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Gerry Hendley lebte allein. Seit seine Frau und Kinder bei einem Autounfall ums Leben gekommen waren, kannte er nur noch seine Arbeit. Eine Zeit lang wirkte er noch als Senator, dann verließ er die Politik, um an die Spitze des eigentümlichsten privaten Geheimdienstes der Welt zu treten.

Seine offizielle und inoffizielle Arbeit für Hendley Associates bescherte ihm regelmäßige Sechzigstundenwochen. Selbst zu Hause beobachtete er auf FBN und Bloomberg die überseeischen Finanzmärkte, um die »weiße« Seite seiner Arbeit immer im Griff zu haben, und las Zeitschriften wie Global Security, Foreign Affairs, Jane’s oder The Economist, um über alles auf dem Laufenden zu bleiben, was die »schwarzen«, geheimen Operationen seiner Firma betraf.

Gerry hatte Schlafschwierigkeiten, was bei dem immensen Druck seiner beruflichen Verantwortung, aber auch den Verlusten, die er in seinem Leben hatte erleiden müssen, nur zu verständlich war. Am schlimmsten litt er natürlich unter dem Verlust seiner Familie, aber auch Brian Carusos Tod im vergangenen Jahr und die gegenwärtige Situation mit John Clark forderten von Hendley ihren ganz persönlichen Tribut.

Gerade weil der Schlaf für Hendley ein solch rares und wertvolles Gut war, wurde er jetzt regelrecht wütend, als mitten in der Nacht das Telefon klingelte. Gleich darauf dachte er mit Sorge daran, welche Nachrichten ihn wohl zu dieser nachtschlafenden Zeit erwarteten.

Er schaute auf die Uhr. Es war 3.20 Uhr.

»Ja?« Seinem Ton war sein Ärger und seine schlechte Laune anzumerken.

»Guten Morgen, Sir. Hier ist Nigel Embling. Ich rufe aus Pakistan an.«

»Guten Morgen.«

»Ich fürchte, es gibt ein Problem.«

»Ich höre.« Hendley setzte sich im Bett auf. Jetzt war der Ärger endgültig verschwunden und hatte der Angst Platz gemacht.

»Ich habe gerade erfahren, dass Ihr Mann Sam Driscoll in der Nähe von Miran Shah vermisst wird.«

Jetzt stand Gerry auf und eilte in sein Büro zu seinem Schreibtisch und seinem Computer.

»Die Einheit der pakistanischen Armee, bei der er sich gerade aufhielt, wurde vor einigen Tagen von Kämpfern des Haqqani-Netzwerks angegriffen. Man hat mir erzählt, dass es auf beiden Seiten schwere Verluste gab. Sam und ein paar andere wollten in einem Lastwagen entkommen. Meine Kontaktperson, Major al-Darkur, saß im Führerhaus, und Ihr Mann war auf der Ladefläche. Möglicherweise fiel er während dieser Flucht vom Lastwagen.«

Auf den ersten Blick klang das für Gerry Hendley wie totaler Schwachsinn. Er fragte sich, ob dieser ISI-Offizier, den Embling für verlässlich erklärt hatte, nicht ein doppeltes Spiel spielte und seinen Mann vor Ort in eine Falle gelockt hatte. Er verfügte allerdings nicht über genügend Informationen, als dass er dies wirklich beurteilen könnte. Außerdem brauchte er Emblings Hilfe gegenwärtig mehr denn je und wollte ihn deshalb auch nicht durch irgendwelche Vorwürfe verärgern.

Er war lange genug Senator gewesen, um zu wissen, wie man mit doppelter Zunge sprach.

»Ich verstehe. Weiß man denn schon, ob er tot ist oder noch lebt?«

»Der Major kehrte mit drei Hubschraubern voller Soldaten zu dem Ort des Gefechts zurück. Die Haqqani-Leute hatten ihre Gefallenen einfach dort liegen lassen, und einige Männer al-Darkurs wurden tot aufgefunden, aber Sams Leichnam war nicht darunter. Der Major glaubt, er sei in Gefangenschaft geraten.«

Hendley knirschte mit den Zähnen. Der Tod im Kampf wäre für Driscoll wahrscheinlich besser gewesen als alles, was die Taliban mit ihm vorhatten. »Was kann ich Ihrer Meinung nach von hier aus tun?«

Embling zögerte etwas, dann sagte er: »Ich weiß sehr wohl, wie das aussieht. Es wirkt so, als ob der Major uns hintergangen hätte. Aber ich bin jetzt lange genug in diesem Job, um zu merken, wenn jemand ein falsches Spiel mit mir spielt. Ich vertraue diesem jungen Mann. Er hat mir versprochen, alles zu unternehmen, um Driscolls Aufenthaltsort zu finden, und er hat mir versprochen, mich mehrmals am Tag über alle neuen Entwicklungen zu unterrichten. Ich würde gerne diese Informationen sofort an Sie weitergeben. Vielleicht finden wir eine Lösung, wenn wir alle drei zusammenarbeiten.«

Gerry wusste, dass es keine Alternative gab. Trotzdem sagte er: »Ich möchte, dass meine Männer sich mit diesem Major treffen.«

»Ich verstehe«, erwiderte Embling.

»Sie sind im Moment in Dubai.«

»Dann werden wir beide dorthin fliegen. Bis wir herausfinden, weshalb diese Operation in Miran Shah gescheitert ist, halte ich es für keine gute Idee, jemand anderen dorthin zu schicken.«

»Da stimme ich Ihnen zu. Sie treffen Ihre Vorkehrungen, und ich informiere meine Männer.«

Hendley legte auf und rief Sam Granger an. »Sam? Gerry. Wir haben einen weiteren Agenten verloren. Ich möchte in einer Stunde alle Abteilungsleiter in meinem Büro sehen.«

Riaz Rehans zweiter Angriff auf Indien fand zwei Wochen nach dem ersten statt.

So blutig sein erster Anschlag in Bangalore gewesen war, konnte er doch leicht und schnell auf eine Lashkar-e-Taiba-Zelle zurückgeführt werden. Obwohl die LeT zweifellos eine pakistanische Terrororganisation war, von der alle wussten, dass sie auf die eine oder andere Weise von den »Bärten« im pakistanischen ISI unterstützt wurde, galten die Anschläge in Bangalore nicht notwendigerweise als »große internationale Verschwörung«.

Genau das entsprach jedoch Rehans sorgfältigem Plan. Er wollte die ganze Sache mit einem gewichtigen Ereignis beginnen, das jedermann die Augen öffnete, aber die Aufmerksamkeit nicht zu sehr auf seine eigene Organisation lenkte. Es hatte funktioniert, es hatte vielleicht sogar zu gut funktioniert, aber Rehan hatte noch keine negativen Auswirkungen der hohen Opferzahlen bemerken können. So hatte es etwa keine Massenverhaftungen von LeT-Kämpfern gegeben.

Nein, alles lief genau nach Plan. Jetzt war es Zeit, mit der zweiten Phase dieses Plans zu beginnen.

Die Angreifer kamen zu Wasser, zu Lande und auf dem Luftweg. Vier Lashkar-Kämpfer mit gefälschten indischen Pässen landeten auf dem Flughafen von Delhi. Sie trafen sich mit einer vierköpfigen Schläferzelle, die sich seit mehr als einem Jahr dort aufhielt. Gemeinsam warteten sie jetzt auf den Einsatzbefehl ihrer ISI-Führungsoffiziere in Pakistan.

Zu Land überschritten sieben Männer die Grenze nach Jammu und mieteten sich in einer Fremdenpension voller muslimischer Arbeiter in Jammu City ein.

Zur See landeten vier Festrumpfschlauchboote an zwei verschiedenen Stellen der indischen Küste, zwei in Goa an Indiens Westküste und zwei in Madras im Osten. Jedes Boot beförderte acht Terroristen und ihre Ausrüstung.

Jetzt hielten sich also insgesamt siebenundvierzig Männer an vier unterschiedlichen Orten in Indien auf. Alle hatten Handys dabei, die mit handelsüblichen Verschlüsselungssystemen ausgestattet waren. Das würde die Reaktionen des indischen Militärs und der indischen Geheimdienste auf die Anschläge verzögern, obwohl Rehan wusste, dass seine Botschaften und Anweisungen am Ende doch entschlüsselt werden würden.

Die sechzehn Männer in Goa teilten sich in acht Gruppen auf. Jede Gruppe griff mit Handgranaten und Kalaschnikows jeweils ein Strandrestaurant an den Baga-und Candolim-Stränden an. Bevor die Polizei alle Angreifer töten konnte, hatten hundertneunundvierzig Gäste und Restaurantangestellte ihr Leben verloren.

In Jammu, einer Fünfhunderttausend-Einwohner-Stadt, bildeten die sieben Männer, die über Land aus Pakistan eingereist waren, zwei Teams. Um zwanzig Uhr sprengten diese Teams die Hintereingänge zweier Kinos auf der gegenüberliegenden Seite der Stadt auf. Danach stürmten die Männer in die Kinos, die an diesem Freitagabend voll besetzt waren, stellten sich vor der Leinwand auf und feuerten auf das Publikum.

In einem Kino verloren dreiundvierzig und in dem anderen neunundzwanzig Inder ihr Leben. Insgesamt wurden mehr als zweihundert Zuschauer verletzt.

In der Vier-Millionen-Metropole Madras griffen die sechzehn Terroristen ein Cricket-Turnier an. Die Sicherheitsmaßnahmen für diese Veranstaltung waren nach den Anschlägen in Bangalore verstärkt worden. Dies rettete wahrscheinlich Hunderten von Menschen das Leben. Trotzdem gelang es den Terroristen, zweiundzwanzig Zivilisten und Polizisten zu töten und knapp sechzig zu verwunden, bevor sie selbst bis auf den letzten Mann niedergemacht wurden.

In Delhi drang die Acht-Mann-Zelle ins Sheraton New Delhi Hotel im Saket District Centre ein, tötete die Sicherheitswachen in der Lobby und teilte sich dann in zwei Gruppen auf. Vier Männer benutzten die Treppe und gingen dann auf jeder Etage von Zimmer zu Zimmer, um alle zu erschießen, denen sie unterwegs begegneten. Die vier anderen stürmten in einen Bankettsaal und eröffneten mit ihren Maschinenpistolen das Feuer auf eine Hochzeitsgesellschaft.

Dreiundachtzig Menschen verloren ihr Leben, bevor die acht LeT-Kämpfer von der schnellen Eingreiftruppe der Indian Central Reserve Police Force zur Strecke gebracht wurden.

Riaz Rehan hatte diese Anschläge höchstpersönlich organisiert und koordiniert. Er und seine führenden Mitarbeiter saßen dabei in einem konspirativen Stützpunkt in Karatschi und hielten über Internet-Telefone, die an verschlüsselte Computer angeschlossen waren, ständig Kontakt zu diesen Gruppen. Dreimal an diesem Abend betete Rehan, den die Terroristen in Indien nur als Mansur kannten, mit einzelnen Zellenmitgliedern, bevor diese den Gewehren der Polizisten entgegenstürmten. Er hatte allen siebenundvierzig Lashkar-Männern erklärt, dass der Erfolg der Operation und damit die gesamte Zukunft Pakistans davon abhingen, dass sie sich nicht lebend gefangen nehmen ließen.

Alle Männer hatten seinen Befehl befolgt.

Riaz Rehan hatte diese Operation absichtlich so geplant, dass man sie in ihrer Komplexität der Lashkar-Führung nicht zutrauen würde. Er wollte den Indern klarmachen, dass sie es hier mit einer pakistanischen Verschwörung gegen ihr Land zu tun hatten. Dies funktionierte tatsächlich perfekt. Am Morgen des 30. Oktober versetzte die indische Regierung ihr gesamtes Militär in Alarmbereitschaft. Der indische Ministerpräsident Priyanka Pandiyan und der pakistanische Präsident Haroon Zahid saßen den gesamten Vormittag mit ihren Armeeführern und Ministern zusammen. Kurz nach Mittag erhöhte Pakistan seinerseits die Alarmbereitschaft seiner eigenen Streitkräfte für den Fall, dass Indien die allgemeine Konfusion durch diese Attentate ausnutzen würde, um die Grenze im Rahmen eines Vergeltungsschlags zu überschreiten.

Riaz Rehan war über diese Entwicklungen hocherfreut. Seine Operation Saker hatte genau diese Reaktion benötigt, um zur nächsten Phase übergehen zu können.

Nach dem erfolgreichen Ausgang der Attentate in Indien begaben sich Rehan und seine Offiziere nach Dubai, um sich vorerst der Aufmerksamkeit der nicht-islamistischen Kräfte innerhalb des ISI zu entziehen.