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Die fünfundzwanzigjährige Melanie Kraft erlebte gerade eine außergewöhnlich schlechte Woche. Die Sachbearbeiterin hatte erst vor zwei Jahren ihr Studium an der American University in Washington mit einem Bachelor im Fach »Internationale Studien« und einem Master in amerikanischer Außenpolitik abgeschlossen. Zusammen mit der Tatsache, dass sie in ihrer Teenagerzeit als Tochter eines Air-Force-Attachés fünf Jahre in Kairo gelebt hatte, machte sie das zu einer geeigneten Kandidatin für einen Job bei der CIA. Dort arbeitete sie im Direktorat für Nachrichtenbeschaffung in der Abteilung für Analysen über den Nahen und Mittleren Osten und Nordafrika, wo sie vor allem als Ägyptenspezialistin galt. Ms. Kraft war hochintelligent und ehrgeizig. Deshalb widmete sie sich über ihre Alltagspflichten hinaus gelegentlich anderen, weiterführenden Projekten. Aber genau diese Bereitschaft, sich mit übergreifenden Dingen zu befassen, drohte jetzt eine Karriere zu beenden, die erst vor zwei Jahren begonnen hatte.
Melanie war es gewohnt zu gewinnen. In den Sprachkursen in Ägypten, als Star ihrer Highschool-Fußballmannschaft und während ihres Grundstudiums stand sie ständig in der ersten Reihe und hatte immer exzellente Noten. Ihr Fleiß und ihre harte Arbeit verschafften ihr die Anerkennung der Professoren und danach ausgezeichnete Beurteilungen bei der CIA. Ihr gesamter Erfolg hatte jedoch heute vor einer Woche schlagartig ein vorläufiges Ende genommen, als sie ihrem Vorgesetzten eine wissenschaftliche Abhandlung vorlegte, die sie in ihrer Freizeit verfasst hatte. Der Titel lautete: »Eine Einschätzung der politischen Rhetorik der Muslimbruderschaft im Englischen und in Masri«. Sie hatte dazu neben den englischsprachigen alle in ägyptischem Arabisch (Masri) verfassten Websites durchkämmt, um den wachsenden Widerspruch zwischen den öffentlichen Beziehungen der Muslimbrüder mit dem Westen und ihrer heimischen Rhetorik aufzuzeigen. Es war ein brisantes Dokument, dessen Ergebnisse jedoch gut durch Quellenangaben abgesichert waren. Sie hatte monatelang ihre Abende und Wochenenden damit verbracht, falsche Profile arabischer Männer zu kreieren und zu benutzen, um Zugang zu den passwortgeschützten islamistischen Internetforen zu bekommen. Sie hatte in diesen virtuellen »Cyber-Cafés« das Vertrauen zahlreicher Ägypter gewonnen, die mit ihr die Ansprachen der Muslimbrüder in den Koranschulen in ganz Ägypten diskutierten und ihr sogar erzählten, dass Abgesandte der Muslimbruderschaft in andere Länder der islamischen Welt reisten, um sich dort mit bekannten Radikalen auszutauschen.
Dies alles kontrastierte sie dann mit der netten, liebenswürdigen Fassade, die die Bruderschaft gegenüber dem Westen aufgerichtet hatte.
Nachdem sie ihre Abhandlung beendet hatte, wollte sie sie ihrem Supervisor übergeben. Dieser schickte sie jedoch damit weiter zur Abteilungsleiterin Phyllis Stark. Phyllis las den Titel, nickte kurz und warf das Paper auf ihren Schreibtisch.
Dies war für Melanie eine große Enttäuschung. Sie hatte zumindest ein wenig Begeisterung vonseiten ihrer Chefin erwartet. Als sie zu ihrem eigenen Schreibtisch zurückkehrte, hoffte sie, dass ihre mit viel Zeit und Fleiß erstellte Arbeit wenigstens nach oben weitergeleitet werden würde.
Zwei Tage später wurde ihr dieser Wunsch erfüllt. Mrs. Stark hatte die Arbeit weitergereicht, jemand hatte sie gelesen, und jetzt bestellte man Melanie Kraft in einen Konferenzraum im dritten Stock. Dort erwarteten sie ihr Supervisor, ihre Abteilungsleiterin und ein paar Anzugträger aus dem sechsten Stock, die ihr unbekannt waren.
Von Anfang an war klar, worum es bei diesem Treffen ging. Der Gesichtsausdruck und die Körpersprache der Männer am Konferenztisch zeigten Melanie, noch bevor sie sich hinsetzte, dass sie in Schwierigkeiten war.
»Miss Kraft, was wollten Sie mit dieser besonderen Form von Schwarzarbeit erreichen? Was haben Sie damit bezweckt?«, fragte sie ein Mann aus dem sechsten Stock namens Petit, der seinen Job seinen politischen Verbindungen verdankte.
»Bezweckt?«
»Versuchen Sie mit Ihrer kleinen Seminararbeit, sich hier für eine bessere Stellung ins Gespräch zu bringen, oder wollten Sie sie nur herumreichen, damit Sie sich, wenn Ryan die Wahl gewinnt und seine eigenen Leute hier hereinbringt, gleich richtig positionieren und Pluspunkte sammeln können?«
»Nein.« Auf so etwas wäre sie nie gekommen. Normalerweise hatte ein Regierungswechsel auf jemand wie sie überhaupt keine Auswirkungen. »Ich habe nur unsere Texte über die Bruderschaft gelesen und dachte, ich könnte einige abweichende Daten zusammentragen. Es gibt Informationen aus frei verfügbaren offenen Quellen, die ich auch in allen Fällen in meinen Anmerkungen kenntlich gemacht habe und die auf eine negativere …«
»Miss Kraft. Wir sind hier nicht auf der Uni. Ich werde Ihre Fußnoten nicht durchsehen.«
Melanie gab darauf keine Antwort, machte sich allerdings auch nicht länger die Mühe, ihre Arbeit zu verteidigen.
»Sie haben Ihre Grenzen überschritten, und dies zu einer Zeit, in der dieser Dienst aufs Äußerste polarisiert ist«, fuhr Petit fort.
Kraft glaubte nicht, dass es in der CIA solche Gegensätze gab. Wenn überhaupt, beschränkte sich diese Polarisierung auf den sechsten Stock, wo die Graubärte, die wahrscheinlich bei einer Niederlage von Kealty ihren Job verlieren würden, mit den Graubärten in Konflikt standen, die bei einem Wahlsieg Ryans in eine bessere Position aufrücken würden. Diese Welt hatte mit ihrer eigenen kaum etwas zu tun. Sie hätte eigentlich erwartet, dass Petit das genauso sah.
»Sir, es war nicht meine Absicht, hier in diesem Gebäude Unruhe zu stiften. Ich konzentrierte mich nur auf die Verhältnisse in Ägypten und die Informationen, die …«
»Haben Sie an diesem Paper gearbeitet, während Sie eigentlich Ihre täglichen Berichte erstellen sollten?«
»Nein. Ich habe es nur zu Hause verfasst.«
»Wir könnten eine Untersuchung eröffnen, ob Sie dabei irgendwelches vertrauliches oder geheimes Material verwendet haben …«
»Sämtliche Informationen in dieser Abhandlung stammen aus frei verfügbaren Quellen. Meine fiktiven Internet-Identitäten beruhten nicht auf tatsächlichen CIA-Legenden. Ehrlich gesagt, hätte ich mit den Nachrichten, die täglich auf meinem Schreibtisch landen, dieses Paper gar nicht erarbeiten können.«
»Sie sind der festen Ansicht, dass die Muslimbruderschaft nur eine Bande von Terroristen ist.«
»Nein, Sir. Das ist nicht das Fazit meiner Untersuchung. Das Ergebnis lautet vielmehr, dass deren Rhetorik in der englischsprachigen Welt im Gegensatz zu den Verlautbarungen steht, die dieselbe Organisation auf Masri herausgibt. Ich glaube nur, dass wir einige dieser Websites aufmerksamer verfolgen sollten.«
»Tun Sie das?«
»Ja, Sir.«
»Und Sie glauben, wir sollten das tun, weil es hier irgendwelche tragfähigen Befunde gab, oder glauben Sie, wir sollten das tun, weil … weil Sie einfach der Ansicht sind, das wir das tun sollten?«
Sie wusste nicht, was sie darauf antworten sollte.
»Junge Dame, die CIA ist keine Politik gestaltende Organisation.«
Melanie wusste das. Diese Abhandlung sollte jedoch nicht die US-amerikanische Außenpolitik gegenüber Ägypten in eine bestimmte Richtung steuern, sondern der offiziellen Sicht eine abweichende Meinung entgegensetzen.
»Ihr Job ist es, die Informationsprodukte zu liefern, die man Ihnen aufgetragen hat«, fuhr Petit fort. »Sie sind kein Mitglied des für die geheime Informationsgewinnung verantwortlichen Clandestine Service. Sie haben Ihre Kompetenzen überschritten, und das auf eine höchst verdächtige Weise.«
»Verdächtig?«
Petit zuckte die Achseln. Er war Politiker, und als solcher nahm er an, dass jeder andere über politische Machenschaften genauso dachte wie er. »Ryan führt in den Umfragen. Melanie Kraft führt – zugegebenermaßen in ihrer Freizeit – ihre eigene verdeckte Operation durch und kommt dabei zu Ergebnissen, die ganz zufällig die Ryan-Doktrin stützen.«
»Ich … ich weiß nicht einmal, was die Ryan-Doktrin ist. Ich interessiere mich nicht für …«
»Vielen Dank, Miss Kraft. Das ist alles.«
Sie kehrte völlig gedemütigt in ihr Büro zurück, war aber immer noch zu verwirrt und wütend, um zu weinen. Das tat sie erst abends in ihrem kleinen Apartment in Alexandria. Dort fragte sie sich auch zum ersten Mal, wie sie auf die Idee kommen konnte, dieses Paper zu verfassen.
Selbst auf ihrer niedrigen Hierarchiestufe und mit ihrem beschränkten Blick auf das große Ganze erkannte sie, dass die CIA-Leute, die ihre Position der Politik zu verdanken hatten, die nachrichtendienstlichen Berichte und Analysen auf eine Weise gestalteten, dass sie den Wünschen des Weißen Hauses entsprachen. War ihr Paper vielleicht doch ihr eigener, kleiner, störrischer Versuch, sich gegen diese Tendenz zu stemmen? Als sie in dieser Nacht über das Treffen im dritten Stock nachdachte, gab sie zu, dass dies wahrscheinlich der Fall war.
Melanies Vater war Oberst in der Armee und hatte ihr ein starkes Pflicht-und Persönlichkeitsgefühl eingeimpft. Schon früh verschlang sie die Biografien großer Männer und Frauen, meist solcher, die im Militär oder der Regierung tätig gewesen waren. Durch diese Lektüre erkannte sie, dass niemand zu außergewöhnlicher Größe aufstieg, nur weil er ein »guter Soldat« war. Nein, die wenigen Männer und Frauen, die sich von Zeit zu Zeit, und nur wenn es nötig war, gegen das Establishment stellten, hatten letzten Endes Amerika groß gemacht.
Melanie Kraft hatte bisher nur den einzigen Ehrgeiz gehabt, aus der breiten Masse als Gewinnerin hervorzustechen. Jetzt lernte sie, wozu ein solches Hervorstechen führen konnte. Herausstehende Nägel wurden nicht selten wieder reingehämmert.
Sie saß in ihrer Großraumbüro-Box, nippte an einem Eiskaffee und schaute auf ihren Bildschirm. Ihr Supervisor hatte ihr am Tag zuvor mitgeteilt, dass ihre Untersuchung aus dem Verkehr gezogen worden war, nachdem sie Petit und andere im sechsten Stock in der Luft zerrissen hatten. Phyllis Stark hatte ihr kurz darauf wütend erzählt, dass der stellvertretende Direktor der CIA Charles Alden höchstpersönlich ein Viertel des Papers gelesen hatte, bevor er es in den Papierkorb warf und fragte, warum zum Teufel die Frau, die es verfasst hatte, immer noch für die Agency tätig war. Ihren Freunden in der Abteilung für Analysen über den Nahen und Mittleren Osten und Nordafrika tat sie zwar leid, aber sie wollten natürlich keinesfalls ihre Karriere für sie aufs Spiel setzen. Tatsächlich betrachteten sie das Ganze als den Versuch ihrer Kollegin, sie auf der Karriereleiter zu überholen, indem sie in ihrer freien Zeit eigene Nachforschungen anstellte. Sie wurde zum Büro-Paria, der von allen geschnitten wurde.
Mittlerweile dachte sie daran zu kündigen. Vielleicht fand sie einen Job irgendwo in der Verkaufsbranche, der ihr etwas mehr einbrachte als ihr gegenwärtiges mäßiges Regierungsgehalt. Aber sollte sie wirklich eine Organisation verlassen, die sie liebte, nur weil diese Zuneigung im Moment nicht erwidert wurde?
Melanies Telefon klingelte, es handelte sich um eine externe Nummer. Sie stellte ihren Eiskaffee auf den Tisch und nahm den Hörer ab. »Melanie Kraft.«
»Hi, Melanie. Hier ist Mary Pat Foley vom NCTC. Rufe ich zu einem ungelegenen Zeitpunkt an?«
Melanie schüttete beinahe den Rest ihres Kaffees über ihre Computertastatur. Mary Pat Foley war in der amerikanischen Geheimdienstgemeinschaft eine Legende. Sie genoss einen überragenden Ruf, und es war unmöglich, den Einfluss zu überschätzen, den sie aufgrund ihrer Karriere auf die US-Außenpolitik und auf die Akzeptanz der Frauen bei der CIA gehabt hatte.
Melanie hatte Mrs. Foley noch nie persönlich getroffen, obwohl sie seit ihren Studientagen an der American University mehr als ein Dutzend Mal Vorträge von ihr gehört hatte. Erst neulich hatte Melanie an einem Seminar teilgenommen, in dem Mary Pat CIA-Analysten die Arbeit ihres National Counterterrorism Center geschildert hatte.
Melanie stotterte verwirrt: »Ja, Ma’am …«
»Ich rufe also zu einem ungelegenen Zeitpunkt an?«
»Nein, nein, Entschuldigung. Ihr Anruf kommt keineswegs ungelegen.« Der jungen Analystin gelang es, ihrer Stimme trotz ihrer Emotionen einen professionellen Ausdruck zu verleihen. »Was kann ich für Sie tun, Mrs. Foley?«
»Ich wollte Sie einfach mal anrufen. Ich habe Ihre Abhandlung gelesen.«
»Oh.«
»Sehr interessant.«
»Danke … Wieso?«
»Was für eine Reaktion haben Sie von den Graubärten im sechsten Stock bekommen?«
»Nun«, sagte Melanie und suchte verzweifelt nach den richtigen Worten. »Ehrlicherweise muss ich zugeben, dass ich eine gewisse Ablehnung erfahren habe.«
Mary Pat wiederholte das Wort ganz langsam: »Ablehnung.«
»Jawohl, Ma’am. Ich hatte zwar eine gewisse Zurückhaltung von diesen Leuten erwartet …«
»Kann ich das so auffassen, dass man Ihnen einen Tritt in den Arsch versetzt hat?«
Melanie Krafts Mund stand einen Moment lang weit offen. Schließlich schloss sie ihn wieder und war dabei so verlegen, als ob Mrs. Foley neben ihr in ihrer Großraum-Box gesessen hätte. Schließlich stammelte sie eine Antwort. »Ich … Ich würde sagen, mein Paper hat mir eine saftige Abreibung eingebracht.«
Es gab eine kurze Pause. »Also, Ms. Kraft, ich meinerseits fand Ihre Studie wirklich brillant.«
Ein Augenblick herrschte Stille. Dann kam ein überraschtes »Danke«.
»Ich habe ein Team beauftragt, Ihren Bericht, Ihre Folgerungen und Ihre Zitate durchzuarbeiten und nach Informationen zu suchen, die für unsere Arbeit hier relevant sind. Tatsächlich habe ich sogar vor, die Studie zur Pflichtlektüre für meine Mitarbeiter zu machen. Über den Bezug zu Ägypten hinaus zeigt sie, dass ein Problem in ganz neuem Licht erscheint, wenn man es aus einem anderen Blickwinkel betrachtet. Ich versuche, dies meinen Leuten hier immer wieder nahezubringen, deshalb kommen mir solche konkreten Beispiele aus der Praxis sehr gelegen.«
»Ich fühle mich geehrt.«
»Phyllis Stark kann von Glück sagen, dass Sie für sie arbeiten.«
»Danke.« Melanie wurde gerade bewusst, dass sie sich nur ein ums andere Mal bedankte. Sie konzentrierte sich so sehr darauf, nichts zu sagen, was sie später bereuen würde, dass sie nichts anderes herausbrachte.
»Wenn Sie je daran denken sollten, sich beruflich zu verändern, kommen Sie einfach mal zu einem Gespräch vorbei. Wir sind immer auf der Suche nach Analysten, die nicht davor zurückschrecken, durch das Aufzeigen nackter, harter Tatsachen die Pferde scheu zu machen.«
Plötzlich fand Melanie Kraft ihre Sprache wieder. »Hätten Sie in dieser Woche irgendwann Zeit für mich?«
Mary Pat lachte. »O Gott. Ist es so schlimm?«
»Alle tun so, als ob ich Aussatz hätte, obwohl ich in diesem Fall wohl wenigstens ein paar Genesungswünsche bekommen würde.«
»Verdammt. Kealtys Leute bei Ihnen sind wirklich eine einzige Katastrophe.«
Melanie Kraft gab keine Antwort. Sie hätte Foleys Bemerkung eine volle Stunde lang untermauern können, aber sie hielt lieber den Mund. Das wäre unprofessionell gewesen. Außerdem wollte sie sich auf keine politischen Bemerkungen einlassen.
»Okay«, fuhr Mary Pat fort. »Ich möchte mich wirklich mit Ihnen treffen. Sie wissen, wo wir sind?«
»Ja, Ma’am.«
»Rufen Sie meine Sekretärin an. Diese Woche bin ich ziemlich ausgebucht, aber Anfang nächster Woche könnten Sie einmal vorbeikommen, um mit mir zu essen.«
»Vielen Dank« war wieder alles, was Melanie herausbrachte. Sie legte auf.
Zum ersten Mal seit einer Woche wollte sie weder heulen noch mit der Faust gegen eine Wand schlagen.