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Seit er vor einigen Wochen aus Pakistan zurückgekehrt war, traf sich Jack mit Melanie fast jeden Tag. Gewöhnlich machte er bei Hendley Associates etwas eher Schluss, um dann nach Alexandria zu fahren. Wenn es nicht gerade regnete oder schneite, gingen sie zu Fuß von ihrem Apartment zum Essen, ansonsten nahmen sie seinen Hummer.
Er blieb dann über Nacht und stand am anderen Morgen bereits um fünf Uhr auf, um noch vor dem morgendlichen Berufsverkehr die fünfzig Kilometer nach Columbia zurückzufahren.
Sie hatte schon einige Male geäußert, dass sie gern einmal sehen würde, wo und wie er so lebte. Also holte er sie an einem Samstagnachmittag ab und fuhr mit ihr nach Columbia, wo sie auch die Nacht verbringen würde. Sie gingen im Restaurant Akbar indisch essen, um dann bei Union Jack’s noch eine Kleinigkeit zu trinken. Nach einem Bier und einer angeregten Unterhaltung fuhren sie zu Jacks Apartment zurück.
Schon früher hatten junge Damen bei Jack übernachtet, wenngleich er ganz bestimmt kein Playboy war. Wenn er dachte, er könnte später am Abend Gesellschaft bekommen, ging er normalerweise noch einmal kurz durch sein Apartment, um ein klein wenig aufzuräumen, bevor er loszog. Für dieses Rendezvous hatte er seine Wohnung jedoch gründlich gesäubert. Er hatte sein Parkett nass gewischt, die Bettwäsche gewechselt und sein Badezimmer von oben bis unten sauber geschrubbt. Er würde zwar so tun, als ob seine Wohnung immer so blitzblank wäre, aber er war sich ziemlich sicher, dass die kluge Ms. Kraft erkennen würde, dass dies bestimmt nicht der Fall war.
Er mochte dieses Mädchen. Sehr. Er hatte es von Anfang an gewusst und bereits bei ihren ersten Treffen gespürt, dass da etwas im Entstehen war. Er hatte sie schon in Dubai sehr vermisst, und in Pakistan hatte er sich nach nichts mehr gesehnt, als sie im Arm zu halten, mit ihr zu sprechen und von ihr bestätigt zu bekommen, dass er das Richtige aus den richtigen Gründen tat und dass alles gut ausgehen würde.
Scheiße, dachte Jack. Werde ich jetzt etwa weich?
Er fragte sich, ob es etwas damit zu tun haben könnte, dass ihm in den letzten Wochen gleich zwei Kugeln fast das Lebenslicht ausgeblasen hätten. Stand dies hinter den Gefühlen, die er für diese Frau entwickelte? Er hoffte, dass das nicht der Fall war. Sie hatte es nicht verdient, dass sich jemand wegen irgendwelcher persönlichen Probleme oder einer Nahtoderfahrung plötzlich in sie verguckte. Nein, sie verdiente es, dass man sich allein wegen ihrer Persönlichkeit Hals über Kopf in sie verliebte.
Seine Wohnung war ziemlich teuer, gut geschnitten und voller netter Möbel. Trotzdem war es eine Junggesellenbude. Als Jack einmal auf die Toilette ging, schaute Melanie kurz in seinen Kühlschrank. Sie fand darin, was sie erwartet hatte, nämlich fast nichts außer Wein, Bier, Gatorade und ein paar überfällige Mitnahmeboxen vom Chinesen und Italiener. Auch in seine Gefriertruhe warf sie einen schnellen Blick, immerhin arbeitete sie ja für einen Geheimdienst. Er war voller Eisbeutel, von denen viele bereits einmal aufgetaut waren.
Als sie die Küchenschränke neben der Gefriertruhe öffnete, waren sie voller elastischer Binden, Entzündungshemmer, Wundpflaster und antibiotischer Wundsalben.
Sie sprach ihn darauf an, als er ins Zimmer zurückkehrte.
»Haben dich auf der Skipiste noch ein paar niedrig hängende Äste erwischt?«
»Was? Ach so! Nein. Warum fragst du?«
»Nur so. Ich habe die Notfallstation gesehen, die du dir eingerichtet hast.«
Jack runzelte die Stirn. »Hast du herumgeschnüffelt?«
»Nur ein wenig. So sind wir Frauen eben.«
»Richtig. Tatsächlich habe ich einen Kampfsportkurs in Baltimore besucht. Es war wirklich toll, aber dann musste ich geschäftlich sehr oft verreisen und habe es aufgegeben.« Ryan schaute sich im Zimmer um. »Wie findest du meine Wohnung?«, fragte er.
»Sie ist sehr schön. Es fehlt nur der weibliche Touch. Aber wenn sie den hätte, müsste ich mir darüber wohl Gedanken machen.«
»Das stimmt.«
»Trotzdem. Das Apartment ist wirklich schön. Da muss ich mich allerdings doch fragen, was du von meinem kleinen Kabuff hältst, in dem du Armer schon so oft übernachten musstest.«
»Ich mag deine Remise. Sie passt zu dir.«
Melanie legte den Kopf schief. »Weil sie billig ist?«
»Nein. Das meine ich nicht. Sie ist weiblich und immer voller CIA-Handbücher und dicker Wälzer über Terrorismus. Sie ist einfach toll. So wie du.«
Melanie hatte eine Abwehrhaltung eingenommen, aber jetzt entspannte sie sich. »Es tut mir leid. Ich bin wahrscheinlich ein wenig überfordert von deinem Geld und deinen Familienverbindungen, ich komme nun mal aus einer ganz anderen Welt. Meine Familie hatte nie Geld. Bei vier Kindern reichte der Militärsold meines Vaters eben nicht für irgendwelchen Luxus.«
»Ich verstehe«, sagte Jack.
»Das glaube ich nicht. Aber das ist mein Problem und nicht deines.«
Ryan legte den Arm um sie. »Aber das alles liegt doch in der Vergangenheit.«
Sie schüttelte den Kopf und machte sich los. »Nein. Tut es nicht.«
»Studienkredite?«, fragte Ryan, um es dann sofort zu bedauern. »Entschuldigung, das geht mich nichts an. Ich wollte nur …«
Melanie lächelte ein bisschen. »Ist schon okay. Es ist nur nicht lustig, darüber zu reden. Du solltest für deine Familie dankbar sein.«
Jetzt ging Jack in die Defensive. »Hör mal, es stimmt zwar, dass meine Familie Geld hat, aber mein Dad hat mich immer arbeiten lassen. Ich hole mir mein Geld nicht mit meinem Familiennamen von der Bank ab.«
»Natürlich tust du das nicht. Das respektiere ich ja auch an dir. Ich spreche nicht über Geld.« Sie dachte einen Moment darüber nach. »Vielleicht zum ersten Mal spreche ich nicht über Geld. Ich spreche über deine Familie. Ich merke doch, wie du über sie redest und wie du sie respektierst.«
Jack hatte inzwischen gelernt, sie nicht nach ihrem eigenen familiären Hintergrund zu fragen. Jedes Mal, wenn er es versucht hatte, war sie entweder aus dem Gespräch ausgestiegen oder hatte das Thema gewechselt. Für einen Augenblick glaubte er jetzt, sie würde von sich aus darüber reden. Aber sie tat es dann doch nicht.
»So«, sagte sie, und er begriff, dass das Thema gerade gewechselt worden war. »Hat diese Wohnung auch ein Badezimmer?«
In diesem Moment zwitscherte das Handy in ihrer Handtasche, die auf Jacks Küchentheke lag. Sie holte es heraus und schaute auf die Nummer.
»Es ist Mary Pat«, sagte sie überrascht und fragte sich, warum ihre Chefin sie an einem Samstagabend um zehn Uhr anrufen sollte.
»Vielleicht bekommst du eine Gehaltserhöhung«, juxte Ryan, und Melanie lachte.
»Hi, Mary Pat.« Melanies Lächeln verschwand aus ihrem Gesicht. »Okay. Okay. O … Scheiße.«
Als sich Melanie von ihm wegdrehte, spürte Jack, dass es Probleme gab. Das Gefühl verstärkte sich noch, als zehn Sekunden später sein eigenes Handy klingelte. »Ryan.«
»Hier ist Granger. Wie schnell können Sie im Büro sein?«
Jack ging in sein Schlafzimmer hinüber. »Was ist los? Etwas mit Clark?«
»Nein. Es gibt Schwierigkeiten. Ich brauche jeden sofort in diesem Büro.«
»Okay.«
Er legte auf. Melanie wartete im Nachbarzimmer auf ihn. »Es tut mir so leid, Jack, aber ich muss sofort ins Büro.«
»Was ist los?«
»Du weißt, dass ich das nicht sagen darf. Ich hasse es, dass du mich den ganzen Weg nach McLean fahren musst, aber es ist ein absoluter Notfall.«
Scheiße. Denk nach, Jack. »Ich mache dir einen Vorschlag. Gerade hat mich mein Büro angerufen. Sie brauchen mich dort. Jemand hat Bedenken, was unsere Positionierung auf den asiatischen Märkten angeht, die am Montag öffnen. Du könntest mich bei meiner Firma absetzen und dann mit meinem Hummer in dein Büro weiterfahren.«
Ryan sah es sofort in ihren Augen. Sie wusste, dass er log. Sie schluckte es jedoch und ließ es dabei bewenden. Wahrscheinlich war sie über die schlechte Nachricht, die sie gerade erfahren hatte, mehr besorgt als darüber, dass ihr Freund ein verlogener Bastard war.
»Klar. Kein Problem.«
Eine Minute später waren sie auf dem Weg zur Tür.
Auf dem Weg zu Hendley Associates sprachen sie kaum ein Wort.
Nachdem Melanie Jack abgesetzt hatte, fuhr sie in die Dunkelheit davon, und er betrat die Firma durch den Hintereingang.
Dom Caruso war bereits da und sprach in der Lobby mit dem diensthabenden Wachmann. Ryan ging zu ihm hinüber. »Was ist eigentlich los?«
Dom beugte sich zu seinem Cousin hinüber und flüsterte ihm ins Ohr: »Worst-Case-Szenario.«
Ryan bekam große Augen. Er wusste, was das bedeutete. »Eine islamische Bombe?«
Caruso nickte. »Die abgefangenen internen CIA-Meldungen besagen, dass letzte Nacht Ortszeit ein pakistanischer Rüstungszug überfallen worden ist. Dabei wurden zwei Zwanzig-Kilotonnen-Atombomben gestohlen. Sie befinden sich jetzt in den Händen einer unbekannten Gruppierung.«
»O mein Gott.«