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Al-Darkur klopfte um neun Uhr morgens an die Tür von Ryans und Dominics Wohnung. Die Amerikaner waren bereits aufgestanden und tranken Kaffee. Sie schenkten auch dem pakistanischen Major eine Tasse ein.

»Heute Nacht hat sich die Lage weiter verschlechtert«, erzählte al-Darkur. »Artilleriegeschosse aus Indien sind knapp östlich von Lahore in das Dorf Wahga eingeschlagen und haben dreißig Zivilisten getötet. Die pakistanische Armee hat das Feuer erwidert und nach Indien hinübergeschossen. Wir wissen nicht, welchen Schaden das dort drüben verursacht hat. Bei einem weiteren Artillerieangriff ein paar Kilometer weiter nördlich wurde eine Moschee beschädigt.«

Ryan legte den Kopf schief. »Irgendwie ist es seltsam, dass Rehan, der Typ, der den ganzen Konflikt schürt, ausgerechnet jetzt hier in der Gegend ist.«

»Wir können nicht ausschließen, dass er mit diesen Aktionen etwas zu tun hat«, sagte der Major. »Vielleicht hat er abtrünnige pakistanische Truppen dazu gebracht, auf ihr eigenes Land zu schießen, um eine entsprechende pakistanische Reaktion herauszufordern.«

»Und wie sieht jetzt unser Plan für heute aus?«, fragte Caruso.

»Wenn Rehan seine Wohnung verlässt, werden wir ihm folgen. Und wenn jemand Rehan in seiner Wohnung besucht, werden wir denen folgen.«

»Einfach genug«, meinte Dom.

Georgij Safronow saß allein in der Cafeteria im zweiten Stock des Kontrollzentrums und beendete gerade sein Frühstück: Kaffee, ein Teller aufgewärmte Kartoffelsuppe und eine Zigarette. Er war todmüde, aber er wusste, dass seine Energie bald zurückkehren würde. Er hatte den Großteil des Vormittags damit zugebracht, Telefoninterviews mit Nachrichtensendern von Al-Dschasira bis Radio Havanna zu führen und dabei der ganzen Welt vom Leiden des dagestanischen Volkes zu erzählen. Das alles war notwendig. Er musste dieses Ereignis dazu benutzen, seine Sache auf jede erdenkliche Weise zu fördern. Er hatte noch nie im Leben so hart gearbeitet wie in den letzten Monaten.

Beim Rauchen verfolgte er die Fernsehübertragungen auf dem Wandbildschirm. In den Nachrichten zeigten sie gerade russische Panzer, die im nördlichen Dagestan in der Nähe des Kaspischen Meers nach Norden rollten. Der Sprecher meldete, dass russische Regierungsverantwortliche leugneten, dass dies irgendetwas mit der Situation im Kosmodrom zu tun habe, aber Safronow wusste, dass dies wie ein Großteil der russischen Nachrichtensendungen eine glatte Lüge war.

Einige seiner Männer hatten in einem Büro im Erdgeschoss dieselbe Sendung verfolgt. Jetzt stürmten sie in die Cafeteria, um ihren Anführer zu umarmen. Ihm stiegen die Tränen in die Augen, als ihm die Emotionen dieser Männer wieder einmal seinen eigenen Stolz auf seine kleine, aber so starke Nation bewusst machten. Danach hatte er sich sein ganzes Leben gesehnt, lange bevor er überhaupt wusste, welches Gefühl ihn da erfüllte, zu welchem Ziel es ihn führte und welche ungeahnten Kräfte es in ihm freisetzen würde.

Es war das Bedürfnis, zu etwas Größerem zu gehören.

Heute war eindeutig der größte Tag in Georgij Safronows Leben.

Über Funk erfuhr er jetzt aus dem Kontrollraum, dass jemand Magomed Dagestani am Telefon sprechen wolle. Er nahm an, dass es sich um das lange erwartete Gespräch mit Kommandant Nabijew handelte, und eilte aus der Cafeteria. Er wollte unbedingt mit dem Gefangenen sprechen und seine Rückkehr vorbereiten. Er stieg die Treppe hinunter und betrat den Kontrollraum durch den Südeingang. Er setzte sein Headset auf und nahm den Anruf entgegen.

Es war das Krisenzentrum des Kremls. Wladimir Gamow, der Direktor der russischen Raumfahrtbehörde, war am Apparat. Georgij nahm an, dass seine eigenen familiären Beziehungen zu Gamow der einzige Grund waren, warum man den alten Schwafler mit ihm reden ließ. Als ob das einen Unterschied gemacht hätte. »Georgij?«

»Gamow, ich habe verlangt, mich mit einem anderen Namen anzureden.«

»Es tut mir leid, Magomed Dagestani. Ich kenne Sie halt seit den Siebzigerjahren als Georgij.«

»Dann wurden wir eben beide in die Irre geführt. Werden Sie mich jetzt mit Nabijew verbinden?«

»Einen Augenblick noch. Zuerst möchte ich Sie über den Stand der Truppenbewegungen im Kaukasus informieren. Ich möchte ganz deutlich sein. Wir haben mit dem Abzug begonnen, aber allein in Dagestan sind fünfzehntausend Soldaten stationiert. In Tschetschenien sind es doppelt so viele und in Inguschetien noch mehr. Viele haben gerade Urlaub oder Ausgang, viele führen gerade Patrouillenfahrten oder mehrtägige Manöver durch und befinden sich deshalb nicht in ihren Stützpunkten. Wir können sie nicht alle an einem einzigen Tag abziehen. Geben Sie uns noch einen Tag und eine Nacht, und wir werden Ihre Forderungen vollständig erfüllen.«

Safronow ließ sich auf nichts festlegen. »Ich werde mit meinen eigenen Quellen Kontakt aufnehmen, um sicherzugehen, dass dies kein Propagandatrick ist. Wenn Sie wirklich die Einheiten nach Norden bringen, werde ich die Frist vielleicht um einen Tag verlängern. Aber vorerst kann ich das nicht versprechen, Gamow. Und jetzt möchte ich mit Kommandant Nabijew sprechen.«

Georgij wurde durchgestellt und konnte jetzt endlich mit dem jungen militärischen Führer seiner Organisation reden. Nabijew erklärte, dass seine »Kidnapper« ihm mitgeteilt hätten, dass er noch an diesem Abend nach Baikonur geflogen werden würde.

Georgij weinte vor Glück.

Clark, Chavez und Gummesson verbrachten den ganzen Tag in dem geheizten Zelt auf dem Parkplatz des Hotels Sputnik. Sie gingen Schaubilder, Pläne, Fotos und andere Materialien durch, die ihnen bei der Vorbereitung des Angriffs auf das Kosmodrom helfen konnten.

Bis Mittag hatte Clark einige Ideen entwickelt, auf die die Speznaz bei ihrem Angriff nicht gekommen waren. Gegen fünfzehn Uhr verfügten Chavez und Clark über einen Angriffsplan, über den die Rainbow-Offiziere nur staunen konnten. In den letzten anderthalb Jahren waren sie gezwungen gewesen, eine gewisse Risikoscheu zu entwickeln. Sie machten alle eine kleine Pause. Danach legten die einzelnen Teams auf der Grundlage des Gesamtplans ihre jeweiligen Schritte fest, während Clark und Chavez die russischen Luftwaffenpiloten instruierten.

Um neunzehn Uhr legte sich Chavez auf einer Pritsche für neunzig Minuten aufs Ohr. Er war müde. Trotzdem stand er bereits total unter Strom, wenn er an den kommenden Abend dachte.

Man teilte Georgij Safronow mit, dass Israpil Nabijew gegen halb elf in einem Transporthubschrauber der russischen Luftwaffe eintreffen werde. Nachdem sich der dagestanische Raumfahrtunternehmer und Terrorist mit einigen der vierunddreißig übrig gebliebenen Terroristen beraten hatte, informierte er Gamow, wie genau die Übergabe ablaufen sollte. Er wollte vor allem sichergehen, dass ihm die Russen keinen üblen Streich spielen würden. Er bestimmte, dass der Hubschrauber mit Kommandant Nabijew auf der dem Kontrollzentrum entgegengesetzten Seite des Parkplatzes landen müsse. Danach solle Nabijew allein die siebzig Meter zum Vordereingang hinübergehen. Die ganze Zeit würde er von den starken Scheinwerfern auf dem Dach des Kontrollzentrums beleuchtet werden. Auf dem Dach und am Haupteingang würden Kämpfer mit Maschinenpistolen stehen und sicherstellen, dass kein anderer aus dem Hubschrauber ausstieg.

Gamow schrieb sich alles auf und beriet sich dann mit dem Krisenzentrum, das auf alle Forderungen Safronows einging. Eine Bedingung gab es jedoch. Sie forderten, dass alle ausländischen Geiseln in dem Augenblick das Kontrollzentrum verlassen durften, wenn Nabijew aus dem Hubschrauber stieg.

Safronow witterte eine Falle. »Direktor, bitte keine Tricks. Ich verlange, dass ständig Live-Videoaufnahmen aus dem Innern des Hubschraubers hierher in die Bodenkontrolle überspielt werden. Ich möchte mit Kommandant Nabijew während des gesamten Flugs in Funkkontakt stehen. Auf diese Weise würde ich es merken, wenn Sie den Hubschrauber mit Ihren Soldaten vollstopfen sollten.«

Gamow beriet sich eine Zeit lang mit seinem Krisenzentrum und kehrte dann zum Telefon zurück. Er willigte ein, dass man eine Audio/Video-Verbindung zu Nabijew einrichtete, sodass Safronow und seine Leute kontrollieren konnten, ob ihr Militärkommandant tatsächlich nur von der Hubschrauber-Crew und ein paar wenigen Sicherheitsleuten begleitet wurde.

Georgij legte zufrieden auf und unterrichtete seine Männer über die getroffene Vereinbarung.

Auf den Straßen von Lahore war um neun Uhr abends immer noch die Hölle los. Jack und Dominic saßen in einem Schnellrestaurant, das etwa fünfhundert Meter von der Moschee entfernt lag, in die Rehan und seine Begleitung gerade gegangen waren. Al-Darkur hatte einen seiner Männer in diese Moschee geschickt, um den General im Auge zu behalten. Er selbst hatte sich in eine in der Nähe liegende Polizeistation begeben, um sich dort ein paar Gewehre und Schutzwesten zu besorgen. Außerdem besuchte er einen Freund, dessen SSG-Einheit unweit von hier stationiert war. Er bat den Hauptmann, ihn bei einer Geheimdienstoperation in der Stadt mit ein paar Männern zu unterstützen. Der musste ihm jedoch mitteilen, dass man der SSG unerklärlicherweise befohlen hatte, ihren Stützpunkt nicht zu verlassen.

Ryan und Dom sahen sich im Fernseher in der Ecke des Lokals die Nachrichten an. Sie hofften auf Neuigkeiten über die Ereignisse in Kasachstan, aber im pakistanischen Lahore interessierte man sich offensichtlich im Moment nur für die lokalen Geschehnisse.

Sie hatten gerade ihr Brathähnchen aufgegessen und nippten noch an ihrer Cola, als eine donnernde Explosion die Straße draußen erschütterte. Die Glasfenster erzitterten, gingen jedoch nicht zu Bruch.

Die beiden Amerikaner rannten aus dem Lokal, um zu sehen, was passiert war. Als sie auf den Gehweg traten, warf sie eine weitere, nähere Explosion fast zu Boden.

Sie vermuteten, dass irgendwo zwei Bomben hochgegangen waren, aber dann hörten sie ein höllisches Geräusch, als ob man ein Blatt Papier direkt vor einem Mikrofon zerreißen würde, das an einen Verstärker angeschlossen war. Gleich darauf erfolgte eine dritte Explosion, noch lauter als die ersten beiden.

»Es kommt immer näher!«, rief Dominic, und die beiden Männer schlossen sich der Menge an, die in die andere Richtung rannten.

Erneut ertönte dieses Geräusch von zerreißendem Papier, und wieder gab es eine Explosion, diesmal nur einen Straßenblock weiter östlich, die die Menge jetzt in Richtung Süden rennen ließ.

Jack und Dom blieben stehen. »Lass uns irgendwo reingehen. Wir können hier sowieso nichts machen.« Sie liefen in ein Bankgebäude, um dort möglichst weit von den Fenstern entfernt die weiteren Geschehnisse abzuwarten. Es gab noch ein halbes Dutzend Explosionen, von denen einige so weit entfernt lagen, dass sie kaum noch hörbar waren. Jetzt erklang von überall her Sirenengeheul und in der Ferne das Geknatter von automatischen Waffen.

»Scheiße. Hat etwa gerade der Krieg angefangen?«, fragte Dom. Jack hielt es jedoch für eher wahrscheinlich, dass pakistanische Truppen in der Stadt allmählich die Nerven verloren.

»Wie al-Darkur sagte. Das könnten mit Rehan verbündete Artillerieeinheiten sein, die auf Befehl ihrer Anführer ihre Kanonen umgedreht haben und jetzt auf ihre Landsleute schießen.«

Dom schüttelte den Kopf. »Verdammte Bärte.«

Vor der Bank rasten Schützenpanzer der pakistanischen Streitkräfte vorbei. Jacks Telefon zwitscherte.

Es war al-Darkur. »Rehan ist unterwegs.«

Rehan verließ seine Wohnung in der Nähe der Sunehri-Moschee um einundzwanzig Uhr, mitten in der Rushhour einer Stadt, in der selbst zu anderen Zeiten die Straßen ständig verstopft waren. Neben den Berufstätigen, die von ihrer Arbeitsstelle nach Hause zurückkehrten, wollten viele Einwohner Lahore aus Angst vor einem drohenden Einmarsch der Inder verlassen. Dazu kam jetzt noch die immer größer werdende Zahl von Fahrzeugen und Panzern der pakistanischen Armee.

Ryan, Caruso, al-Darkur und zwei Untergebene des Majors hatten anfänglich Probleme, den General und seine Begleitung nicht aus den Augen zu verlieren. Als Rehan und sein kleines Team jedoch auf einen Parkplatz an der Canal Bank Road einbogen und sich dort mit drei weiteren Autos voller junger bärtiger Männer in Zivilkleidung trafen, konnte al-Darkurs SUV dieser Autokavalkade leichter folgen.

»In diesen Autos stecken bestimmt ein Dutzend Kerle. Mit Rehan und seiner Crew macht das mindestens sechzehn Mann«, sagte Ryan.

Der Major nickte. »Diese Neuankömmlinge machen nicht den Eindruck, als gehörten sie zur pakistanischen Armee oder zum ISI. Das sind LeT-Männer, darauf würde ich schwören.«

Ryan kamen jetzt leichte Bedenken. »Mohammed, wenn wir es hier vielleicht bald mit sechzehn Kerlen zu tun haben, hätte ich gerne etwas mehr Feuerkraft.«

»Dafür sorge ich schon, keine Angst.« Der Major griff nach seinem Handy.