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Die Büros der Kosmos-Raumfahrtgesellschaft in Moskau lagen in der Sergej-Makejew-Straße im Viertel Krasnaja Presnja in einem modernen Stahl-Glas-Gebäude, das den Wagankowoer Friedhof aus dem 18. Jahrhundert überragte. Hier arbeitete Georgij Safronow inzwischen fast rund um die Uhr, um den Start der drei Dnjepr-1-Raketen im nächsten Monat vorzubereiten.
Alexander Werbow, der für Startoperationen zuständige Direktor der KSFC, war ein umgänglicher, stämmiger Mann. Er war ein paar Jahre älter als Georgij, loyal und äußerst tüchtig. Die beiden Männer waren bereits seit den Achtzigerjahren Freunde. Normalerweise befasste sich Werbow mit den aktuellen Vorbereitungen solcher Startoperationen, ohne dass sich der Präsident des Unternehmens in die Einzelheiten dieses komplizierten Prozesses einmischte. Dieses Mal hatte Georgij jedoch die Verantwortung fast vollständig an sich gezogen. Alexander wusste, wie sehr dieser Dreifach-Start Georgij am Herzen lag, und er wusste auch, dass Safronow sämtliche technischen Kenntnisse besaß, die für ein solches Unternehmen nötig waren. Immerhin hatte Georgij selbst die entsprechende Direktorenstelle bekleidet, als Werbow erst leitender Ingenieur war.
Wenn Georgij in diesem Fall auf den Startknopf drücken wollte, oder wenn er vielleicht sogar in Schnee und Eis persönlich überwachen wollte, wie die Nutzlastmodule auf die Trägerraketen montiert wurden, hatte Alex Werbow bestimmt nichts dagegen. Ein Aspekt des Interesses seines Chefs wurde ihm allerdings allmählich etwas verdächtig.
Die beiden Männer trafen sich täglich in Georgijs Büro. Hier hatten sie fast jede Einzelheit der Startoperationen besprochen, seit Safronow aus dem Urlaub zurückgekehrt war. Werbow hatte seinen Chef wiederholt auf dessen schlanke Linie angesprochen, die dieser von seinem dreieinhalbwöchigen Aufenthalt auf einer Gästeranch in den Vereinigten Staaten mitgebracht hatte. Georgij sah auch körperlich viel fitter aus, obwohl seine Arme und Hände voller alter Kratzer und Prellungen waren. Das Einfangen von Rindern mit dem Lasso sei wirklich eine unglaublich harte Arbeit, hatte sein Chef ihm anvertraut.
Werbow hatte Safronow gefragt, ob er ihm nicht ein Foto von sich mit einem Stetson-Hut und Chaps zeigen könne, aber Georgij war nicht darauf eingegangen.
An diesem Tag saßen sie beide wieder einmal an Georgijs Schreibtisch und tranken Tee. Vor ihnen standen ihre geöffneten Laptops, und sie gingen einzeln und zusammen mehrere Aspekte der bevorstehenden Starts durch.
»Georgij Michailowitsch«, sagte Alexander, »ich habe jetzt die letzte Bestätigung bekommen, dass die Radar-Verfolgungsstationen an den entsprechenden Terminen funktionsbereit sein werden. Zwei Starts auf einer südlichen und einer auf einer nördlichen Bahn.«
Georgij blickte nicht von seinem Laptop auf. »Sehr gut.«
»Wir haben auch den endgültigen elektrischen Verbindungsschaltplan bekommen, sodass es eigentlich keine Probleme mit dem Interface des amerikanischen Satelliten mehr geben dürfte.«
»Okay.«
Alex neigte den Kopf zur Seite. Er zögerte eine halbe Minute, dann sagte er: »Ich muss Ihnen eine Frage stellen.«
»Nur zu.«
»Die Wahrheit ist, Georgij … Nun, ich bekomme da allmählich einen Verdacht.«
Georgij Safronow schaute den schweren Mann auf der anderen Seite des Schreibtischs scharf an. »Einen Verdacht?«
Werbow rückte unbehaglich auf seinem Stuhl hin und her. »Es ist nur, dass … Sie scheinen sich viel weniger für die Nutzlast, die Satelliten und ihren Orbit, zu interessieren als für den Startvorgang selbst. Habe ich damit recht?«
Safronow klappte seinen Laptop zu und beugte sich nach vorne. »Wie kommen Sie darauf?«
»Es scheint mir eben so zu sein. Sind Sie über irgendetwas bezüglich unserer Trägerraketen besorgt?«
»Nein, Alex Petrowitsch. Natürlich nicht. Worauf wollen Sie hinaus?«
»Ganz ehrlich, mein lieber Freund, hatte ich irgendwie den Verdacht, dass Sie in letzter Zeit mit meiner Arbeit nicht mehr ganz zufrieden sind, und zwar vor allem, was die Trägerraketen angeht.«
Georgij entspannte sich etwas. »Ich bin mit Ihrer Arbeit sehr zufrieden. Sie sind der beste Startdirektor in unserer Branche. Ich preise mich glücklich, dass Sie hier mit mir am Dnjepr-System arbeiten und sich nicht für die Proton-oder Sojus-Raketen entschieden haben.«
»Vielen Dank. Aber warum sind Sie dann dieses Mal an dem tatsächlichen Raumflug so wenig interessiert?«
Safronow lächelte. »Ich gestehe, ich wusste, dass dies alles bei Ihnen in besten Händen ist. Ich beschäftige mich einfach lieber mit dem Start. Dessen Technik ist in den letzten fünfzehn Jahren praktisch gleich geblieben. Dagegen haben sich die Satelliten, Kommunikationseinrichtungen und Flugverfolgungssysteme sehr verändert, seitdem ich Ihre jetzige Position innehatte. Ich habe mich da wohl nicht genug auf dem Laufenden gehalten. Ich fürchte, ich würde auf diesem Gebiet einen schlechteren Job machen als Sie. Meine Faulheit würde vielleicht zu mangelhaften Resultaten führen.«
Alex ließ einen tiefen Seufzer der Erleichterung hören und brach in dröhnendes Gelächter aus. »Ich hatte mir schon Sorgen gemacht, Georgij. Natürlich könnten Sie mit diesen neuen Techniken umgehen! Wahrscheinlich besser als ich. Wenn Sie möchten, könnte ich Ihnen einige neue …«
Alex beobachtete, wie Safronow seinen Laptop wieder aufklappte. Sekunden später war er wieder an der Arbeit. Während er auf seine Tastatur einhämmerte, sagte er: »Ich überlasse Ihnen diesen Teil unserer Arbeit gern und konzentriere mich auf das, was ich am besten kann. Vielleicht können Sie mir nach dem Dreifachstart etwas Nachhilfe erteilen.«
Werbow nickte. Er war froh, dass sich sein Verdacht als falsch erwiesen hatte. Sekunden später machte er sich selbst wieder an die Arbeit und dachte über die ganze Angelegenheit nicht länger nach.