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Jack Ryan jr. kam kurz nach elf Uhr vormittags in Liberty Crossing, dem Sitz des National Counterterrorism Center, an. Er hatte sich mit Mary Pat Foley zum Essen verabredet. Sie hatte ihn gebeten, etwas früher zu kommen, damit sie ihn durch das Gebäude führen konnte.
Zuerst hatte sie vorgeschlagen, nach der Führung im NCTC-Restaurant zu essen. Aber Jack hatte ihr klargemacht, dass er während der Mahlzeit etwas Geschäftliches mit ihr zu besprechen habe und es deshalb vorziehen würde, wenn sie sich außer Haus einen ruhigeren Ort suchten. Mary Pat war der einzige Mensch in Liberty Crossing, der von der Existenz des Campus wusste, und Jack wollte, dass dies so blieb.
Jack hielt seinen gelben Hummer H3 am Haupttor der Anlage an und zeigte einem finster dreinschauenden Wachmann den Ausweis. Der prüfte nach, ob sein Name auf einer Computerliste stand, auf der die angemeldeten genehmigten Besucher aufgeführt waren. Dann winkte er ihn durch, und Jack stellte den Geländewagen auf dem Hauptparkplatz ab.
Die stellvertretende Direktorin des NCTC holte ihn in der Lobby ab, half ihm, die Sicherheitsformalitäten zu erledigen, und fuhr mit ihm im Aufzug zum Operationszentrum hinauf. Das war Mary Pats Reich. Jeden Tag ging sie mehrmals durch die ganze Abteilung und schaute nach den dort arbeitenden Analysten. Dabei konnte sie jeder ansprechen, der etwas auf dem Herzen hatte.
Der Raum war wirklich beeindruckend. Neben Dutzenden von Computerarbeitsplätzen gab es mehrere große Projektionswände. Das riesige Großraumbüro setzte Ryan in Erstaunen, vor allem wenn er es mit seiner eigenen Firma verglich. Sie verfügten zwar auch über die modernsten Technologien, aber trotzdem sah es bei ihnen nicht halb so cool aus wie hier. Trotzdem wusste er natürlich, dass er und seine Analystenkollegen fast alle Informationen auffingen, die jetzt über die Monitore hier huschten.
Mary Pat genoss es, den jungen Ryan herumzuführen. Sie erklärte ihm, dass im NCTC mehr als fünfhundert Personen aus über sechzehn Abteilungen, Behörden und Diensten zusammenarbeiteten, um Daten zu sammeln, nach Prioritäten zu ordnen und zu analysieren, die ihnen von sämtlichen US-Nachrichtendiensten oder direkt von ausländischen Partnern zugeleitet wurden. Das Operationszentrum war sieben Tage die Woche rund um die Uhr in Betrieb. Mary Pat war vor allem stolz darauf, dass eine solche Koordinationsleistung in einer Riesenbürokratie wie der US-Bundesverwaltung möglich war.
Mary Pat achtete darauf, bei ihrer Führung keinen Analysten zu stören. Allerdings brachte sie Jack dann noch zu einer Arbeitsstation in der Nähe des Ganges, der zu ihrem eigenen Büro führte. Hier fiel Jack sofort eine hinreißende junge Frau auf, die ihr mittellanges, dunkles Haar zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden hatte. Sie musste etwa sein Alter haben.
Mrs. Foley beendete ihren Vortrag über die Vorzüge der Zusammenarbeit zwischen den unterschiedlichen Bundesbehörden mit einem Schulterzucken. »So sollte es wenigstens funktionieren. Meistens klappt es auch ganz gut, aber natürlich sind wir nur so gut wie die Daten, die wir analysieren. Bessere Produkte führen zu besseren Erkenntnissen.«
Jack nickte. Er war dafür das beste Beispiel. Er freute sich darauf, nachher Mary Pat sein eigenes ausgezeichnetes »Informationsprodukt« vorstellen zu können.
»Danke für die Führung.«
»Gern geschehen. Gehen wir essen. Aber zuerst möchte ich dich jemandem vorstellen.«
»Prima«, sagte Jack und hoffte, dass es sich um das gut aussehende Mädchen handelte, das gerade am benachbarten Schreibtisch arbeitete.
»Melanie, haben Sie mal eine Sekunde Zeit?«
Zu Ryans großer Freude stand das Mädchen mit den kastanienbraunen Haaren auf und drehte sich zu ihnen um. Sie trug ein hellblaues Button-Down-Hemd und einen marineblauen knielangen Bleistiftrock. Über der Lehne ihres Drehstuhls hing ein dunkelblaues Jackett. »Darf ich vorstellen – Jack Ryan jr. – Melanie Kraft. Sie ist mein neuester Star hier im Operationszentrum.«
Die beiden schüttelten sich lächelnd die Hand.
»Mary Pat, als Sie mich einstellten, haben Sie mir nicht erzählt, dass ich hier auch Promis kennenlernen würde.«
»Junior ist kein Promi. Er gehört zur Familie.«
Ryan stöhnte innerlich, als sie ihn in Gegenwart dieser jungen Frau Junior nannte. Er fand sie hinreißend. Vor allem mochte er ihre hellen, freundlichen Augen.
Melanie nickte und meinte: »Sie sind größer, als Sie im Fernsehen wirken.«
Jack lächelte. »Ich war schon seit Jahren nicht mehr im Fernsehen. Seitdem bin ich wohl etwas gewachsen.«
»Jack, ich habe Melanie von ihrem Schreibtisch in Langley gekidnappt«, sagte Mary Pat.
»Gott sei Dank«, sagte Melanie.
»Sie könnten für keine bessere Chefin arbeiten«, erwiderte Jack mit einem Lächeln. »Oder eine wichtigere Arbeit erledigen als hier im NCTC.«
»Danke. Sind Sie hier, weil Sie dem Beispiel Ihres Vaters folgen und in den öffentlichen Dienst treten wollen?«
Jack kicherte. »Nein, Mary Pat und ich sind zum Essen verabredet. Ich bin hier nicht auf der Suche nach einer Arbeit. Ich finde es großartig, was ihr hier macht, aber ich bin in der Finanzbranche tätig. Ein geldgieriger Kapitalist, könnte man sagen.«
»Das ist doch in Ordnung, solange Sie Ihre Steuern zahlen.«
Alle drei begannen zu lachen.
»Also, ich mache mich besser wieder an die Arbeit«, sagte Melanie. »Es war nett, Sie kennenzulernen. Viel Erfolg für Ihren Vater nächsten Monat. Wir alle hier drücken ihm die Daumen.«
»Danke. Ich bin mir sicher, er weiß zu schätzen, was Sie hier tun.«
Ryan hatte noch nicht einmal den Motor angelassen, als ihn Mary Pat in seinem Hummer anschaute und lächelte. Er lächelte zurück. »Hast du etwas auf dem Herzen, Mary Pat?«
»Sie ist Single.«
Jack lachte. »Ich habe keine Ahnung, was du meinst«, sagte er mit einem leichten Unterton in der Stimme.
Mary Pat Foley behielt ihr Lächeln bei. »Du würdest sie mögen, sie ist sehr klug. Nein, nicht klug. Ich halte sie für absolut brillant. Ich habe sie schon einmal zu uns zum Essen eingeladen, und mein Mann Ed war hingerissen von ihr.«
»Toll«, sagte Jack. Er geriet nicht leicht in Verlegenheit, aber jetzt wurde er rot. Er kannte Mary Pat, seit er in den Windeln lag, aber sie hatte ihn noch nie nach seinen Herzensangelegenheiten gefragt oder ihn gar mit einem Mädchen zusammenbringen wollen.
»Sie stammt aus Texas, wenn du es nicht bereits an ihrem Akzent gehört hast. Sie hat hier nicht sehr viele Freunde. Sie lebt in einer kleinen möblierten Wohnung drunten in Alexandria.«
»Das ist alles sehr interessant, Mary Pat, und sie scheint wirklich nett zu sein, aber eigentlich bis ich aus einem ganz anderen Grund vorbeigekommen. Etwas weit Interessanterem als meinem Liebesleben.«
Sie kicherte. »Das bezweifle ich.«
»Warte ab.«
Sie bogen in den Parkplatz einer Sushi-Bar in einem Einkaufszentrum am Old Dominion Drive ein. Das zwischen einer Wäscherei und einem Bagelladen eingezwängte kleine Restaurant sah von außen ziemlich unscheinbar aus, aber Mary Pat versprach, dass sein Sashimi das beste diesseits von Osaka sei. Als erste Gäste des Tages konnten sie sich ihren Tisch frei auswählen. Ryan entschied sich für eine abgetrennte Sitznische in der hintersten Ecke des Lokals.
Sie plauderten eine Weile über ihre Familien und bestellten ihr Essen. Schließlich holte Ryan zwei Fotos aus seiner Tumi-Tasche und legte sie nebeneinander auf den Tisch.
»Wen zeigen diese Fotos, Junior?«
»Der Typ rechts ist beim ISI. Er ist Leiter der Joint Intelligence Miscellaneous Division.«
Foley nickte und sagte: »Und das da links ist derselbe Mann, nur jünger und ohne Uniform.«
Jack nickte. »Das ist ein LeT-Agent namens Khalid Mir, alias …«
Mary Pat schaute Jack überrascht an: »Abu Kashmiri?«
»Genau der.«
»Ich hatte unrecht, Jack.«
»Womit?«
»Dass dein Liebesleben interessanter sei. Kashmiri wurde vor drei Jahren getötet.«
»Wurde er das wirklich?«, fragte Ryan. »Rehan ist Khalid Mir. Und Khalid Mir ist auch als Abu Kashmiri bekannt. Wenn Rehan lebt, dann könnte man leicht abgewandelt Mark Twain zitieren …«
»Die Gerüchte über seinen Tod waren stark übertrieben«, ergänzte Mary Pat.
»Genau.«
»Ich habe das Digitalbild einer Leiche gesehen, aber die Hellfire hat ganz genau getroffen, es hätte also jeder sein können. Das ist ein Problem mit diesen Drohnenangriffen. Wenn man die DNA des Getroffenen nicht untersuchen kann, weiß man nie genau, ob es auch den Richtigen erwischt hat.«
»Wir haben wohl keine CSI Wasiristan, die nur darauf wartet, zum Tatort zu eilen, um das Beweismaterial zu sichern.«
Mary Pat lachte. »Ich hätte es nicht besser ausdrücken können.« Sie wurde wieder ernst. »Jack, warum weiß ich nichts von dieser Verbindung zwischen Kashmiri und dem ISI?«
Ryan zuckte die Achseln. Gerry hatte ihn angewiesen, nicht über Einzelheiten der Campus-Operationen zu sprechen. Er konnte ihr deshalb auch nicht erzählen, dass Caruso und Driscoll diesen Mann in Kairo gesehen hatten und die Gesichtserkennungs-Software erst durch ihr Foto diese Verbindung hergestellt hatte.
»Jack?«
Ryan zuckte zusammen.
»Lass mich raten«, sagte Mary Pat. »Senator Hendley hat dir aufgetragen, mir diese Bilder zu zeigen, aber auf keinen Fall die Quellen und Methoden zu offenbaren, durch die ihr diese Verbindung entdeckt habt.«
»Es tut mir leid.«
»Das muss es nicht. Das sind die Regeln unserer Branche. Ich respektiere das. Aber du bist nicht nur hier, um mich über diese Verbindung zu unterrichten, richtig?«
»Richtig. Dieser Brigadegeneral Riaz Rehan. Er wurde vor ein paar Tagen in Kairo gesehen.«
»Und?«
»Er hat sich mit Mustafa el-Daboussi getroffen.«
Foley runzelte die Stirn. »Das ist gar nicht gut. Und es ergibt keinen Sinn. El-Daboussi hat doch bereits einen Förderer, die Muslimbruderschaft. Er braucht den ISI doch gar nicht. Und der ISI verfügt daheim in Pakistan über genug militante Organisationen, die nach seiner Pfeife tanzen. Warum sollte Rehan also nach Kairo reisen?«
Jack wusste, was Mary Pat Foley gerade dachte, aber nicht aussprach. Sie durfte ihm nichts über el-Daboussis Ausbildungslager in Westägypten erzählen. Das war eine Geheimsache. Allerdings hatte der Campus davon erfahren, als dessen IT-Leute eine Meldung der CIA an das NCTC abgehört hatten.
»Wir wissen es nicht. Es hat uns auch überrascht.«
Als das Sushi serviert wurde, aßen sie erst einmal eine Zeit lang schweigend. Mary Pat Foley bewies jedoch ihr Multitasking-Talent und schaute auf ihrem iPad irgendeine Datenbank durch. Jack vermutete, dass es sich um vertrauliche Informationen handelte, aber er fragte nicht nach. Zuerst fühlte er sich bei dem Gedanken etwas unwohl, dass er und seine Organisation in gewisser Weise das NCTC und dessen Arbeit ausspionierten, kam jedoch schnell damit ins Reine. Er brauchte nur dieses Gespräch hier als Beispiel zu nehmen. Er und seine Kollegen waren auf der Grundlage von Informationen der US-Geheimdienste durch eigene Anstrengungen zu völlig neuen Erkenntnissen gelangt, die sie jetzt den entsprechenden Stellen umsonst zur Verfügung stellten.
Der Campus machte das bereits seit fast einem Jahr. Es war eine gute Beziehung, obwohl ein Beteiligter an dieser Romanze den anderen gar nicht kannte.
Mary Pat schaute Ryan an. »Also, ich weiß jetzt, warum General Rehan nicht auf meinem Radarschirm war. Er ist kein Bart.«
»Was ist denn ein Bart?«
»Ein Islamist in den pakistanischen Streitkräften. Du weißt vielleicht, dass die Armee dort zutiefst gespalten ist. Die einen erstreben eine theokratische Herrschaft. Die anderen sind zwar auch gute Muslime, wollen jedoch eine Nation mit einer weltlichen Demokratie. Diese beiden Lager gibt es in Pakistan bereits seit sechzig Jahren. Die Anhänger einer theokratischen Regierung heißen bei uns seit Langem ›Bärte‹.«
»Also ist Rehan Verfechter einer weltlichen Regierung?«
»Aufgrund des wenigen, das wir über diesen Mann wissen, nahm die CIA das bisher an. Allerdings besitzen wir außer dem Namen und einem Foto überhaupt keine biografischen Angaben über diesen Mann. Wir wissen nur, dass er vor einem Jahr vom Oberst zum Brigadegeneral befördert wurde. Jetzt, wo du mir gezeigt hast, dass er auch Abu Kashmiri ist, lehne ich mich aus dem Fenster und behaupte, dass sich die CIA geirrt hat. Kashmiri war bestimmt kein Antiklerikaler.«
Jack nippte an seinem Diet Coke. Er selbst war sich nicht sicher, wie wichtig diese Information überhaupt war, aber Mary Pat schien sie richtiggehend zu beflügeln.
»Jack, ich bin wirklich froh, dass ihr an dieser Sache gearbeitet habt.«
»Wirklich? Warum?«
»Weil ich ein wenig besorgt war, du könntest etwas mit dieser Schießerei in Paris zu tun haben. Natürlich nicht du persönlich, aber Chavez und Clark. Aber wenn ihr in Kairo recherchiert habt, konntet ihr ja nicht gleichzeitig in Paris einen Einsatz durchführen.«
Ryan lächelte nur. »He, ich kann dir nicht erzählen, worin wir verwickelt sind und worin nicht. Quellen und Methoden sind geheim, heißt es nicht so?«
Mary Pat Foley legte den Kopf etwas schief. Jack merkte, dass sie gerade aus ihm schlau zu werden versuchte.
Er wechselte schnell das Thema. »Also … Melanie ist Single und lebt in Alexandria, nicht?«