XXVI

Greg parkte sein Auto trotzig auf einem Parkplatz gleich neben dem Burgtor, der für Behinderte reserviert war, und ging mit weit ausholenden Schritten zum Eingang. Er warf einen Blick auf den Himmel. Schnee und Schneeregen hatten sie vorhergesagt. Für die Redall-Bucht hieß das wahrscheinlich Schneeregen, aber man konnte nie wissen. Manchmal blieb der Schnee auch liegen. Was immer passierte, in Colchester würde es schlimmer sein. Dort würde es viel Schnee geben.

Es war lange her, daß er zuletzt im Museum gewesen war. Er starrte verwirrt um sich. Die große Halle von damals, mit ihren an der Wand aufgereihten Exponaten, war verschwunden. Statt dessen gab es jetzt fast intime, abgeschlossene Sektionen. Aus einer entfernten Ecke konnte er das blecherne, aufdringliche Geplärr hören, das von einem Videoband kam. Er runzelte die Stirn. Warum konnten diese Arschlöcher nicht alles so lassen, wie es war. Früher hätte er Marcus mit verbundenen Augen gefunden. Weiß der Teufel, wo er jetzt war.

Er war oben, nicht weit von noch mehr Videoscheiße entfernt. Mit einem finsteren, ungeduldigen Blick auf die Nische, aus der die Geräusche eines Massakers drangen, stand Greg vor der Statue und starrte ihr lange und eindringlich ins Gesicht. Dann ging er, wie Kate vor ihm, zu den Ausstellungsstücken und sah hinunter auf das männliche Skelett. Sie hatte recht. Es war nicht Marcus, der in Redall begraben lag. Aber wer war es dann? Sein Blick wanderte hinüber zu den anderen Überresten. Kleiner, wenn auch nicht bedeutend kleiner: Marcus‘ Frau besaß einen starken Knochenbau. In der Kunstschule war sein Studium des menschlichen Skeletts eher oberflächlich gewesen, aber doch gründlich genug, um jetzt vermuten zu können, daß sie jung gestorben war. Wie? fragte er sich. Krankheit? Verwundung? Kindbett? Er warf einen Blick auf die Inschrift. Doch es gab keinen Hinweis, nichts, was über das wenige Wissen, das er bereits hatte, hinausreichte. Er starrte hinunter auf das, was von Marcus‘ Schädel übrig war. War seine Geschichte dort eingeschrieben, im Abdruck seiner Knochen? Seine Liebe, sein Haß, seine Triumphe, seine Katastrophen? Er hob die Hände und legte sie auf das kalte Glas der Vitrine.

»Komm schon, du Bastard, spuck‘s aus.« Ohne es selbst zu merken, hatte er diesen Fluch laut vor sich hingesprochen. Eine Frau in der Nähe drehte sich nach ihm um und starrte ihn an. Ihre Blicke trafen sich, doch sie sah rasch weg. Er grinste geistesabwesend, seine Aufmerksamkeit galt bereits wieder Marcus. Dem begüterten, erfolgreichen Marcus, der nach der Niederwerfung Boadiceas sein Glück gemacht hatte; der nach Colchester und nach Redall zurückgekehrt war und Land gekauft hatte. Er verzog das Gesicht œ war es so gewesen? Oder hatte er einfach das Stück Land beschlagnahmt, das er haben wollte? War der frühere Besitzer von Redall beim Aufstand gestorben, oder hatte er alles mit Gewinn verkauft? Er beugte sich näher an das Glas heran, stützte seine Stirn auf und schloß die Augen.

HASS

ZORN

FURCHT WUT

Als die Emotionen durch ihn hindurchfegten, löschten sie jeden anderen Gedanken in seinem Kopf aus. Sie wirbelten um ihn herum, schimmerten farbig: Rot! Schwarz! Ein bösartiges, gewalttätiges Orange! Er fauchte, schrie, zerriß die Luft. In einem entfernten Teil seines Selbst war er sich bewußt, daß er Schaum in den Mundwinkeln hatte, in seinen Ohren hörte er ein gequältes Heulen, und er wußte, daß es sein eigenes war.

Dann waren die Geräusche und die Farben und die Schmerzen wieder verschwunden, so schnell, wie sie gekommen waren, und er bemerkte, daß es plötzlich völlig still um ihn herum war.

Mann Gottes, war er das gewesen? Hatte er wirklich laut aufgeschrien, oder war das alles nur in seinem Kopf geschehen? Das Band in der Nische war an sein Ende gekommen und ein paar Minuten lang still, bevor es zu einer neuerlichen Aufführung der Unterhaltung zweier Römer antrat, während die Horden immer näher rückten. Der Raum hallte wider von Stille und Kälte.

Das schnelle, besorgte Klappern der Absätze auf dem Boden drängte sich erst in sein schockiertes Entsetzen, als er eine ängstliche Hand auf seinem Arm spürte. »Geht es Ihnen gut? Möchten Sie, daß ich jemanden hole?« Die Frau, die ihn beobachtet hatte, blickte ihm besorgt ins Gesicht. »Ich sah Sie herumtorkeln. Ich dachte, vielleicht -« Sie geriet ins Stocken, als er sie mit leeren Augen anstarrte. »Ich weiß nicht, aber ich habe mich gefragt, ob Sie vielleicht Epileptiker sind oder so…?« Ihre Besorgnis verlor sich, und sie lief dunkelrot an. »Bitte entschuldigen Sie.«

Er starrte sie dumpf an. »Es geht mir gut. Danke. Es muß die Hitze sein.« Er blickte verwirrt um sich. Der Saal war kalt. Sehr, sehr kalt.

Sie ging weg, das Gesicht ihm weiterhin zugewandt. Sobald er sie nicht mehr sehen konnte, würde sie in aller Eile nach unten laufen und vielleicht einen der Aufseher heraufschicken. Na gut, sollten sie nur kommen. Sie würden schon sehen, daß er nicht besoffen war. Er war nie nüchterner gewesen.

Er legte eine Hand auf die Vitrine, zog sie aber schnell wieder zurück, als ob sie ihn gestochen hätte. Was auch immer den Anfall verursacht hatte, es war aus diesem gläsernen Sarg gekommen.