29
Die Jamaat Shariat nutzte das Bauernhaus unmittelbar westlich von Wolgograd von Zeit zu Zeit, wenn sie im Norden ihres eigentlichen Einflussbereichs etwas zu erledigen hatte. Das Anwesen lag ganz in der Nähe des Flughafens, aber weit entfernt vom geschäftigen Treiben der Innenstadt. Es genügten deshalb auch ein paar Wachleute, die über die Feldwege der Umgebung patrouillierten, und eine Handvoll dagestanischer Kämpfer, die die Abzweigung von der Hauptstraße überwachten, um diese Treffen vor der russischen Polizei oder der Miliz für innere Sicherheit zu schützen.
Safronow musste sich abtasten lassen und identifizieren, als er aus dem Wagen ausstieg. Dann führte man ihn in das schwach beleuchtete Bauernhaus. Die Frauen in der Küche wandten ihre Augen ab, als er sie begrüßte. Die Wachen brachten ihn in die große Stube, wo ihn sein geistlicher Führer begrüßte, den seine Anhänger ehrfurchtsvoll Abu Dagestani nannten.
Ein niedriger Tisch war mit einer Spitzentischdecke geschmückt. Die Frauen stellten eine Schale mit Trauben, einen Teller mit kleinen eingepackten Süßigkeiten und eine Zweiliterflasche Fanta auf den Tisch und verschwanden wieder.
Safronow strahlte vor Stolz, wie er es immer tat, wenn er dem geistlichen Führer einer Organisation begegnete, die für die Rechte und die Zukunft von Georgijs eigenem Volk kämpfte. Er wusste, dass man ihn nicht hierherbeordert hätte, wenn es nicht äußerst wichtig gewesen wäre. Bestimmt hatte die Gefangennahme Israpil Nabijews im vergangenen Monat etwas damit zu tun. Die russischen Behörden hatten nicht berichtet, dass sie den Mann lebend gefasst hatten, aber Überlebende des Angriffs auf das dagestanische Dorf hatten gesehen, wie er in einen Hubschrauber gebracht wurde.
Der russische Raumfahrtunternehmer erwartete, dass Suleiman Murschidow ihn um Geld bitten würde. Vielleicht eine große Summe, mit der er Israpil freikaufen konnte. Georgij war begeistert, dass er zum ersten Mal eine maßgebliche Rolle im Kampf seines Volkes spielen sollte.
Der alte Mann saß auf der anderen Seite des Tischs auf dem Boden. Hinter ihm saßen zwei seiner Söhne auf Stühlen, die allerdings so weit entfernt waren, dass sie sich an der Unterredung nicht beteiligen konnten. In den letzten Minuten hatte sich Murschidow nach Georgijs Anfahrt und nach seiner Arbeit erkundigt und ihn über die neuesten Entwicklungen im Kaukasus informiert. Safronow liebte diesen alten Mann weit mehr als seinen eigenen Vater, der ihn verraten und von seinem eigenen Volk entfremdet und ihn in etwas zu verwandeln versucht hatte, was er nicht war. Abu Dagestani hatte ihm dagegen seine Identität zurückgegeben.
Der bärtige Alte blickte ihn an und sagte: »Mein Sohn, du Sohn Dagestans, Allah unterstützt unseren Widerstand gegen Moskau.«
»Das ist wohl wahr, Abu Dagestani!«
»Ich habe von einer Möglichkeit erfahren, wie wir unsere gemeinsame Sache mit deiner Hilfe auf eine Weise befördern können, wie sie sich uns bisher noch nicht geboten hat. Sie würde mehr bewirken als ein Krieg und mehr als Bruder Israpil mit all seinen Kämpfern.«
»Sage mir nur, was du benötigst. Du weißt, dass ich dich schon oft gebeten habe, eine Rolle in unserem Kampf spielen zu dürfen.«
»Erinnerst du dich, was du mir gesagt hast, als du letztes Jahr hier warst?«
Safronow dachte zurück. Er hatte alle seine Ideen aufgezählt, wie er der Sache der Jamaat Shariat vielleicht nützen könnte. Georgij arbeitete immer wieder die Nächte durch, um entsprechende Pläne zu entwickeln. Bei seinen alljährlichen Besuchen in Machatschkala trug er Murschidow dann die besten Ideen vor. Er wusste jetzt allerdings nicht, auf welche sein Führer sich gerade bezog. »Ich … Was genau meinst du, Vater von Dagestan?«
Die Lippen des Alten kräuselten sich ganz leicht zu einem Lächeln. »Du hast mir erzählt, du seist ein mächtiger Mann und dass du die Raketen kontrollierst, die in den Weltraum aufsteigen. Und dass du deine Raketen so umleiten könntest, dass sie Moskau treffen.«
Einerseits strahlte Safronow jetzt vor Begeisterung. Gleichzeitig war er jedoch besorgt und bestürzt. Tatsächlich hatte er dem Alten über seine zahlreichen Ideen erzählt, wie er an den Russen, die mit ihm lebten und zusammenarbeiteten, Vergeltung üben könnte. Am fantastischsten war dabei sein Vorschlag, den Kurs einer seiner Trägerraketen so zu verändern, dass sie nicht ihre Umlaufbahn erreichen, sondern mitsamt ihrer Nutzlast auf eine große Stadt stürzen würde. Es gab bei diesem Plan allerdings Dutzende von Problemen. Trotzdem war er nicht ganz unmöglich.
Safronow wusste, dass jetzt nicht die Zeit war, Zweifel zu zeigen. »Ja! Ich schwöre, dass ich das tun kann! Ein Wort von dir, und ich werde die Russen zwingen, uns entweder unseren militärischen Führer zurückzugeben oder für dieses Verbrechen zu büßen.«
Murschidow wollte etwas sagen, aber Safronow war inzwischen so begeistert, dass er einfach weitersprach: »Am besten wäre es, einen solchen Angriff gegen eine Ölraffinerie zu führen, selbst wenn diese außerhalb der Stadt liegt. Die Raketenkapsel selbst ist nicht explosiv. Obgleich sie beim Aufprall eine hohe Geschwindigkeit besitzt, sollte sie auf etwas Brennbares oder Explosives stürzen, um einen möglichst großen Schaden anzurichten.« Georgij hatte Angst, der Alte könnte jetzt enttäuscht sein. Er hatte es im Jahr zuvor wahrscheinlich versäumt, ihm eine realistische Einschätzung der Auswirkungen eines solchen Raketeneinschlags vorzutragen.
Murschidow stellte ihm jedoch nur eine Frage: »Wären deine Waffen schlagkräftiger, wenn sie mit Atombomben bestückt wären?«
Safronow zuckte zurück. Dann stotterte er: »Nun … ja. Natürlich. Aber das ist nicht möglich, und selbst ohne sie kann man diese Raketen immer noch als eindrucksvolle konventionelle Waffe einsetzen. Mit einem Tanklager als Ziel …«
»Warum ist das nicht möglich?«
»Weil ich keine Bomben habe, Vater.«
»Würdest du den Plan durchführen, wenn du welche hättest? Oder wird dein Herz durch den Gedanken an die Hunderttausende von Toten schwer?«
Safronow reckte das Kinn. Das war eine Prüfung. Eine hypothetische Frage. »Wenn ich Bomben hätte, würde ich sogar mit noch größerer Leidenschaft handeln. Mein Herz kennt da keinen Zweifel.«
»Heute ist ein Mann hier, den du kennenlernen solltest. Ein Ausländer.«
Safronow hatte keinen Ausländer gesehen. Gehörte das auch zu der hypothetischen Prüfung? »Was denn für ein Mann?«
»Er wird dir selbst erklären, wer er ist. Rede mit ihm. Ich vertraue ihm. Er wird von unseren Brüdern in Tschetschenien hoch geachtet.«
»Natürlich werde ich mit ihm sprechen, Abu Dagestani.«
Suleiman Murschidow gab einem seiner Söhne ein Zeichen, und der forderte Safronow auf, ihm zu folgen. Georgij, der von den Geschehnissen völlig verwirrt war, stand auf und folgte dem Mann die Treppe hinauf in ein großes Schlafzimmer. Dort standen drei Männer in Freizeitkleidung, über deren Schultern Maschinenpistolen hingen. Das waren keine Dagestaner, aber auch keine Araber. Ein Mann war sehr groß und hatte etwa Georgijs Alter. Die beiden anderen waren jünger.
»As salaam aleikum«, grüßte der Ältere. Also sprachen sie doch arabisch.
»Wa aleikum as salaam«, antwortete Safronow.
»Heben Sie bitte die Arme in die Luft.«
»Wie bitte?«
»Bitte, mein Freund.«
Safronow folgte etwas unsicher der Aufforderung. Die beiden jungen Männer traten an ihn heran und tasteten ihn gründlich ab, ohne dabei respektlos zu erscheinen.
Als das erledigt war, bat der Ältere Safronow, neben ihm auf einem abgenutzten Sofa Platz zu nehmen, das an der Wand stand. Beide Männer setzten sich, und einer der beiden Jüngeren stellte zwei Gläser Orangenlimonade vor ihnen auf den Tisch.
»Herr Safronow, Sie können mich General Ijaz nennen. Ich bin ein General der pakistanischen Streitkräfte.«
Georgij schüttelte dem Mann die Hand. Pakistan? Interessant. Langsam bekamen Suleiman Murschidows vorherige Bemerkungen einen gewissen Hintergrund.
»Sie sind Dagestaner? Und ein gläubiger Muslim?«, fragte Rehan.
»Ich bin beides, General.«
»Suleiman hat versichert, Sie seien genau der Mann, mit dem ich sprechen muss.«
»Ich hoffe, ich kann Ihnen dienlich sein.«
»Sie sind der Leiter der russischen Raumfahrt?«
Safronow wollte eigentlich den Kopf schütteln. Trotz seiner Rolle als Präsident und Hauptanteilseigner der Kosmos-Raumfahrtgesellschaft war das eine ziemliche Übertreibung. Aber er tat es dann doch nicht. Dies war nicht die Zeit, sein Licht unter den Scheffel zu stellen, wenngleich er seinen Gesprächspartner jetzt über seine genaue Position aufklärte. »Das stimmt beinahe, General Ijaz. Tatsächlich bin ich Präsident des Unternehmens, das eine der besten russischen Trägerraketen besitzt und betreibt.«
»Und was befördern Sie in den Weltraum?«
»Hauptsächlich Satelliten auf ihre Umlaufbahn. Wir haben im letzten Jahr einundzwanzig erfolgreiche Starts durchgeführt. Nächstes Jahr erwarten wir sogar vierundzwanzig.«
»Ihnen gehören also die Raketen, mit denen Sie die Raumflüge durchführen?«
Safronow nickte. Der Stolz auf sich und das Unternehmen, das er in den vergangenen fünfzehn Jahren aufgebaut hatte, war ihm deutlich anzusehen. »Unsere Hauptträgerrakete ist die Dnjepr-1. Es ist eine umgewandelte RM-36.«
Rehan starrte den Russen unverwandt an. Er wollte auf keinen Fall zugeben, dass er überhaupt nichts von dieser Materie verstand. Er wartete deshalb schweigend ab, bis dieser kleine Mann weitere Erklärungen nachschob.
»Die RM-36, General, ist eine ballistische Interkontinentalrakete. Russland … ich sollte sagen die Sowjetunion, beförderte mit ihr nukleare Gefechtsköpfe. Erst in den Neunzigerjahren wandelte unser Unternehmen dieses System in eine zivile Trägerrakete um.«
Rehan nickte nachdenklich. Er tat so, als ob ihn das alles nicht allzu sehr interessierte. Tatsächlich war es für ihn eine unglaubliche Nachricht, die er so nicht unbedingt erwartet hatte.
»Und welche Fracht kann Ihre Rakete befördern, Herr Safronow?«
Georgij lächelte verständnisinnig. Er erinnerte sich an Murschidows Fragen und verstand jetzt, was hier vor sich ging. Er verstand auch, dass es sein Job war, dem streng dreinschauenden Pakistani diese Idee zu verkaufen.
»General, wir können mit ihr alles befördern, was Sie wollen, solange es in die Nutzlastverkleidung hineinpasst.«
»Die Geräte, an die ich denke, sind 3,83 Meter lang und 46 Zentimeter breit.«
»Und ihr Gewicht?«
»Etwas mehr als tausend Kilogramm.«
Der Russe nickte erfreut. »Das lässt sich machen.«
»Ausgezeichnet.«
»Sind Sie bereit, mir zu erzählen, um welche Fracht es sich hier handelt?«
Der Mann, den Safronow als General Ijaz kannte, schaute ihm in die Augen. »Atombomben. Mit einer Sprengkraft von zwanzig Kilotonnen.«
»Bomben? Keine Raketensprengköpfe?«
»Nein. Es sind Bomben, die aus einem Flugzeug abgeworfen werden. Ist das ein Problem?«
»Ich weiß nicht viel über Ihre Bomben. Ich kenne eher die russischen nuklearen Raketensprengköpfe aus meiner Zeit beim Militär. Aber ich weiß, dass man die Bomben aus ihrer Hülle herausnehmen kann, um sie leichter und kleiner zu machen. Das wird ihre Sprengkraft in keiner Weise beeinträchtigen. Wir werden das tun müssen, um sie in die Nutzlastverkleidungen unserer Trägerraketen hineinzubekommen.«
»Ich verstehe«, sagte Rehan. »Sagen Sie mir noch eines. Ihre Raketen … wohin können Sie die lenken?«
Jetzt nahm Safronows Gesicht einen eher vorsichtigen Ausdruck an. Er wollte schon etwas sagen, unterließ es dann aber doch lieber. Es war lediglich ein unverständliches Gemurmel zu hören.
»Ich bin einfach nur neugierig, mein Freund«, sagte Rehan. »Wenn ich mich entscheide, Ihrer Organisation diese Vorrichtungen zu überlassen, dann können Sie damit tun, was immer Sie wollen.« Rehan lächelte noch breiter. »Obwohl ich es vorziehen würde, wenn Sie nicht gerade Islamabad als Ziel auswählen.«
Safronow entspannte sich ein wenig. Einen Augenblick lang hatte er befürchtet, dass er diese Operation im Auftrag der Pakistaner erledigen sollte. Safronow würde dies nicht für Geld tun. Er würde dies nur für seine Sache tun.
»General Ijaz, meine Raketen fliegen überall dorthin, wohin ich es ihnen befehle. Aber eines steht fest. Eine von ihnen wird auf dem Roten Platz einschlagen.«
Rehan nickte. »Ausgezeichnet«, sagte er. »Endlich wird Moskau zu Ihren Füßen um Gnade winseln. Sie und Ihr Volk werden endlich bekommen, was Sie schon so lange erstreben: Ein islamisches Kalifat im Kaukasus.«
Der dünne Russe mit seiner jungenhaften Stirntolle lächelte, seine Augenränder röteten sich und wurden feucht, und die beiden Männer umarmten sich in der kalten Dachstube.
Als Riaz Rehan den kleineren Mann an sich drückte, musste der pakistanische General ebenfalls lächeln. Er hatte solche Glaubenseiferer und Kriminelle zu seinen Gunsten ausgenutzt, seit er ein vierzehnjähriger Junge war, und er war sehr, sehr gut darin.
Nach der emotionalen Umarmung kehrte Rehan zum Geschäftlichen zurück. »Herr Safronow. Sie werden in den nächsten Tagen leise Gerüchte über Fremde hören, die Fragen nach Ihnen, Ihrer Vergangenheit, Ihrem Hintergrund, Ihrer Ausbildung und Ihrem Glauben stellen.«
»Und wozu das alles?«
»Zuallererst, weil ich genau wissen muss, mit wem ich es bei Ihnen zu tun habe.«
»General Ijaz. Ich kann das vollkommen verstehen. Sie und Ihr Geheimdienst können mich in jeder Hinsicht durchleuchten, aber bitte beeilen Sie sich damit! Am Ende des Jahres sind drei Starts angesetzt. Drei Dnjepr-1-Raketen werden an drei Tagen hintereinander drei Satelliten für je ein amerikanisches, britisches und japanisches Unternehmen in den Weltraum befördern.«
»Ich verstehe«, sagte Rehan. »Und Sie werden dort sein?«
»Das hatte ich eigentlich vor.« Safronow lächelte. »Aber Sie geben mir jetzt noch einen Grund mehr.«
Den Rest des Nachmittags und bis in den Abend hinein beredeten die beiden Männer alle Details. Sie beteten zusammen. Als Rehan danach zum Flughafen von Wolgograd zurückkehrte, war er bereit, diesem tatkräftigen dagestanischen Partisanen die Bomben zu übergeben.
Aber jetzt musste er sie erst einmal in die Hand bekommen. Doch auch dafür hatte er einen Plan. Allerdings gab es da noch eine Menge zu tun. Die Operation Saker, ein Plan, an dem er bereits seit Jahren arbeitete, würde beginnen, sobald er nach Pakistan zurückgekehrt war.