XXXVI
»Wo ist Allie?« Diana blickte sich in der Küche um, als ob sie die Abwesenheit ihrer Tochter erst jetzt bemerkt hätte. Vor zwei Stunden waren sie mit dem Mittagessen fertig geworden. Alison war zum ersten Gang erschienen, hatte ihr Essen aber kaum angerührt und sich mit einer Entschuldigung nach oben zum Schlafen zurückgezogen. »Lauf schnell hoch und schau nach, wie es ihr geht, Patrick. Bist du so lieb?« Sie und Kate hatten zusammen den Abwasch erledigt, und auf dem Herd kochte ein neuer Kessel Wasser. »Sie sollte etwas essen.«
Patrick verschwand nach oben. Diana lächelte. »Ich weiß, es ist dumm von mir. Aber ich mache mir einfach Sorgen. Es geht ihr noch nicht besonders.«
»Glauben Sie, Sie sollten sie zum Arzt bringen?« Kate reihte auf dem Tisch sechs Becher auf.
Dianas Antwort wurde durch Patricks Schrei abgeschnitten. »Ma. Hier oben ist sie nicht.«
Diana starrte hinüber zur Treppe. »Was meinst du damit, da oben ist sie nicht? Natürlich ist sie das.«
»Ist sie nicht. Und im Klo ist sie auch nicht. Ich habe überall nachgesehen.« Patrick tauchte wieder auf.
Roger hatte am Feuer gedöst. Er schob ein Bündel Katzen vom Schoß und stand auf. »Irgendwo muß sie ja sein. Das ist kein besonders großes Haus. Los, sucht sie.« Er konnte die Besorgnis in seiner Stimme nicht unterdrücken.
»Sie ist weg.« Diana ließ den Ofenhandschuh fallen, den sie übergestreift hatte, um den Kessel anzuheben. »Sie ist wieder zu diesem verflixten Grab gegangen.«
»Nein.« Kates Flüstern war nicht mehr zu hören, weil Roger seine Zeitung auf den Tisch warf.
»Das glaube ich nicht. Sie wäre doch nicht so dumm. Mein Gott. In einer Stunde ist es dunkel.« Er ging zur Tür.
»Schau, ob ihre Jacke noch da ist, Liebling.« Diana stand in der Mitte des Raums, steif vor Angst.
»Sie ist weg.« Er suchte bei den Mänteln und Regenhäuten, die an den Haken auf der Innenseite der Haustür hingen. »Und ihre Stiefel auch.«
Greg war mit seiner Tasse Kaffee ins Arbeitszimmer verschwunden, nachdem sie zu Ende gegessen hatten. Auf den Klang von Rogers lauter Stimme hin machte er die Tür auf und spähte heraus. »Was gibt‘s?«
»Deine Schwester. Sie scheint weggegangen zu sein.«
Gregs Augen suchten die von Kate. Seine Miene war plötzlich sehr grimmig.
»Kate und ich gehen sie suchen«, sagte er. »Wir nehmen den Land Rover. Mach dir keine Sorgen, Ma. Es passiert ihr schon nichts. Sie ist ja nicht dumm. Da sie ihren Mantel und ihre Stiefel mitgenommen hat, ist sie warm genug angezogen, und es zeigt auch, daß sie vernünftig ist.«
»Ich komme mit.« Sein Vater griff nach seinem Mantel, aber Greg legte eine Hand auf seinen Arm. »Nein, Dad, nicht nötig. Ehrlich. Kate und ich finden sie schon. Du bleibst hier bei Ma. Man weiß ja nie. Vielleicht geht sie nur im Garten spazieren, und wir machen uns ganz umsonst verrückt.« Er lächelte in die Stille hinein. Keiner von ihnen glaubte das; sie alle wußten, wohin sie gegangen war.
Im Land Rover war es kalt. Nachdem Kate sich auf den Beifahrersitz gehievt hatte, steckte sie die Hände tief in die Taschen und wartete, bis Greg zur Fahrertür herumgegangen war und diese öffnete. Er stieg ein, griff nach dem Zündschlüssel und blickte sie an. »Wie lange, glaubst du, ist sie schon weg?«
»Es könnten Stunden sein. Hätten wir es bemerkt, wenn sie das Haus verlassen hätte, als wir noch beim Essen saßen?«
Er zuckte mit den Schultern. »Sie mußte durchs Wohnzimmer, um zur Haustür zu kommen. Das Problem ist, wir haben uns so angeregt unterhalten, daß ich glaube, wir hätten sie nicht einmal bemerkt, wenn sie vor uns hochgesprungen wäre und uns angeschrien hätte.« Er rammte den Gang rein und fuhr langsam an. »Hast du die Decken reingeworfen?«
Kate nickte. Ihr Magen hatte sich verkrampft, und sie spürte ein Zittern.
»Etwas da draußen ruft sie zu sich.«
»Na, soll es nur rufen. Aber hingehen sollte sie nicht.« Greg warf das Steuer herum, um den Land Rover auf den Weg zu bringen. Er spürte, wie die Reifen seitlich wegrutschten, als sie versuchten, im Schlamm Halt zu finden.
Unter den Bäumen wurde ihnen plötzlich bewußt, wie bald die Dämmerung hereinbrechen würde. Die Schatten unter der Kiefer und der Lärche waren von einem weichen Schwarz; etwas weiter entfernt war der Wald schon tief schwarz. Die Scheinwerfer schnitten eine Bahn durch das Unterholz und erleuchteten Flecken von Gelb, wo Irrlichter trotz der Kälte bereits die ersten Zeichen des Frühlings vorauswarfen.
»Meinst du, wir sollten nach Fußspuren Ausschau halten, um sicherzugehen, daß sie hier entlanggekommen ist?« fragte Kate zögernd. Sie hielt sich in dem Versuch, nicht vom Sitz zu rutschen, an der Tür fest.
»Wir wissen, daß sie hier entlanggekommen ist.« Greg warf einen schnellen Blick zu ihr hinüber. »Schnall dich an, dann wirst du nicht rausgeschleudert, wenn wir umkippen. Auf diesem Weg kommen wir bald nicht mehr durch, wenn das mit dem Wetter so weitergeht.« Sie fuhren über ein Schlagloch, und er riß das Lenkrad herum, um das Auto am Schleudern zu hindern.
»Wenn du vielleicht ein bißchen langsamer fährst.«
»Wir müssen unbedingt vor ihr da sein. Heiliger Strohsack!« Er riß am Schaltknüppel und schaffte es, den Wagen zurück auf den Weg zu bringen. Ein Spritzer aus Regentropfen traf die Windschutzscheibe, als sie einige Efeu- und Klematisranken streiften. Die nackten, hölzernen Zweige der Waldreben hatten bereits winzige neue Knospen. Vor ihnen, auf dem Weg, bewegte sich etwas. Er fuhr langsamer, und beide spähten durch die verschmierte Windschutzscheibe. »Was war das? Ist das Allie?« Kate beugte sich voll gespannter Ungeduld nach vorn.
Er schüttelte grimmig den Kopf. »Ein Reh.« Er drehte das Lenkrad herum. »Mein Gott, wie weit ist sie denn gekommen?«
»Gibt es noch einen anderen Weg? Könnte sie eine Abkürzung genommen haben?«
»Eigentlich nicht. Das ist die Abkürzung.«
Kate sah zu ihm hinüber. Die Sorge hatte sich deutlich in sein Gesicht eingegraben, die Falten zwischen Nase und Mund zeichneten sich klar und tief ab. Obwohl er sich dauernd mit seiner Schwester zankte, spürte er offensichtlich eine tiefe Liebe zu ihr. Sie fühlte eine Welle von etwas wie Zuneigung zu ihm. Sie zugehe den Impuls, tröstend seine Schulter zu berühren, und schielte wieder zur Windschutzscheibe hinaus. »Es ist ihr bestimmt nichts passiert. Wir finden sie.«
»Und ob.«
Sie fuhren mehrere Minuten schweigend weiter, dann stieß Kate einen Schrei aus. »Da ist sie! Dort drüben.«
Greg warf das Lenkrad herum. Der Land Rover verließ den Weg und steuerte auf die Gestalt zu, die Schutz unter einem Baum gesucht hatte. Sie hatten bereits neben dem Baum angehalten, und Greg machte schon die Tür auf, als beide im gleichen Moment merkten, daß es nicht Allie war. Die Gestalt, die auf sie zu taumelte, war die eines Mannes. Kate erkannte ihn erstaunt.
»Bill!« Sie sprang von ihrem Sitz und lief um den Wagen herum. »Bill, was tust du hier?«
»Paß auf. Er ist verletzt.« Greg hielt sie am Arm fest, so daß sie stehenbleiben mußte. Im Licht der Scheinwerfer konnten sie beide den Strom von Blut sehen, der ihm über das Gesicht lief.
»Bill?« Kates Magen zog sich aus Angst zusammen. Sie legte die Hand auf Bills Arm. »Bill, bist du okay? Ich bin‘s, Kate.« Die Augen, die er auf sie richtete, waren völlig leer.
»Ich hole eine von den Decken.« Greg drehte sich um und rannte zurück zum Auto. Als er wiederkam, legte er Bill die warme Decke um die Schultern. »Kannst du gehen, alter Junge? Los, nur ein paar Schritte. Kate, mach die hintere Tür auf. Hilf mir, ihn reinzuheben. Mein Gott, was ist bloß mit ihm passiert?«
Kates Mund war trocken vor Angst. Sie half Greg, Bill auf den Rücksitz hochzuhieven. Er war groß, und seine Arme und Beine schienen nicht mehr aufeinander abgestimmt zu sein. Sie konnte spüren, wie er unter der dicken Decke zitterte. Sie kletterte neben ihm in den Wagen und tastete nach seiner Hand. Sie rieb sie sachte, entsetzt über die Kälte seiner Haut. »Ich glaube, wir sollten ihn ins Krankenhaus bringen, Greg«, murmelte sie.
Greg nickte. »Sobald wir Allie gefunden haben. Ist er gestürzt? Warte. Ich hole eine Taschenlampe und den ErsteHilfe-Kasten.«
Während er in einer Kiste zu ihren Füßen herumsuchte, schaute er in den Wald, der immer dunkler wurde. Kate starrte Bills Gesicht an. Dieser Ausdruck blanken Entsetzens; dieser starre Blick; die eiskalte Haut. Es war dasselbe wie bei Alison. Ganz genau dasselbe. Sie schaute hinüber zu Greg, der sich auf den engen Sitz ihnen gegenüber geschoben hatte. »Genau so hat Alison ausgesehen, als ich sie gefunden habe.« Sie spürte, wie ein leichter Schauder über Bills Rücken lief.
»Mein Gott!« Greg biß sich auf die Lippen. »Kommt ihr klar da hinten? Wir müssen unbedingt weiter und sie finden.«
»Wir kommen schon klar. Er ist nicht ganz so durchgefroren wie sie.« Trotzdem konnte sie seine Zähne klappern hören. Sie bückte sich, um den Erste-Hilfe-Kasten zu öffnen. Bei dem diffusen Licht konnte sie kaum etwas erkennen, aber schließlich fand sie ein Antiseptikum und Verbandsmaterial. Sie tupfte ihm so behutsam wie möglich das Blut von der Stirn. Als sie die Blutergüsse an seinem Haaransatz sah, zuckte sie zusammen. Er saß reglos da, schien nicht zu bemerken, was sie tat, obwohl er ein- oder zweimal zusammenzuckte, als sie ihn mit dem Tupfer berührte.
Sie hatte gerade mit Heftpflaster einen Verband auf seiner Stirn befestigt und tupfte etwas von dem Blut ab, das auf seine Wange getropft war, als er sie plötzlich mit ganzer Kraft packte. »Alison!« keuchte er.
»Hast du sie gesehen?« In Kates Magengrube breitete sich ein seltsam kaltes, unbehagliches Gefühl aus. Sie ließ ihre Hand in der seinen. Seine Finger waren stark, aber sie waren noch immer sehr kalt.
Bill schüttelte verwirrt den Kopf. Er legte die Hand an seine Schläfe und zog sie wieder weg, um auf seine Finger zu blicken, als erwarte er, Blut zu sehen. Den Verband schien er nicht zu bemerken. »Sie war es, sie hat mich geschlagen.«
Greg war auf den Fahrersitz geklettert. Er drehte sich um, den Ellbogen auf der Rückenlehne. »Alison hat dich geschlagen?«
»Ich habe versucht, sie aufzuhalten. Sie war nicht allein. Die Frau, die ich am Strand gesehen hatte, war bei ihr.« Kate sah, wie sich Bills Augen mit Tränen füllten. »Ich wollte, daß sie mit mir kommt«, fuhr er fort. Er lallte leicht. »Ich versuchte, sie aufzuhalten. Ich nahm ihren Arm, und dann ging sie auf mich los. Ihr Gesicht war -«, er wackelte mit dem Kopf, » œ es war wild wie das eines Tieres. Sie packte einen heruntergefallenen Ast. Dort drüben. Sie hob ihn hoch und knallte ihn mir auf den Kopf. Ich muß die Besinnung verloren haben. Sonst kann ich mich an nichts erinnern, bis ihr gekommen seid.«
»Du bildest dir da was ein. Allie würde sowas nie tun!« sagte Greg entsetzt.
Kate sah zu ihm auf. »Was für eine Frau war bei ihr, Bill?« fragte sie.
Er zuckte mit den Schultern. »Ich habe sie am Strand gesehen. Sie war groß. Schlank. Ich dachte, du bist es. Sie war fest eingehüllt, zum Schutz vor dem Wind. Ihre Haare waren lang, fielen ihr über die Schulter, alle ziemlich zerzaust. Sie war wütend. Ich konnte ihre Wut spüren.«
Gregs Augen sprangen von Bill zu Kate. Ihre Blicke trafen sich.
»Du fährst besser weiter, Greg«, sagte sie. Ihre Stimme war heiser geworden.
Er zögerte einen Augenblick lang. Dann nickte er. Er drehte sich um und griff zum Zündschlüssel.
Kate legte den Arm um Bills Schultern, als der Land Rover mit einem Ruck anfuhr, und sie fühlte, wie er neben ihr zitternd zusammensackte. So ruhig sie konnte, zog sie noch eine Decke aus dem Stapel, den Greg vor ihr auf den Boden geworfen hatte, und wickelte ihn darin ein. Dann tastete sie wieder nach seiner Hand und hielt sie fest.
Sie brauchten noch einmal zehn Minuten, bis sie zum Cottage kamen. Greg brachte den Land Rover auf dem Gras so zum Halten, daß das Licht der Scheinwerfer am Gebäude vorbei fiel, hinunter in Richtung Strand. Kate lehnte sich nach vorn und starrte über die Rückenlehne des Sitzes zur Windschutzscheibe hinaus. »Ich kann sie nirgendwo sehen.«
Greg langte nach der Taschenlampe und warf die Tür auf. »Du bleibst hier. Ich gehe hinunter zum Grab.«
»Das geht nicht.« Dann kam er nach hinten und machte ihr die Tür auf. Einen Moment lang blickte er Kate in die Augen. Er reichte ihr die Hand, um ihr herauszuhelfen. Sie spürte, wie er ihre Finger drückte. »Du mußt bei Bill bleiben. Bring ihn ins Cottage. Stell Wasser auf oder sowas. Es wird nicht lange dauern. Wir wissen ja, wo sie ist.«
»Sei vorsichtig, Greg.«
»Klar.« Einen Moment lang sah er sie an, dann beugte er sich vor und küßte sie schnell auf die Lippen.
Sie beobachtete, wie sich das Licht der Taschenlampe entfernte. Nach ein paar Augenblicken verschwand es. Der Land Rover machte kein Geräusch, bis auf das Ticken des Motors, der langsam abkühlte. Kate schluckte. Einen Moment lang blieb sie stehen. Bill regte sich nicht. Sie atmete tief durch und suchte in ihrer Jackentasche nach den Schlüsseln. Sie konnte ein schwaches Leuchten sehen, das aus dem Fenster rechts neben der Haustür kam, wo sie die Lampe angelassen hatte.
»Wo gehst du hin?« Bill erwachte mit einem Ruck, als sie zur Tür gehen wollte.
»Ich will nur das Cottage aufschließen. Da hast du‘s bequemer. Im Warmen. Glaubst du, daß du gehen kannst?«
»Wo ist Greg?« Er schien erst jetzt zu bemerken, daß Greg fort war.
»Er sucht Allie -«
»Er allein?« Die Furcht in Bills Stimme erzeugte bei ihr eine Gänsehaut.
»Ihm passiert nichts. Greg ist ein großer Kerl. Und er weiß, daß er vorsichtig sein muß.« Sie war erstaunt, wie beruhigend ihre Worte klangen. »Soll ich zuerst die Tür aufsperren? Dann komme ich zurück und hole dich.«
»Nein!« Bills Finger klammerten sich an ihr Handgelenk.
Zu ihrer Erleichterung war das Haus noch warm. Sie lehnte Bill an die Wand, machte im Erdgeschoß alle Lichter an und zog die Vorhänge zu. Dann sah sie ihn sich das erste Mal richtig an. Sein Gesicht war ein einziger blutroter Fleck. Auf dem Kopf hatte er Platzwunden, die sie im schwachen Licht der Taschenlampe nicht gesehen hatte. Sein Pullover und sein Anorak waren zerrissen und voller getrocknetem Blut. Sie bemühte sich, ein beruhigendes Lächeln aufzusetzen, und hoffte, daß er ihr Entsetzen nicht gesehen hatte, als sie das ganze Ausmaß seiner Verletzungen erblickte. »Bill, du mußt dich hinlegen.«
»Nein. Nein. Ich will einen Moment stehenbleiben.« Er schob sich von der Wand weg. »Können wir was Warmes trinken? Mir ist so kalt.«
»Natürlich.« Sie nahm ihn am Arm und setzte ihn auf den Hocker in der Küche, bevor sie nach dem Kessel griff. Die ganze Zeit über horchte sie angestrengt auf Geräusche draußen vor dem Haus. Sie hatte die Haustür abgesperrt und den Riegel vorgeschoben.
»Ich sollte versuchen, diese Wunden ein bißchen besser zu reinigen«, sagte sie, während sie nach zwei Bechern griff.
»Mach dir keine Mühe. Ich bin okay.« Unter den Prellungen nahm sein Gesicht langsam wieder eine normalere Färbung an. Seine Hände zitterten allerdings noch, als er den Becher nahm.
»Kannst du mir noch irgend etwas darüber sagen, Bill?« fragte sie leise, als sie ihm gegenüber saß. »Über die Frau. Hat sie gesprochen?«
Er schüttelte den Kopf. »Nicht ein Wort. Sie hat nur so im Hintergrund herumgestanden.«
»Herumgestanden?«
»Na ja, zugeschaut. Ihr Gesicht war teilnahmslos. Uninteressiert. Es schien sie nicht zu kümmern, was Allie tat.« Seine Stimme bebte wieder.
»Bill.« Kate beugte sich vor und berührte beruhigend seine Hand. »Allie ist nicht sie selbst. Sie hatte am Strand so eine Art Unfall.« Sie zögerte. »Ich glaube nicht, daß sie wußte, was sie tat. Was diese Frau angeht -« Sie biß sich auf die Lippe. »Weiß der Himmel, wer sie ist. œ Bill?« Sie bemerkte plötzlich, daß seine Aufmerksamkeit abgelenkt wurde. Er starrte auf den Vorhang vor dem Fenster, den Kopf leicht zur Seite geneigt.
»Hast du das gehört?« fragte er.
»Was?« Sie hielt den Atem an und horchte.
»Ich dachte, ich hätte was gehört œ einen Schrei. Keine Ahnung.« Er legte den Kopf in die Hände.
»Soll ich nachsehen?« Es gab nichts, was sie weniger tun wollte, als die Haustür zu öffnen. Aber Greg war dort draußen, allein.
Er schüttelte stumm den Kopf. »Du kannst ihm nicht helfen«, sagte er nach einer Weile. »Niemand kann das.«
»Was meinst du damit?« Sie starrte ihn an und erbleichte.
Er zuckte mit den Schultern. Plötzlich lachte er, aber sie sah, daß ihm eine Träne über die Wange lief. »Ich bin rübergekommen, um dich zum Abendessen einzuladen. Ich habe Wein gekauft, und drüben bei mir wartet ein Feinschmeckergericht aus dem Kaufhaus auf uns.«
Sie beugte sich vor und nahm seinen Becher, um ihn nachzufüllen. »Das ist ein wunderschöner Einfall. Ich freue mich schon darauf.«
»Das war einmal. Jetzt ist alles anders.«
Er redete wie ein Kind. Wehleidig, weil aus seinem Plan nichts geworden war. Sie sah ihn verängstigt an. Bill war stark, zuverlässig, immer da zum Anlehnen. Dieser zitternde, verstörte Mann war nicht der Bill, den sie kannte.
»Wir machen es morgen«, sagte sie und bemühte sich, heiter zu klingen. »Vielleicht zum Mittagessen. Das wäre schön.«
»Ja. Zum Mittagessen.« Seine Stimme wurde schwerfällig. Er drückte wieder die Hand an den Kopf. »Ich bin müde, Kate.«
»Warum legst du dich nicht hin? Ich bleibe bei dir und leiste dir Gesellschaft.« Sie stand auf und nahm seine Hand.
Er folgte ihr ins Wohnzimmer und legte sich folgsam auf das Sofa. Seine langen Beine hingen über. Sie deckte ihn zu und schob behutsam ein Kissen unter seinen Kopf. Es sah nicht besonders bequem aus, wie er so auf dem kleinen Möbelstück lag, aber er rollte sich zur Seite gedreht zusammen und machte die Augen zu, ohne ein Wort zu sagen. Sie setzte sich ihm gegenüber hin und sah ihn besorgt an. Er hatte sicher eine Gehirnerschütterung; vielleicht einen Schädelbruch. Und es gab nichts, was sie für ihn tun konnte. Er mußte unbedingt ins Krankenhaus.
Sie lehnte sich in ihrem Sessel zurück und blickte ins Feuer. Im Haus war alles ruhig. Sie horchte angestrengt auf die Geräusche von draußen. œ Nichts, bis auf das leise Kratzen des Rosenstrauchs am Fenster, das zum Meer hinausging. Wo war Greg? Warum dauerte es nur so lange?