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Ryan war inzwischen ins Hôtel de Sers zurückgekehrt. Die fünf Terroristen waren offensichtlich vom Hotelmanager eingewiesen worden. Jetzt führte sie ein Angestellter durch eine Personaltür. Ryan ging zum Haupttreppenhaus hinüber. Er stieg in eher gemächlichem Tempo die Stufen empor, bis man ihn nach dem ersten Treppenabsatz von der Lobby aus nicht mehr sehen konnte. Danach begann er, in den dritten Stock hinaufzuhasten.

Während des Aufstiegs sprach er in sein Headset: »John … soll ich die örtliche Polizei rufen?«

Clarks Stimme klang, als ob er sich gerade in der Lobby des Four Seasons aufhalten würde. »Um ein Spezialeinsatzkommando kommen zu lassen, reicht die Zeit nicht. Normale Streifenpolizisten würden dagegen von diesen Terroristen einfach abgeschlachtet werden. Dabei könnten sogar unschuldige Hotelgäste zu Schaden kommen.«

»Verstehe«, sagte Ryan, der gerade den zweiten Stock erreicht hatte.

Im dritten Stock zog er seine Glock aus dem Hosenbund unter seinem Jackett, schraubte den Schalldämpfer auf den Pistolenlauf und öffnete dann die Tür, die vom Treppenhaus in den Etagenflur führte. Der Gang war nur schwach beleuchtet und viel enger, als er erwartet hatte. Er schaute nach, welche Nummer das nächstgelegene Zimmer hatte. 312.

Scheiße.

Er flüsterte in sein Mikrofon. »Ich stehe jetzt im Gang. Ich habe den Personalaufzug im Blick, der etwa dreißig Meter von mir entfernt ist. Das Zimmer der DCRI liegt direkt neben dem Aufzug. Bisher noch keine Anzeichen von den Tangos. Ich werde jetzt die DCRI-Leute alarmieren.«

»Auf keinen Fall, Ryan«, sagte Clark. »Wenn du in diesem Gang überrumpelt wirst, stirbst du.«

»Ich werde mich beeilen.«

»Hör mir jetzt gut zu, Jack. Du wirst dich al-Qahtani und seinen Männern nicht entgegenstellen. Bleib, wo du bist.«

Ryan antwortete nicht.

»Ryan, bestätige meinen letzten Funkspruch.«

»John, die Leute von der DCRI haben keine Waffen. Ich werde es nicht zulassen, dass al-Qahtani sie alle tötet.«

Jetzt war Carusos Stimme zu hören. Nach den Geräuschen zu urteilen, war er in aller Eile auf dem Gehweg unterwegs. Er sprach mit leiser Stimme. »Hör auf Clark, Cousin. Die Chancen stehen fünf zu eins, dass das Ganze für dich schlecht ausgeht. Deine Glock wird sich wie eine Wasserpistole anfühlen, wenn diese Penner mit ihren Schnellfeuergewehren aus dem Aufzug stürzen. Bleib im Treppenhaus, und warte auf die Kavallerie.«

Ryan zog sich zwar ins Treppenhaus zurück, aber seine Nasenflügel zitterten, als er sich zu seinem Einsatz bereitmachte. Er konnte nicht einfach so dastehen und zuschauen, wie direkt vor seinen Augen Menschen massakriert wurden.

Am anderen Ende des langen Gangs erklang die Aufzugklingel.

Im Zimmer 301 waren sechs Beamte der Direction Centrale du Renseignement Intérieur stationiert, die in zwei Teams aufgeteilt waren. Drei Mann fläzten sich auf den beiden Betten im Schlafzimmer, lasen die Morgenzeitung, tranken Kaffee und rauchten Zigaretten. Die drei anderen standen oder saßen um einen Tisch herum, den sie vor die offene Balkontür gerückt hatten. Die Entfernung zwischen ihm und dem Balkon betrug jedoch immer noch mindestens drei Meter. Auf dem Tisch standen zwei Laptops und eine Laser-3000-Abhöranlage, die auf ein Dreibeinstativ montiert war. Der Halbleiterlaserstrahl, der von einem schachtelähnlichen Gerät emittiert wurde, schoss durch eine kleine Öffnung in der Schiebeglastür des Balkons hindurch, überwand die freie Fläche zwischen den beiden Hotels und wurde vom Panoramafenster der Ecksuite des Four Seasons reflektiert, um danach zum DCRI-Zimmer im Hôtel de Sers zurückzukehren. Hier wurde der Strahl auf einen am Laser-3000-Gerät angebrachten Empfänger projiziert, der die Fluktuationen des Strahls interpretierte, die durch die Vibrationen des Fensters hervorgerufen wurden, und diese in erkennbare Sprache umwandelte.

Trotzdem war diese Überwachungsoperation alles andere als perfekt. Da die Vorhänge des Zimmers von Omar 8 immer zugezogen waren, konnten sie nicht in die Suite hineinschauen und nur mit Unterbrechungen ganz schwache Stimmen auffangen. Allerdings bestätigte das Gerät, dass Omar 8 und seine Kumpane sich immer noch darin aufhielten. Sollten sie es einmal verlassen, würde das eine Dreimann-Team der DCRI in die Four-Seasons-Suite eindringen und dort effektivere Wanzen verstecken, während das zweite Team die ganze Aktion von ihrer hiesigen Beobachtungsstation aus überwachen würde.

In der Zwischenzeit tranken sie einen Kaffee nach dem anderen, rauchten und schimpften über die amerikanische Regierung. Noch vor einigen Jahren wären sie bei einer solchen Operation von der CIA unterstützt worden. Omar 8 gehörte angeblich dem URC an. Die Vereinigten Staaten interessierten sich zweifellos für alle leitenden URC-Angehörigen, vor allem wenn diese mit jungen Männern im besten Kampfesalter und Zighunderten Kilo Gepäck in westlichen Hauptstädten auftauchten. Sicherlich hatte der URC viele Drohungen gegen die Franzosen ausgestoßen, von denen die letzte erst vor einer Woche aufgefangen worden war. Aber sie hatten Frankreich noch nie angegriffen, ganz im Gegensatz zu den Vereinigten Staaten, wo sie vor nicht allzu langer Zeit Hunderte von Menschen umgebracht hatten. Die verdammte amerikanische Botschaft lag keine zwei Kilometer von hier entfernt. Warum waren les Américains also jetzt nicht hier, um sie mit Informationen, Ausrüstung und Personal zu unterstützen?

Les Américains, murmelten die DCRI-Leute, während sie die Ecksuite im Nebenhaus überwachten. Sie waren sich einig, dass diese auch nicht mehr das seien, was sie einmal waren.

Die Aufzugtür im dritten Stock des Hôtel de Sers öffnete sich. In dreißig Meter Entfernung brachte Jack Ryan jr. halb von der Treppenhaustür verdeckt im Dämmerlicht seine schallgedämpfte Glock in Anschlag.

Ein einzelnes Zimmermädchen schob einen Rollwagen voller Handtücher und Abfalleimer aus dem Personalaufzug heraus. Niemand folgte ihr. Jack ließ die Pistole sinken und zog sich ins Treppenhaus zurück, hielt dessen Tür jedoch mit der Schuhspitze offen.

Er stieß einen lautlosen Seufzer der Erleichterung aus. Das Zimmermädchen hatte das Eintreffen der Terroristen, wenn auch nur um etwa eine Minute, verzögert. Sie würden bald hier sein. Sie schob ihren Wagen langsam den Gang entlang, ohne sich irgendeiner Gefahr bewusst zu sein.

In diesem Augenblick hörte er zwei Männer mit schnellen Schritten die Treppe emporsteigen. Gleichzeitig meldete sich Chavez über Funk. »Wir kommen jetzt rauf, Ryan. Nicht feuern!«

»Roger.«

Als Nächstes war Clark zu hören. »Ding, ich bin im Hauptaufzug. Werde in spätestens sechzig Sekunden bei euch sein. Könnt ihr, du und Dom, über das Zimmer 401 auf den Balkon von 301 gelangen?«

Chavez und Dom rannten an Ryan vorbei weiter nach oben. Ihre Gesichter waren aufgrund ihrer Gummimasken verzerrt und nicht zu identifizieren. Chavez rief Ryan noch zu: »Spitzenmäßig! Wir werden jetzt eine Schnellversion unserer ursprünglichen Planung durchführen können.«

»Ihr müsst euch schwer beeilen«, rief Ryan ihnen nach.

Jetzt meldete sich wieder Clarks Stimme. »Ryan. Ich brauche dich unten in der Lobby.«

Jack konnte nicht glauben, was er da hörte. »Was?«

»Du musst den Van holen. Sam hat keine Autoschlüssel. Du hast sie. Wenn dies hier vorbei ist, müssen wir sofort verschwinden. Außerdem wartet da draußen immer noch ein Tango im Wagen. Wenn er hereinkommen sollte, musst du ihn unbedingt aufhalten.«

Ryan begann zu protestieren. Er musste flüstern, weil das Zimmermädchen nur noch ein paar Meter von ihm entfernt war. Sie klopfte an eine Tür, öffnete sie und verschwand in dem Zimmer. »John, das muss ein Witz sein! Ich beobachte den Gang, ich kann den anderen Deckung geben …«

»Ryan, ich werde mich nicht mit dir streiten! Du gehst jetzt sofort in die Lobby runter!«

»Jawohl, Sir«, knirschte Jack und begann, die Treppe hinunterzusteigen. »Verfluchter Mist!«

Ding Chavez erreichte kurz vor Dominic den vierten Stock. Beide Männer ließen noch im Laufen ihre Regenparkas zu Boden fallen, brachten ihre Maschinenpistolen in Anschlag und wickelten sich das Seilende vom Hals. Als Chavez am Zimmer 401 ankam, rammte er seine Schulter so hart in die Tür, dass diese aus dem Schloss sprang und in den Raum hineinfiel. Er selbst stürzte zu Boden. Caruso hüpfte über ihn und richtete seine HK auf das Bett.

Dort nahm gerade ein Ehepaar mittleren Alters sein Frühstück ein und schaute dabei Fernsehen.

»Was zum Teufel …!«, protestierte der Mann mit einem starken englischen Akzent. Die Frau begann laut zu schreien.

Caruso ignorierte die beiden. Er rannte direkt zum Balkon und öffnete die Schiebetür. Chavez hatte sich wieder aufgerappelt und folgte ihm auf dem Fuß. In aller Eile warfen sie ihre Seile in die Tiefe und befestigten den Metallkarabiner an deren einen Ende an dem schweren Eisengeländer des Balkons.

Genau in diesem Moment meldete sich Clark. Er sprach mit einer seltsam aufgekratzten und fröhlichen Stimme und mit einem unverkennbar britischen Akzent. »Ich wurde etwas aufgehalten, Liebling. Ich werde in einer Minute bei dir sein. Fang schon einmal ohne mich mit dem Frühstück an.«

Die Männer auf dem Balkon wussten jetzt, dass sie allein handeln mussten. Clark steckte immer noch im Aufzug. Offensichtlich war er von Zivilisten umgeben. Sie hatten keine Zeit, auf ihn zu warten.

Sie hielten ihre HK-Maschinenpistolen in der einen Hand und erfassten mit der anderen das Seil. Dann kletterten sie über das Balkongeländer. Zuletzt sahen sie noch, dass das englische Ehepaar inzwischen in seiner Panik aus dem Zimmer geflohen war.

Dom und Domingo warfen sich einen kurzen Blick zu. Als Chavez nickte, lehnten sich beide nach hinten. Vier Stockwerke unter ihnen rollte der Verkehr unbeirrt über die Avenue Pierre-1er-de-Serbie. Die beiden Amerikaner stießen sich mit beiden Füßen vom Balkon ab. Sie schwebten über eine Sekunde in der Luft, bevor sie sich auf den Balkon unter ihnen schwangen.

Dort blendete sie zunächst die Sonne, die sich in den gläsernen Balkontürscheiben spiegelte. Dann sahen sie durch eine schmale Öffnung im Innern des Zimmers drei der sechs DCRI-Männer. Einer stand auf der anderen Seite der Glastür, keine zwei Meter von den Amerikanern entfernt. Er hielt eine Kaffeetasse und eine Zigarette in der Hand. Zwei weitere Geheimdienstbeamte saßen hinter einem Tisch in der Mitte des Zimmers. Das Schlaf-und das Badezimmer waren von Chavez’ und Carusos gegenwärtigem Standort aus nicht einsehbar. Hinter dem Tisch mit der Abhöreinrichtung führte ein schmaler Gang zur Zimmertür.

Natürlich waren die drei Franzosen völlig geschockt, als sie die bewaffneten Männer auf ihrem Balkon bemerkten. Der Schock vergrößerte sich noch, als die beiden Amerikaner die Seile abwarfen und ihre Waffen in Anschlag brachten.

Caruso und Chavez machten einen Ausfallschritt nach vorne und nahmen eine leicht geduckte Schussposition ein. Gerade als Chavez »Dégagez« – Macht Platz! – rief, brach direkt hinter den entsetzt dreinschauenden Franzosen ein nahöstlicher Terrorist mit der Schulter die Zimmertür auf.