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Judith Cochrane beobachtete, wie Saif Yasin von seinem Betonbett aufstand und zur Plexiglas-Wand kam. Auf seiner Seite des Glases stand ein kleiner Schreibtisch mit seinem Telefon, einem Notizblock und Bleistiften. Auf dem Tisch neben seinem Betonbett stapelten sich amerikanische juristische Fachbücher und andere Unterlagen, mit denen er die PCI bei der Vorbereitung seines Prozesses unterstützte.

Das Justizministerium hatte die Regeln gelockert, die es zuvor für die Verteidigung des Emirs aufgestellt hatte. Fast jeden Tag bekam Judy eine E-Mail oder einen Anruf von jemand aus dem Ministerium, der ihr oder ihrem Klienten mehr Informationen, mehr Kontakte zur Außenwelt oder sonstige Mittel zugestand, damit die PCI eine ordentliche Verteidigungsstrategie entwickeln konnte. Yasins Verlegung in die Zelle eines Bundesgefängnisses in Virginia stand kurz bevor. Danach würde Judy beim zuständigen Gericht beantragen, Zugang zu Geheimunterlagen zu bekommen, mit deren Hilfe sie und Yasin beweisen wollten, dass er illegal verhaftet worden war und deshalb sofort freigelassen werden müsse.

Paul Laska hatte Judy bereits vor Wochen anvertraut, er habe von der CIA erfahren, dass die Männer, die den Emir in Riad auf der Straße aufgegriffen hatten, ehemalige CIA-Angehörige seien, die jetzt jedoch nicht mehr in amtlicher Funktion für die US-Regierung tätig seien. Dies verkomplizierte die Dinge sowohl für die Staatsanwaltschaft als auch die Verteidigung. Judy tat jedoch ihr Bestes, um diese Information zu ihrem Vorteil zu nutzen. Laska hatte ihr nämlich ebenso mitgeteilt, dass Ryan persönliche Verbindungen zu den Verbrechern unterhielt, die ihren Klienten gekidnappt hatten. Judy wollte der neuen Regierung nun androhen, diese Beziehungen an die Öffentlichkeit zu bringen, was für den Präsidenten der Vereinigten Staaten gelinde gesagt peinlich wäre.

Sie glaubte, Ryan jetzt am Wickel zu haben. Wahrscheinlich würde er die Sache mit dem Emir deshalb unter den Teppich kehren wollen, indem er sein Wahlversprechen erfüllte und Yasin der Militärgerichtsbarkeit überstellte. Sie hatte jedoch eine Idee, wie sie dies verhindern konnte.

»Guten Morgen, Judy. Sie sehen heute wunderbar aus«, sagte Yasin, als er sich setzte. In seinem anziehenden Lächeln bemerkte sie einen Anflug von Melancholie.

»Danke. Ich könnte mir vorstellen, dass Sie sich heute etwas niedergeschlagen fühlen.«

»Weil Jack Ryan der nächste Präsident wird? Ja, ich gebe zu, das war eine höchst bedauerliche Nachricht. Wie kann Ihr Land einen solchen Verbrecher wieder an die Macht lassen?«

Judith Cochrane schüttelte den Kopf. »Ich habe keine Ahnung. Ich versichere Ihnen, dass keiner meiner Freunde oder Mitarbeiter für ihn gestimmt hat.«

»Aber er hat gewonnen?«

Judy zuckte die Achseln. »Ich muss leider zugeben, dass sich ein großer Teil meines Landes in den Händen von Rassisten, Kriegstreibern und ignoranten Narren befindet.«

»Ja. Das muss wohl so sein, da es hier in Amerika keine Gerechtigkeit für einen Unschuldigen gibt«, sagte der Emir mit einem Anflug von Trauer.

»Sagen Sie das nicht. Wir werden Ihnen Gerechtigkeit verschaffen. Ich bin heute hergekommen, um Ihnen mitzuteilen, dass Ryans Sieg unserer Sache sogar nützen wird.«

Der Emir legte den Kopf schief. »Wie denn das?«

»Weil Ryans Freund John Clark zu den Männern gehört, die Sie entführt haben. Im Moment ist er ein Gesetzesflüchtling. Wenn Kealtys Leute ihn jedoch schnappen, werden sie ihm Straffreiheit anbieten, wenn er zugibt, für wen er gearbeitet hat, als Sie gekidnappt wurden. Dann wird Jack Ryan voll mit drinstecken.«

»Woher wissen Sie das?«

»Weil Ryan möglicherweise direkt daran beteiligt war. Und selbst wenn er das nicht war oder von Ihrer Entführung nicht einmal wusste, werden wir ihm durch inoffizielle Kanäle mit unangenehmen Folgen drohen. Wir werden ihm zu verstehen geben, womit er zu rechnen hat, wenn er Sie der Militärgerichtsbarkeit unterstellt. Wir hätten dann keine andere Wahl, als Ihren Fall den Medien zu offenbaren. Dass Ryan diesen Gnadenerlass ausgestellt habe, beweise ja, dass er selbst John Clark angestiftet habe, Unschuldige zu entführen und zu töten. Ryan wird dann vielleicht vor einem ordentlichen Gericht gewinnen, aber vor dem Gericht der öffentlichen Meinung, in dem die große Mehrzahl der Weltmedien auf unserer Seite steht, wird es so aussehen, als hätte Jack Ryan selbst Sie angeschossen und gekidnappt. Er und seine Regierung werden also auf unsere Forderungen eingehen müssen.«

»Und wie lauten unsere Forderungen?«

»Minimale Sicherheitsvorkehrungen. Ein vernünftiges Strafmaß, etwa dass Sie für die Dauer seiner Amtszeit hinter Gittern bleiben, und nicht länger.«

Der Emir lächelte. »Für jemand so Reizendes und Attraktives sind Sie ganz schön gerissen.«

Judy Cochrane wurde rot. »Ich fange gerade erst an, Saif. Merken Sie sich, was ich sage! Entweder gewinnen Sie Ihren Prozess, oder wir werden Präsident Ryan in dessen Verlauf vernichten.«

Jetzt zeigte das Grinsen des Emirs keinen Anflug von Schwermut mehr. »Ist es zu viel gehofft, dass beides geschieht?«

Jetzt musste auch Judy grinsen. »Nein. Das müsste zu schaffen sein.«

Es war zehn Tage her, dass Clark Manfred Kromm in Köln gefunden hatte. Seitdem hatte der gesuchte Amerikaner den Großteil seiner Zeit in Warschau verbracht. Eigentlich hatte es keinen operativen Grund gegeben, so lange in Warschau zu bleiben, aber sein Körper brauchte nach seiner wilden Flucht durch das nächtliche Köln eine gewisse Erholungszeit. Seine rechte Ferse war geschwollen und purpurrot, der Schnitt auf seinem Handrücken musste verheilen, und jedes Gelenk in seinem Körper tat weh. Warschau war also nicht einfach eine Stadt auf seinem Weg von Deutschland nach Estland. Sie war ein höchst notwendiger Boxenstopp.

Clark besorgte sich mit einem gefälschten Ausweis ein Zimmer mit Nasszelle in einem einfachen Hotel im Zentrum. Er füllte die Porzellan-Badewanne mit Epsom-Salz und Wasser, das beinahe heiß genug war, um darin einen Hummer zu kochen. Dann tauchte er mit dem ganzen Körper darin unter. Nur zwei Extremitäten nahm er davon aus: Seinen rechten Fuß, den er mit Staubinden und einem Eisbeutel umwickelt hatte, und seine rechte Hand, in der er seine SIG Sauer P220, Kaliber .45, hielt.

Zusätzlich zu seinen Prellungen und Beulen hatte Clark jetzt auch noch eine schlimme Erkältung erwischt. Nach diesem Tag im eisigen Regen war das auch kein Wunder. Auch dagegen nahm er jetzt rezeptfreie Medikamente und verbrauchte Unmengen von Papiertaschentüchern.

Sich in die heiße Badewanne legen, Pillen schlucken und sich die Nase schnäuzen: Clark wiederholte diese Abfolge fast eine Woche lang immer wieder. Schließlich fühlte er sich zwar nicht wie ein junger Mann, aber wie ein neuer Mensch.

Mittlerweile war er in der estnischen Hauptstadt Tallinn angekommen. Er hatte sich in den beiden letzten Wochen einen Bart wachsen lassen. Überhaupt sah er jetzt nicht mehr wie ein Geschäftsmann mittleren Alters, sondern eher wie ein rauer, vom Leben gezeichneter Fischer aus. Er hatte sich eine schwarze Strickmütze tief über die Ohren gezogen. Dazu trug er einen schwarzen Pullover unter einem blauen Wachstuchmantel und Lederstiefel, die sich eng um seinen immer noch verletzten rechten Knöchel schmiegten.

Es war Donnerstagabend, und die Novemberluft war eisig kalt, weshalb auch nur wenige Fußgänger auf den Straßen waren. Als er ganz für sich allein die enge mittelalterliche Katharinenpassage entlangging, wurde ihm plötzlich die selbst auferlegte Isolation der vergangenen Wochen bewusst. Als Clark noch jünger, viel jünger, war, konnte er wochenlang am Stück eine verdeckte Ein-Mann-Operation durchführen, ohne jemals nur einen Funken Einsamkeit zu verspüren. Das war nicht unmenschlich, aber er vermochte damals sein Leben bewusst in voneinander abgeschottete Teile zu trennen. Wenn er auf einem Einsatz war, dachte er nur noch daran und blendete alles andere aus. Jetzt musste er jedoch an seine Familie, Freunde und Kollegen denken. Die Sehnsucht war zwar nicht so stark, dass er den Drang verspürt hätte, sofort zu ihnen zurückzukehren, aber sie war immer noch stärker, als ihm lieb war.

Es war verrückt. Mehr als mit Sandy, mehr als mit Patsy hätte er sich jetzt gerne mit Ding unterhalten.

Es war verrückt, dass er jetzt vor allem an seinen klein gewachsenen Schwiegersohn denken musste. Er hätte sogar darüber gelacht, wenn nicht alles, was gerade um ihn herum vorging, so ernst und belastend gewesen wäre. Aber nach einem kurzen Nachdenken ergab das schon einen Sinn. Auch Sandy war mit ihm durch dick und dünn gegangen. Aber das war etwas anderes als bei Chavez. Mit Domingo hatte er so viele Grenzsituationen erlebt, dass er sie beim besten Willen nicht mehr zählen konnte.

Obwohl er es gerne getan hätte, verzichtete er darauf, jemand von ihnen kurz anzurufen. Er war schon an genug Telefonzellen vorbeigekommen, von denen aus das ohne Weiteres möglich gewesen wäre.

Aber nein. Noch nicht. Nicht, bevor es absolut nötig war.

Nein, er operierte nicht im Graubereich, das hier war eine hundertprozentige Geheimoperation. Er konnte nicht ausgerechnet zu denen Verbindung aufnehmen, die ein solcher Kontakt mit ihm am meisten gefährden würde. Er zweifelte nicht einen Augenblick daran, dass Ding sich um seine Frau, seine Tochter und seine Enkel kümmerte und sie vor Fotografen, Reportern, Attentätern und allen anderen Arschlöchern schützte, die seiner Familie gefährlich werden konnten. Obwohl Ding also nicht hier war, stand er doch an seiner Seite. John Clark wusste, dass Chavez ihm immer noch den Rücken freihielt.

Und das musste für den Moment genügen.

Ardo Ruul war der estnische Mafioso, der den Kölner Schlägern befohlen hatte, Manfred Kromm auf diese robuste Weise zu befragen. In einer alten KGB-Akte aus dem Jahr 1981 wurde das Gerücht aufgeführt, dass ein CIA-Mann namens Clark an dem Tag nach Berlin gekommen sei, als der Stasi-Agent Lukas Schumann in einem Geisterbahnhof im Untergrund von Ostberlin erschossen worden war. Der KGB hatte damals Kromm befragt, aber der hatte angeblich nichts dazu sagen können. Diese unbestätigte Geschichte tauchte dann dreißig Jahre später in der Akte des russischen Geheimdiensts über John Clark wieder auf.

Walentin Kowalenko hatte sich daraufhin an Ardo Ruul gewandt. Der estnische Gangster hatte in seinen Zwanzigern im Geheimdienst seines Landes gearbeitet. Jetzt tat er dies auf eigene Rechnung, erledigte jedoch immer noch ab und zu ein paar Aufträge für den SWR. Kowalenko bat Ruul, seine Kontakte spielen zu lassen, um diesen Kromm aufzuspüren und, wenn er noch lebte, der ganzen Geschichte auf den Grund zu gehen. Ruuls Leute hatten Kromm in Köln gefunden und den alten deutschen Schlossknacker zu einem Treffen bestellt. Nach kurzer Zeit spuckte er dann diese Geschichte aus, die er bisher niemand erzählt hatte. Er konnte sogar John Clark auf einem Foto identifizieren.

Für Ruul war das keine große Sache. Er hatte die Informationen an Walentin Kowalenko weitergeleitet und war dann nach einem heißen, langen Wochenende in Deutschland mit seiner Freundin nach Tallinn zurückgekehrt. Jetzt saß er in seinem Stammlokal, einem Nachtklub, und beobachtete die westlichen Touristinnen auf der Tanzfläche.

Ruul gehörte der Klub Hypnotek sogar, ein angesagter Techno-Schuppen mit angeschlossener Bar am Vana Turg, dem Alten Markt. An den meisten Abenden kam er so gegen dreiundzwanzig Uhr und bewegte sich meist nie sehr weit von seinem »Thron«, einem Ecksofa, weg, wo er von zwei bewaffneten Leibwächtern flankiert wurde. Nur ab und zu ging er allein in sein Büro hinauf, um seine Buchführung zu erledigen oder eine Zeit lang im Internet zu surfen.

Heute verspürte er gegen Mitternacht ein menschliches Bedürfnis und ging ohne seine Leibwächter die Wendeltreppe in seinen Privatbereich im ersten Stock hinauf, wo neben seinem Büro auch eine winzige Privattoilette untergebracht war.

Er pinkelte, betätigte die Spülung, zog den Reißverschluss zu, drehte sich um – und schaute in die Mündung einer Pistole.

»Was zum Teufel …«

»Erkennen Sie mich?«

Ruul starrte nur den Schalldämpfer an.

»Ich habe Sie etwas gefragt.«

»Halten Sie bitte die Pistole tiefer, damit ich Sie sehen kann«, sagte Ruul mit einem Zittern in der Stimme.

John Clark richtete seine Waffe auf das Herz des Mannes. »Ist es so besser?«

»Ja. Sie sind der Amerikaner John Clark, nach dem jeder in Ihrem Land sucht.«

»Ich bin überrascht, dass Sie mich nicht erwartet haben.« Clark warf einen schnellen Blick auf die Tür zur Wendeltreppe. »Sie haben mich doch nicht erwartet, oder?«

Ruul zuckte die Achseln. »Warum hätte ich Sie erwarten sollen?«

»Es ist doch in allen Nachrichten gewesen, dass ich in Köln war. Das hat Sie nicht darauf gebracht, dass ich nach Kromm gesucht haben könnte?«

»Kromm ist tot.«

Das hatte Clark nicht gewusst. »Haben Sie ihn umgebracht?«

Ruul schüttelte den Kopf auf eine Weise, dass ihm Clark glaubte. »Sie haben mir erzählt, er sei gestorben, bevor Sie mit ihm hätten sprechen können.«

»Wer hat Ihnen das erzählt?«

»Leute, die mir mehr Angst machen als Sie, Amerikaner.«

»Dann kennen Sie mich nicht.« Clark spannte den Hahn seiner Fünfundvierziger.

Ruul runzelte die Stirn, fragte jedoch: »Stehen wir noch länger hier in der Toilette herum?«

Clark ging ein Stück zurück und ließ den Mann in sein Büro gehen. Dabei richtete er seine Waffe jedoch die ganze Zeit auf Ruuls Brust. Ruul fuhr sich mit den Händen durch seine blonden, abstehenden Haare und schaute dabei auf das Fenster zur Feuerleiter. »Sind Sie durch mein Fenster gekommen? Zwei Stockwerke hoch? Sie brauchen einen Schaukelstuhl, alter Mann. Sie benehmen sich wie ein Kind.«

»Wenn die Ihnen erzählt haben, dass ich nichts von Kromm erfahren habe, benutzen die Sie wahrscheinlich als Köder. Ich schätze mal, dass die Sie beobachtet und darauf gewartet haben, dass ich hier auftauche.«

Daran hatte Ruul nicht gedacht. John erkannte in dessen Auge einen Hoffnungsschimmer, als ob er auf jemand warten würde, der ihm zu Hilfe kam.

»Und wenn sie Kromm umgebracht haben, werden sie keine Probleme haben, auch Sie zu töten.«

John konnte verfolgen, wie diese Erkenntnis den estnischen Mafioso beschäftigte. Trotzdem wurde er nicht so leicht mürbe.

»Also, noch einmal … Wer hat Sie zu Kromm geschickt?«

»Kepi oma ema, alter Mann«, sagte Ruul.

»Das hörte sich wie eine Art Fluch an. War das ein Fluch?«

»Es bedeutet … ›Fick deine Mutter‹.«

»Sehr nett.« Clark richtete seine Waffe wieder auf die Stirn des Esten.

»Wenn Sie mich erschießen, haben Sie keine Chance. Ich habe zehn Bewaffnete in diesem Gebäude. Ein Knall Ihrer Pistole, und sie kommen und töten Sie. Und wenn Sie recht damit haben, dass noch mehr Männer kommen werden, dann sollten Sie über Ihre eigene …« Er hörte zu sprechen auf und beobachtete, wie Clark die Pistole ins Holster steckte.

Dann trat der Amerikaner einen Schritt vor, packte Ardo Ruul am Arm, drehte ihn um und stieß ihn hart gegen die Wand.

»Ich mache jetzt etwas, was wirklich wehtun wird. Sie werden laut aufschreien wollen, aber ich verspreche Ihnen, wenn Sie nur einen einzigen Laut äußern, werde ich mir auch noch Ihren anderen Arm vornehmen.«

»Was? Nein!«

Clark drehte Ruuls linken Arm heftig nach hinten und schlug dann mit dem Ellbogen auf die überdehnte Ellbogenspitze des Esten.

Ardo Ruul begann zu schreien, aber Clark packte ihn an den Haaren und schlug sein Gesicht gegen die Wand.

Dann hielt John ihm seinen Mund dicht an die Ohren und sagte: »Noch ein bisschen mehr Druck, und Ihr Gelenk springt heraus. Sie können es immer noch retten, wenn Sie nicht schreien.«

»Ich … ich werde Ihnen erzählen, wer mich zu Manfred Kromm geschickt hat«, sagte Ruul und keuchte. Clark lockerte etwas den Druck. »Ein Russe, er heißt Kowalenko. Er ist vom FSB oder SWR, ich weiß nicht, von welchem Geheimdienst. Ich sollte aus Kromm herauskriegen, was dieser über Sie damals in Berlin wusste.«

»Warum?«

Ardo versagten die Knie, und er rutschte die Wand hinunter auf den Boden. Clark half ihm auf. Jetzt saß er mit blassem Gesicht und vor Schmerz weit geöffneten Augen da und hielt sich den Ellenbogen.

»Warum, Ruul?«

»Er hat mir nicht gesagt, warum.«

»Wie kann ich ihn finden?«

»Wie soll ich das wissen? Sein Name ist Kowalenko. Er ist ein russischer Agent. Er hat mir Geld gezahlt. Das ist alles, was ich weiß.«

Von unten waren jetzt ein Pistolenschuss und dann das Schreien von Männern und Frauen zu hören.

Clark war blitzschnell am Fenster.

»Wohin gehen Sie?«

Clark machte das Fenster auf und schaute hinaus. Dann drehte er sich nach dem estnischen Gangster um. »Bevor sie Sie töten, vergessen Sie nicht, ihnen zu erzählen, dass ich mir diesen Kowalenko vorknöpfen werde.«

Ardo Ruul zog sich mit seinem einen guten Arm über die Ecke seines Schreibtischs auf die Füße. »Bleib da, Amerikaner. Wir bekämpfen sie gemeinsam!«

Clark kletterte auf die Feuerleiter hinaus. »Die Jungs dort unten sind Ihr Problem. Ich muss meine eigenen Probleme lösen.« Damit verschwand er in der kalten Dunkelheit.

Beide Männer, der Amerikaner und der Este, waren etwa gleich alt. Sie hatten ungefähr dieselbe Größe. Auch ihr Gewicht lag wohl nicht mehr als vier Kilogramm auseinander. Beide trugen ihr grau meliertes Haar kurz geschnitten. Beide hatten hagere Gesichter, die vom Leben gehärtet waren und deren Falten ihr Alter zeigten.

Aber damit endeten die Ähnlichkeiten. Der Este war ein Trunkenbold, ein Penner, der auf dem kalten Beton lag und seinen Kopf gegen die Wand lehnte. Neben ihm stand eine durchsichtige Plastikkiste, die seine gesamten irdischen Besitztümer enthielt.

Clark hatte die gleiche Statur und das gleiche Alter, aber er war nicht derselbe Mann.

Er stand schon eine Weile in dieser Eisenbahnunterführung und betrachtete den Penner. John Clark hatte kein Mitleid mit diesem Kerl, aber nicht weil er kaltherzig gewesen wäre. Nein, weil er einen Job zu erledigen hatte. Dabei konnte er sich keine Sentimentalitäten leisten.

Er ging zu dem Mann hinüber, kniete sich neben ihn und sagte zu ihm auf russisch: »Fünfzig Euro für deine Klamotten.«

Der Este schielte ihn mit seinen blutunterlaufenen Augen an. »Vabandust?« Verzeihung?

»Okay, mein Freund. Du bist ein harter Verhandler. Du bekommst meine Kleidung. Und ich gebe dir hundert Euro.« Der betrunkene Obdachlose mochte vielleicht anfangs nicht ganz begriffen haben, was dieser Fremde von ihm wollte, dafür wurde es ihm jetzt umso klarer. Es wurde ihm auch klar, dass dies keine Bitte war.

Es war eine Forderung, die er nicht ablehnen konnte.

Fünf Minuten später torkelte Clark von einem Schatten zum andern in den Hauptbahnhof in der Tallinner Altstadt hinein. Er würde den nächsten Zug nach Moskau nehmen.