allie?« flüsterte sie. »Allie, bist du wach?«

Keine Antwort.

Roger saß am Küchentisch. Vor ihm stand eine Tasse Kaffee. Diana wartete in seiner Nähe auf den Toast.

»Konnten Sie etwas schlafen?« Sie lächelte Kate an und deutete auf die Kaffeekanne.

Kate griff dankbar nach der Kanne. »Ein bißchen.«

»Gießen Sie Greg auch einen ein, Kate, seien Sie so gut und bringen Sie ihm den rüber. Ich glaube, er wird sich freuen, Sie zu sehen«, sagte Roger. Er setzte ein tapferes Lächeln auf. »Dann frühstücken Sie und ich und Paddy erst mal. Hinterher ist die Flut dann hoffentlich niedrig genug, daß wir uns zu unserer Familienkarosse durchkämpfen können. Diese Schweine. Ich kann mir einfach nicht vorstellen, wie zum Teufel sie ihn da hingekriegt haben, aber er ist keinen Pfifferling mehr wert, wenn ihn die Flut erst mal voll erwischt hat.«

»Wir sind ja versichert, Dad.« Patrick war aus dem Arbeitszimmer aufgetaucht.

»Hoffentlich zahlen die auch.« Als Kate mit zwei Bechern Kaffee durch das Zimmer ging, sah sie, daß Roger finster vor sich hinstarrte.

Greg saß aufrecht gegen einen Berg aus Kissen und Decken gestützt auf dem Feldbett im Arbeitszimmer. Jemand hatte die Kissen um seinen verletzten Fuß so angeordnet, daß er das Gewicht der Bettdecke nicht spürte, und obwohl Kate den Schmerz in seinen Zügen sehen konnte, als er sie angrinste, sah er doch viel viel besser aus als die Nacht zuvor.

»Wie geht‘s dir?« Sie kniete sich hin, um ihm den Kaffee zu geben, und setzte sich dann neben ihm auf den Boden. »Dem Fuß soll‘s ja nicht so gutgehen?«

»Ich werd‘s überleben.« Er streckte eine Hand nach ihr aus. »Und das verdanke ich dir. Du hast mir gestern Nacht ungefähr fünfmal das Leben gerettet. Du hast ganz schön was gut bei mir.«

»Red keinen Unsinn.« Verlegen schaute sie auf ihren Kaffee. Er war schwarz und stark.

»Weiß schon. Das hätte jeder getan.« Er lachte. »Naja, trotzdem danke. Wenn ich du gewesen wäre, hätte ich mich wahrscheinlich da liegen lassen, bis ich verfault wäre, und mir gedacht, daß es mir recht geschieht, nachdem ich so blöd mit dir rumgemacht habe.«

Sie lächelte. »Sehr poetisch ausgedrückt.«

Beide schwiegen einen Moment lang. Dann streckte Greg wieder die Hand nach ihr aus. »Kate, ich hatte einen äußerst seltsamen Traum, während ich schlief. Ich glaube, daß wir alle immer noch in einer furchtbaren Gefahr sind. Ich habe es Paddy erzählt, und jetzt erzähle ich‘s dir. Du wirst denken, ich habe Halluzinationen; wahrscheinlich glaubst du, ich hatte auch letzte Nacht welche -«

»Wenn es welche waren, dann hatten wir sie beide«, warf sie leise ein. »Wir haben beide diese Gestalt gesehen.«

Er schüttelte den Kopf und ließ ihre Hand los, um die Kaffeetasse zu nehmen. »Als du hierhergekommen bist, habe ich beschlossen, dich zu vergraulen. Das weißt du. Aber der Spaß, wenn es einer war, hat sich verdammt schnell verselbständigt. Wir haben alle angefangen, uns Dinge einzubilden…« Er hielt inne, den Blick auf den Inhalt der Tasse geheftet. »Vielleicht hat mir in diesem Zustand meine Phantasie diktiert, was ich sehen sollte.« Er hielt wieder inne. »Thomas De Quincey hat es ziemlich treffend einmal so ausgedrückt, wenn ich mich recht erinnere: ‹Wenn ein Mann, der immer nur von Ochsen spricht, zum Opiumesser wird, dann träumt er auch von Ochsen¤ œ stimmt das?« Er warf ihr unter seinen Augenlidern einen schnellen Blick zu, und der Ausdruck des Erstaunens in ihrem Gesicht blieb ihm nicht verborgen. » ‹Und wenn ein Philosoph einen Opiumtraum hat, dann ist es… humani nihil -¤«

»‹ Humani nihilase alienum putat¤ «, führte Kate den Satz für ihn zu Ende. »Nicht schlecht. Ich hätte nie gedacht, daß du die Bekenntnisse gelesen hast.«

Er lächelte. Obwohl es grau vor Schmerz war, stand ihm doch der Schalk ins Gesicht geschrieben. »Na ja, früher konnte ich auch mal lesen und schreiben, weißt du. Ich weiß sogar, was es heißt: ‹Nichts Menschliches ist ihm fremd.¤ œ Stimmt‘s?« Als sie nichts sagte, fuhr er fort. »Ich habe sogar bei Byron nachgelesen, nachdem ich gehört hatte, was Lady Muck in meinem Cottage zu tun gedachte.«

»Lady Muck?« Sie war noch erstaunter als zuvor.

»Wenn du gewußt hättest, daß ich dich so genannt habe, hättest du mich sicher den Haien überlassen.«

»Allerdings.« Nachdenklich trank sie einen Schluck Kaffee. »Du hast mir noch nicht erzählt, was du geträumt hast. Welche Phantasmagorien haben dich verfolgt?«

»Marcus.«

Sie sog die Luft ein. »Wer sonst.«

»Er hat versucht, mich zu kriegen, am Strand. Er hat versucht, Macht über mich zu bekommen. Ich habe dagegen angekämpft…« Er hielt inne. »In meinem Traum hat er versucht, wieder in meinen Kopf zu kommen.« Er verlagerte mühsam sein Gewicht. »Es war der schrecklichste Traum, den ich bisher gehabt habe, der schrecklichste Traum meines Lebens, und trotzdem kann ich mich nur an ein paar Bruchstücke erinnern.«

»Vielleicht bist du von einem Fremden aus Porlock* aufgeweckt worden.«

Kate lächelte ihn an. Sie versuchte, ihn von seiner finsteren Stimmung zu befreien.

»Schon gut, schon gut. Glaub‘s oder glaub‘s nicht. Alles, woran ich mich erinnere, ist, daß er versucht hat, in meinen Kopf reinzukommen, und daß er in dieses Haus gekommen wäre, wenn ich ihn gelassen hätte. Und das war es, was er wollte. An uns rankommen. Weil wir sein Geheimnis kennen.«

Sie sah ihn aufmerksam an. »Und was ist sein Geheimnis?«

Er blickte sie an, suchte nach Zeichen, daß sie ihm nicht glaubte, ihn belächelte. »Daß er Claudia getötet hat. Aber das ist noch nicht alles. Noch längst nicht. Warum wäre er sonst so wütend? Und so verzweifelt?«

Die Stille im Raum wurde drückend. In seinen Augen war kein Spott gewesen, auch keine erlösende Leichtigkeit. Was sie dort gesehen hatte, hinter der verengten graugrünen Iris, war Angst. Sie schluckte, flocht nervös ihre Finger ineinander.

»Wer, glaubst du, hat Bill getötet?« fragte sie endlich. Ihre Stimme klang heiser.

Greg seufzte tief. »Ich weiß nicht, was ich denken soll. Weißt du, ob Allie irgendwas gesagt hat?«

»Patrick hat mir gesagt, daß sie behauptet, es sei Marcus gewesen.«

»Hast du ihnen erzählt, was Bill gesagt hat?«

»Nein.«

Greg richtete sich auf. In seinem Fuß hämmerte der Schmerz, heiße Stiche schössen bis zu seinem Knie. Auch ohne das verfärbte Fleisch zu sehen, wußte er, daß es sich entzündet hatte. »Schläft sie noch?«

»Ich glaube schon. Sie hat jedenfalls fest geschlafen, als ich runtergekommen bin. Greg, das Wichtigste ist jetzt, daß wir einen Arzt für dich holen œ und für sie. Patrick und ich gehen jetzt rauf zur Hauptstraße.« Sie warf einen Blick zum Fenster hinaus. »Bei Tageslicht erscheint es einem längst nicht mehr so furchterregend.«

Er streckte die Hand aus und berührte wieder die ihre. »Es tut mir so leid, daß das alles passiert ist, Kate. Armer alter Byron.«

Sie lächelte kläglich. »Er läuft mir schon nicht davon.«

»Weißt du«, er zögerte. »Ich glaube, ich bin jetzt doch ganz froh, daß du hier bist.« Er beugte sich zu ihr und küßte sie zärtlich auf die Stirn und fuhr ihr mit einem Finger über die Wange. »Du hast interessante Backenknochen. Wenn das alles vorbei ist, male ich dein Porträt.«

Sie lächelte, überrascht von dem Zittern der Erregung, das trotz ihrer Erschöpfung durch ihren Körper gelaufen war. »Ist das etwa ein Kompliment?«

»O ja. Wer mich gut kennt, würde für so ein Kompliment einen Mord begehen.« Aus seinen Augen funkelte der Schalk.

Sie studierte einen Moment lang sein Gesicht, dann stand sie halb zögernd auf. »Wir wissen jetzt, wo das Auto abgeblieben ist.«

»Wirklich?«

Sie lachte. Ein knappes, kleines Lachen, das einen Augenblick lang an der Schwelle zur Hysterie verharrte. »Es ist draußen im Watt; mitten im Wasser. Niemand kann es da hingefahren haben.«

Er sagte nichts. Seine Augen ließen die ihren nicht los, dann lachte auch er voller Unbehagen. »Nicht schlecht. Möglicherweise kann er einen Streitwagen fahren, aber ein Volvo ist nun mal was anderes.«

»Du glaubst doch nicht ernsthaft -«

»Ich weiß nicht, was ich glaube.« Plötzlich war er mit seinen Nerven am Ende. »Verdammt nochmal, was kann ich von hier aus schon machen? Paß gut auf. Sorg dafür, daß Paddy das Gewehr mitnimmt, und seid bloß vorsichtig. Wir wissen nicht, womit wir es zu tun haben. Da draußen ist jemand, der töten will. Da macht es auch keinen großen Unterschied, ob es ein gemeingefährlicher Irrer aus Fleisch und Blut ist oder einer aus dem Geisterreich. Das Resultat scheint dasselbe zu sein.«

»Also denkst du nicht, daß es Alison war.« Sie hatte sich zur Tür umgedreht.

»Natürlich nicht. Sie wäre nicht stark genug, selbst wenn sie jemanden töten wollte. Und sie hatte nichts mit dem Auto zu tun.« Er ließ sich zurücksinken, überwältigt von Hilflosigkeit, Frustration und Schmerz. Sie blickte auf ihn hinunter, zögerte noch einen Augenblick lang, öffnete dann leise die Tür und schlüpfte hinaus.

Roger schob ihr über den Tisch eine neue Tasse Kaffee hin. »Allie ist aufgewacht. Diana und Paddy sind bei ihr.« Er deutete auf einen Stuhl. Er sah nicht besser aus als vergangene Nacht; seine Lippen hatten immer noch einen beunruhigenden Anflug von Blau, als Kate sich ihm gegenüber setzte.

»Wie geht es ihr?«

Er schüttelte den Kopf. »Ich wollte lieber warten, bis sie runterkommen. Sie will nicht, daß wir uns da oben alle in ihrem Zimmer drängeln.« Außerdem schaffe ich es einfach nicht, die Treppe hochzukommen. Der Gedanke, obwohl unausgesprochen, war deutlich in seinen Augen zu lesen.

Kate wandte den Blick ab. Es schmerzte sie zu sehen, wie krank er war. »Sobald Paddy runterkommt, sollten wir einen Arzt holen, denke ich.«

»Und wir müssen der Polizei Bescheid sagen.« Er blickte in seine Kaffeetasse, rührte nachdenklich darin herum und beobachtete die Bewegung der Flüssigkeit, in der sich die Deckenlampe spiegelte. »Ich weiß, daß ihr alle so eine verrückte Idee habt, daß dort draußen ein Geist rumspukt, Kate. Kommt zur Besinnung Leute, wie Allie sagen würde. Geister schlagen keine großen, starken Männer tot.« Schließlich hob er den Blick und sah sie an. »Seid vorsichtig. Bitte seid vorsichtig -« Er brach ab, und sie sah, wie ein Lächeln sein Gesicht aufhellte, wie es kurz um seinen Mund huschte und dann erstarb. Sie folgte seinem Blick und drehte sich auf ihrem Stuhl herum. Alison stand in der Tür zur Treppe. Sie trug ihr Nachthemd, das Haar hing ihr zerzaust um die Schultern. Sie blickte sich im Zimmer um, als ob sie es noch nie zuvor gesehen hätte.

»Allie?« Roger stand auf und schob dabei mit einem gräßlich schrillenden Geräusch, das an den Nerven zerrte, den Stuhl über die Fliesen zurück. »Ist alles in Ordnung, Sweetheart?«

Sie bewegte leicht den Kopf, als hätte sie Schwierigkeiten, klar zu sehen, und blickte Kate und ihn verständnislos an. Ihr Körper schwankte hin und her. Hinter ihr erschien Patrick in der Tür. Sein Gesicht war weiß. »Allie?« Er drückte sich an ihr vorbei. »Allie, setz dich. Setz dich. Ich hole dir was zu trinken.« Hinter seinem Rücken gestikulierte er wild in Richtung Roger und Kate.

Sie blickten sich an. Die Atmosphäre im Zimmer war plötzlich elektrisch geladen. Alison machte wieder einen Schritt nach vorn. Sie setzte mit enormer Vorsicht einen Fuß vor den anderen, als würde der Boden schwanken wie das Deck eines Schiffs. Als sie so auf sie zuging, sprangen die beiden Katzen, die neben dem Feuer geschlafen hatten, vom Stuhl, auf dem sie ineinanderverschlungen geschlafen hatten, und flitzten davon. Innerhalb von Sekunden waren sie durch die Katzenklappe verschwunden. Kate schaute ihnen verdutzt hinterher. Ihre Augen hatten wild geleuchtet; das Fell im Nacken und auf dem Schwanz war vor Schreck gesträubt. Stirnrunzelnd schaute sie zurück zu Alison, die wieder stehengeblieben war, und sie fand, daß das Mädchen aussah, als sei es betrunken.

Roger hatte denselben Gedanken. »Alison?« Seine Stimme war scharf. »Was ist los mit dir?«

»Sie hat Mum angegriffen«, murmelte Patrick mit heiserer Stimme. Er erreichte den Tisch und rutschte dahinter, brachte ihn zwischen sich und seine Schwester. »Sie ist verrückt geworden. Oh, Dad, was geschieht hier bloß?« Sein Gesicht war bleich und angespannt. Er sah verängstigt aus.

Roger warf einen schnellen Blick auf ihn und schaute dann wieder seine Tochter an. Ihr Gesicht war völlig ausdruckslos. Sie tat wieder einen Schritt nach vorn, die Hände vor sich ausgestreckt, als taste sie in völliger Dunkelheit herum.

»Alison!« sagte Roger laut. »Antworte mir! Was fehlt dir?« Er sah schnell seinen Sohn an. »Wo ist Di? Ist sie verletzt?«

Patrick schüttelte den Kopf. »Nur geschockt. Sie kommt gleich -«

Er wurde von einem plötzlichen, langsamen Lachen unterbrochen. Das Geräusch, bemerkte er erschaudernd, kam von Alison, aber es war nicht ihre Stimme. Kate überlief es eiskalt, als sie das Mädchen ansah.

»Niemand.« Alison sprach langsam, die Stimme war heiser. »Niemand wird dieses Haus verlassen. Niemand wird je herausfinden, was passiert ist.«

Hinter ihr erschien Diana in der Tür. Kate hörte, wie Roger scharf den Atem einzog, als er seine Frau anblickte. In ihrem Gesicht hatte sie einen großen purpurnen Fleck. Sie schlüpfte in das Zimmer und blieb, wo sie war, mit dem Rücken zur Wand. Ihr ganzer Körper drückte deutlich ihren Schmerz, ihre Verwirrung und ihre Angst aus.

Roger schluckte. »Allie, Liebes, ich glaube, wir sollten uns unterhalten. Warum setzt du dich nicht. Wir trinken erst mal alle was Heißes -«

Sie schien ihn nicht gehört zu haben. Langsam und gequält machte sie den nächsten Schritt. Kate sah auf ihre Augen. Sie waren leer; völlig leer.

»Roger.« Sie trat näher zu ihm hin, ihre Stimme war kaum ein Flüstern. »Ich glaube, sie schläft.«

Roger blickte sie scharf an, dann sah er wieder zu seiner Tochter. Er kniff die Augen zusammen. »Mein Gott. Ich glaube, Sie haben recht! Was tun wir?«

»Heißt es nicht, daß es gefährlich ist, so jemanden zu wecken?« Kate sandte einen flehenden Blick in Dianas Richtung.

Es war Patrick, der handelte. »Wenn sie schläft, kann sie uns nicht sehen«, sagte er leise. Er machte einen vorsichtigen Schritt auf seine Schwester zu, und dann, als sie nicht reagierte, noch einen. Er schlüpfte um sie herum und legte ihr von hinten die Hände auf die Schultern. »Komm, Allie, zurück ins Bett.« Sie beachtete ihn nicht. »Allie. Komm schon. Du mußt dich hinlegen -« Er steigerte leicht den Druck und versuchte, sie umzudrehen. Ihr Körper straffte sich. Dann plötzlich befreite sie sich aus seinem Griff, wirbelte herum und versuchte, Patrick einen gewaltigen Schlag zu versetzen, der aber nur seine Schulter streifte, da er ihm auswich.

»Also gut, Alison, jetzt ist es genug.« Roger bewegte sich mit überraschender Geschwindigkeit. Er packte sie an den Handgelenken und zog sie zu einem Stuhl. »Wach oder nicht, so ein Verhalten gibt es in diesem Hause nicht.« Überrascht tat sie zwei Schritte mit ihm, blieb dann stehen und schüttelte ihn ab. Er taumelte zurück. Er war zwar durch die Krankheit geschwächt, aber er war groß und auch noch ziemlich schwer. Doch seine Tochter hatte ihn so leicht abgeschüttelt, als wäre er nur halb so groß wie sie. Ihre Miene war noch immer leer; aller Ausdruck war völlig aus ihren Gesichtszügen verschwunden.

»Sie ist wie ein Roboter«, flüsterte Patrick. Er schlüpfte hinüber auf die Seite seines Vaters. »Bist du okay, Dad? Hat sie dich verletzt?«

Roger schüttelte den Kopf. Sie alle hatten ihre Augen auf Alisons Gesicht gerichtet, das reglos blieb. Kate runzelte die Stirn. Schlief sie wirklich? Oder war es etwas anderes? Das Mädchen blieb mehrere Minuten lang reglos stehen; keiner rührte sich, keiner sagte etwas. Dann sah Kate im Augenwinkel, wie Diana aus dem Zimmer schlüpfte. Gleich darauf kam sie zurück. Sie hatte einen Gürtel aus Leinen in der Hand. Sie sahen alle zu, wie sich Diana auf Zehenspitzen hinter Alison schlich und vorsichtig begann, den Gürtel um sie zu legen, über ihre Arme. Offenbar hatte sie vor, ihr die Arme an den Körper zu fesseln. Alison reagierte nicht. Diana zog vorsichtig den Gürtel enger, gleich über den Ellbogen des Mädchens. »Hol eine Decke, Roger. Wickel sie fest ein«, befahl sie. »Schnell. Bevor sie aufwacht.«

Alison ging beim Klang ihrer Stimme nach vorn, als werde ihr erst jetzt bewußt, daß sie gefesselt war. Sie versuchte, ihre Arme zu bewegen, und ein Blick ängstlicher Verwirrung blitzte in ihrem Gesicht auf, auf den unmittelbar danach ein wütendes Gebrüll folgte. Sie drehte sich um, schlug mit den Händen um sich und zerriß fast ohne Anstrengung den Gürtel. Ihr Gesicht hatte den Ausdruck reinster Wut angenommen. Sie wandte sich zum Tisch und streckte die Hand aus. Kate sah zu spät, daß neben dem Brotlaib ein Messer lag; sie sprang hin, aber Alison war zuerst dort, und ihre Hand legte sich vor der von Kate auf den Griff des Brotmessers. Kate packte ihr Handgelenk, und für einen Moment trafen sich über den Tisch hinweg ihre Blicke. Kate hatte ein stechendes Gefühl des Entsetzens; die Augen, die sich in die ihren bohrten, waren nicht die Alisons; sie waren nicht mehr ausdruckslos; sie schliefen nicht mehr; sie waren kalt, berechnend und sehr wütend.

»Allie -«, keuchte sie. »Bitte.«

Alison lachte. Ein tiefes, kehliges Lachen. Mühelos verdrehte sie unter Kates Fingern ihren Arm, hob das Messer hoch, drehte sich um und stürzte sich auf ihre Mutter. Sie verfehlte sie und verlor das Gleichgewicht. Patrick nutzte die Gelegenheit und warf sich auf sie. Miteinander ringend fielen sie zu Boden.

»Paddy -« Dianas Schrei hallte durch den Raum, als die Klinge seinen Unterarm traf und Blut über die Binsenmatte spritzte. Aber er ließ nicht los. Sie kämpften wild weiter. Patrick trat und wand sich, doch Alison gewann langsam, aber sicher die Oberhand. »Roger, tu doch etwas!« schrie Diana, die vergessen hatte, wie schwach ihr Mann war. Aber es war Kate, die das zusammengefaltete Tischtuch auf der Anrichte packte und es Alison über den Kopf warf. Im selben Moment entwand sich Patrick dem Griff seiner Schwester. Er stellte seinen Fuß auf ihr Handgelenk und drückte es fest auf den Boden, während er ihr das Messer entriß. Erst danach merkten sie, daß Greg auf einen Gehstock gestützt ins Zimmer gehumpelt war, das Gesicht bleich vor Schmerz.

»Hier.« Er gab seiner Mutter eine Schachtel. »Schnell. Es ist Dads Beruhigungsmittel.« Mit sichtbar zitternden Händen öffnete Diana die Schachtel und holte eine Spritze heraus. Sie warf einen Blick auf Roger, füllte dann die Spritze und näherte sich ihrer sich windenden Tochter. Sie schob das Nachthemd hoch und stach die Nadel in eine von Alisons Pobacken. Das Mädchen stieß einen Wutschrei aus, der durch das Tischtuch kaum gedämpft wurde, das ihr Kate um den Kopf hielt. Auf ihn folgte ein Schwall von Flüchen, die nur ganz langsam abklangen. Es dauerte mehrere Minuten, bevor sich ihre geballten Fäuste lösten und sie auf den Boden sank. Kate entfernte vorsichtig das Tischtuch und schaute hinunter. Alisons Gesicht, gerötet vom Kampf, hatte sich entspannt; sie atmete schnell und leicht, ihre Haare waren über den Boden gebreitet. Patrick bückte sich langsam und zog das Nachthemd seiner Schwester nach unten, um ihren Hintern zu bedecken, dann drehte er sich um und nahm ein Geschirrtuch von der Spüle, um die Blutung an seinem Arm zu stillen.

»Nicht, Patrick. Das ist nicht sauber.« Dianas Bemerkung kam ganz automatisch; ihre Augen waren immer noch auf Alisons Gesicht gerichtet.

»Habt ihr gehört, was sie geschrien hat?« Greg ließ sich auf einen Stuhl fallen. In seinem Kopf drehte sich noch alles von der Anstrengung, mit der er sich aus dem Arbeitszimmer geschleppt hatte.

»Es war irgendeine fremde Sprache«, sagte Roger nach einem Moment des Zögerns.

»Nicht irgendeine fremde Sprache.« Greg sah Kate an. »Los. Sag ihnen, was es war.«

Kate schüttelte den Kopf. »Ich bin mir nicht sicher -«

»Natürlich bist du dir sicher. Du hast gehört, was sie gesagt hat. Es war irgendwas auf Lateinisch. Los, gib‘s zu. Du hast es gehört.« Er starrte in die Runde. »Ihr habt es alle gehört. Es war Lateinisch!«

Patrick bückte sich, um das Messer aufzuheben. Er starrte es einen Augenblick lang an, als könne er nicht glauben, daß er es in der Hand hielt. »Allie hätte das nie getan; sie hätte das nicht tun können. Kein Mädchen hat so viel Kraft.«

Diana hob den zerrissenen Gürtel auf. Er war an zwei Stellen gesprengt worden. Sie starrten ihn alle an. »Wie lange hält die Spritze vor?« fragte Roger leise und sah seine Frau an.

»Nicht lange. Ich hatte nicht erwartet, daß es so schnell wirken würde.« Sie sah hinunter auf Alisons zusammengesunkenen Körper. »Oh, Roger, was sollen wir nur mit ihr machen?« Ihre Stimme war tränenerstickt.

Roger legte den Arm um ihre Schultern. »Ich weiß es nicht.« Sem Körper war in sich zusammengesunken, ein Bild der Niederlage.

»Es gibt da etwas, das ihr wissen solltet.« Greg sah von einem zum anderen, und dann zu Kate. Sein Gesicht war voller Mitgefühl. »Bevor er starb, hat Bill uns gesagt, daß es Alison war, die ihn angegriffen hat.«

»Nein!« Dianas Protest war halb Schrei, halb Stöhnen.

»Doch, das hat er gesagt«, bestätigte Kate. »Aber es war nicht Alison, oder? Wir alle wissen das doch. Diese Augen sind nicht die von Alison.«

»Was wollen Sie damit sagen?« fuhr Diana sie an.

»Du weißt, was sie sagen will«, sagte Greg. Er starrte hinunter auf seine Schwester. »Sie ist besessen.«

»Nein.«

»Wie willst du es sonst nennen?« Er streckte die Hand nach seiner Mutter aus, aber sie wich zurück. Er zuckte mit den Schultern. »Das war nicht Alison, die da gesprochen hat; Alison würde auch nicht solche Dinge tun. Kate hat recht. Es sind nicht einmal ihre Augen.«

Diana brach in Tränen aus. »Was sollen wir nur tun?«

Greg sah zuerst Kate an und dann seinen Vater, der sich auf den Stuhl am Kopfende des Tisches hatte sinken lassen, das Gesicht grau vor Erschöpfung. »Wir müssen einen Arzt holen.«

»Nein!« Diana war dagegen. »Wir holen keinen Arzt, und auch keine Polizei. Ich lasse nicht zu, daß Allie von hier weggebracht wird -«

»Und was ist mit meinem Fuß?« Gregs Stimme war sanft. »Und was ist mit Dad? Ich finde, der Arzt sollte ihn sich ansehen.« Er hielt inne. »Allie braucht Hilfe. Dringend. Du weißt das so gut wie ich.«

»Nein.« Diana schüttelte den Kopf. Tränen liefen ihr über die Wangen. »Nein, wir bringen das alles selbst wieder in Ordnung. Keine Sorge. Allie geht es bald wieder gut, sie muß einmal richtig ausschlafen. Dein Fuß ist nicht so schlimm, Greg. Er sieht schon besser aus, das hast du selbst gesagt, und dein Vater muß sich nur ausruhen -«

»Di.« Roger hob den Kopf. Er rieb sich müde mit den Händen über die Wangen, und sie hörten alle das kratzende Geräusch seiner Hände auf dem 24-Stunden-Bart. »Wir schaffen das nicht allein. Das weißt du auch. Da draußen im Cottage liegt ein Toter. Ein Toter, Di. Das ist keine Einbildung. Und das bringt sich auch nicht von selbst wieder in Ordnung.«

»Allie hat nichts mit dem Auto zu tun, Ma«, warf Patrick plötzlich ein. »Da draußen muß noch jemand sein.«

»Patrick und ich gehen zu den Farnboroughs, um zu telefonieren.« Kate stand auf. »Ich denke, wir sollten jetzt wirklich los.«

»Nimm das Gewehr mit, Paddy.« meinte Roger. »Greg und ich kommen hier schon klar.«

Patrick blickte unsicher vom Gesicht seiner Mutter zu dem seines Vaters, dann wandte er sich Kate zu. »Okay?« flüsterte er.

* Coleridge hat behauptet, er habe sein Gedicht Kubla Khan œ »In Xanadu did Kubla Khan a stateley pleasure dorne decree« œ im Opiumrausch

geträumt und sei gerade beim Aufschreiben gewesen, als ein Mann aus Porlock gekommen sei und so lange auf ihn eingeredet habe, bis er den Rest vergessen hatte. (Anmerkung der Übersetzer)