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Die beiden Bomben fanden sich nur Tage später im Himmel über Pakistan wieder. Rehan und seine Männer hatten sie in Container mit der Aufschrift »Textile Manufacturing, Ltd.« verpackt. Danach wurden sie in eine Antonow-An-26-Frachtmaschine der pakistanischen Charterfluggesellschaft Vision Air geladen.
Das erste Ziel war Duschanbe, die Hauptstadt Tadschikistans.
General Rehan hätte am liebsten die Dagestaner sofort an einen Ort befördert, wo sie der Öffentlichkeit mitteilen konnten, was sie getan hatten, und die ganze Welt mit ihren Bomben und Raketen bedrohen würden. Er wusste jedoch, dass Georgij Safronow klüger war als alle anderen Zellenmitglieder, Rebellenführer und Geheimdienstagenten, mit denen er in seiner ganzen Laufbahn zusammengearbeitet hatte. Georgij verstand mindestens so viel von Atomwaffen wie Rehan. Dem General war deshalb klar, dass er Safronows Operation zu hundert Prozent auch mit eigenen Mitteln unterstützen musste.
Dazu benötigten sie erst einmal zwei Dinge: einen privaten und sicheren Ort außerhalb von Pakistan, wo sie die Bomben einsatzbereit machen und in die Nutzlastcontainer der Dnjepr-1 einpassen konnten, und jemand, der das technische Wissen besaß, um das zu erledigen.
Der bilaterale Handel zwischen Tadschikistan und Pakistan war in den vergangenen vier Jahren sprunghaft angestiegen, und Frachtflüge zwischen Pakistan und Duschanbe waren mittlerweile Alltag geworden. Duschanbe lag außerdem auf halbem Weg zwischen Pakistan und dem Endziel der Nuklearwaffen, dem Kosmodrom Baikonur.
Die An-26 hatte bei ihrem Abflug von Lahore neben den beiden Frachtcontainern zwölf Passagiere an Bord: Rehan, Safronow, Khan, sieben Leibwächter Rehans und zwei pakistanische Kernwaffenexperten. Die Jamaat-Shariat-Kämpfer waren in einem zweiten Frachtflugzeug von Vision Air ebenfalls nach Duschanbe unterwegs.
Rehans JIM-Direktorat hatte die tadschikischen Zöllner und das dortige Flughafenpersonal bereits mit hohen Summen bestochen. Die beiden Flugzeuge würden also nach der Landung ihre Ladung und ihre Crew ohne Probleme ausladen können. Ein Mitglied der Stadtregierung von Duschanbe, das seit Langem als bezahlter Informant und Auslandsagent des ISI tätig war, würde sie auf dem Flughafenvorfeld mit Lastwagen, Fahrern und weiteren Frachtcontainern, die erst kürzlich aus Moskau angekommen waren, erwarten.
Der Campus war rund um die Uhr auf der Suche nach den Atombomben. Die CIA hatte nur Stunden nach dem Überfall interne ISI-Kommunikationen aufgefangen, und Langley und das National Counterterrorism Center in Liberty Crossing untersuchten in den folgenden Tagen, ob und wie weit der ISI an der Sache beteiligt war.
Das NCTC hatte weitere Informationen über Riaz Rehan aufgetan. Einiges davon hatte ihnen der Campus zugespielt, aber das meiste verdankten sie der Arbeit von Melanie Kraft. Jack Ryan und seine Analystenkollegen schauten ihr dabei meistens über die Schulter. Ryan war das irgendwie unheimlich, aber wenn Melanie auf etwas stieß, was sofortiges Handeln erforderte, konnte der Campus als Erster tätig werden.
Tony Wills arbeitete mit Ryan zusammen. Mehr als einmal hatte er sich dabei Melanie Krafts Rechercheergebnisse angeschaut und gemeint: »Deine Freundin ist klüger als du, Ryan.«
Jack glaubte, dass Wills nur zur Hälfte recht hatte. Sie war zwar klüger als er, aber er war sich nicht sicher, ob sie auch seine Freundin war.
Den Pakistanern gelang es auf bewundernswerte Weise, den Verlust der beiden Atombomben ganze achtundvierzig Stunden lang vor ihrer eigenen Öffentlichkeit und der Weltpresse geheim zu halten. In dieser Zeit unternahmen sie alles, um die Schuldigen zu ermitteln und die Bomben zu finden, aber die pakistanische Bundespolizei FIA erzielte keinerlei Ergebnisse. Es gab sofort Befürchtungen, dass es sich um einen Insiderjob handeln und der ISI darin verwickelt sein könnte. Aber die pakistanische Armee und der ISI waren weit mächtiger als die FIA, sodass diese Befürchtungen keine ernsthaften Ermittlungen nach sich zogen.
Als dann schließlich doch herauskam, dass es innerhalb Pakistans einen massiven Terrorangriff auf eine Eisenbahnlinie gegeben hatte, erfuhr die pakistanische Presse durch ihre Quellen in der Regierung schnell, dass an Bord des Zugs Nuklearwaffen gewesen waren. Als binnen Stunden offiziell bestätigt wurde, dass die beiden Nuklearsprengsätze, deren Typ und Sprengkraft nicht spezifiziert wurden, von unbekannten Kräften geraubt worden waren, betonten die höchsten Stellen des Militärs, der Regierung und der pakistanischen Atomenergiekommission PAEC, dass der Diebstahl der Waffen keine schwerwiegenden Konsequenzen habe. Man erklärte, dass die Sprengsätze mit einem sogenannten Fail-Safe-Zündungscode ausgerüstet seien, der es Unbefugten unmöglich mache, die Nuklearwaffen scharf zu machen und auszulösen.
Alle Parteien, die das behaupteten, taten dies nach bestem Wissen und Gewissen, und tatsächlich stimmte es auch. Allerdings behielt eine der beteiligten Parteien eine wichtige Information für sich, die im höchsten Maße relevant war.
Der Direktor der pakistanischen Atomenergiekommission verschwieg seiner Regierung, der Militärführung und der Öffentlichkeit, dass zwei seiner wichtigsten Nuklearphysiker, die diese Zündungscodes überbrücken und die Zündungssysteme rekonfigurieren konnten, im selben Moment wie die Bomben abhandengekommen waren.
Am nächsten Morgen standen die beiden Container, die angeblich der Firma Textile Manufacturing, Ltd. gehörten, auf einem staubigen Betonboden in einer Schulbusreparaturwerkstatt an der Kurban-Rachimow-Straße im nördlichen Teil von Duschanbe. Rehan und Safronow waren beide sehr zufrieden, für diesen Teil ihrer Operation eine solch günstige Örtlichkeit gefunden zu haben. Die ganze Anlage war von einer Mauer umgeben und nur durch ein Eingangstor betretbar. Von den baumgesäumten Straßen aus war deshalb nicht zu erkennen, dass sich fünfzig Ausländer auf dem Gelände aufhielten und arbeiteten. Dutzende von Lastwagen und Schulbussen standen im unterschiedlichsten Erhaltungszustand auf dem Hof herum. Die dagestanischen und pakistanischen Lkw fielen zwischen ihnen auch aus der Luft überhaupt nicht auf. Das große Werkstattgebäude war groß genug, um darin mehrere Schulbusse gleichzeitig reparieren zu können. Für die Bomben reichte der Platz allemal aus. Außerdem gab es auf dem Gelände zahlreiche Motorheber, Werkstattkräne und Hebegestelle, die eigentlich für die Montage schwerer Schulbusmotoren gedacht waren.
Die einzigen Männer, die nicht einfach so herumstanden, sondern wirklich etwas taten, waren die beiden Physiker, die sonst für die pakistanische Atomenergiekommission tätig waren. Daheim in Pakistan wurden sie bereits vermisst. Die wenigen Menschen, die von ihrem Verschwinden wussten, sie aber nicht persönlich kannten, nahmen an, sie seien von Terroristen entführt worden. Wer sie jedoch kannte, glaubte keinen Augenblick daran, dass sie jemand erst dazu zwingen musste. Fast alle ihre Kollegen wussten, dass sie radikale Islamisten waren. Einige hatten das akzeptiert, bei anderen hatte das ein gewisses Unbehagen verursacht. Trotzdem hatten sie dazu geschwiegen.
Beide Gruppen vermuteten jetzt, dass sie in die Sache verstrickt waren.
Tatsächlich waren die beiden Physiker, Dr. Nishtar und Dr. Noon, der festen Ansicht, dass Pakistans Nuklearwaffen kein Eigentum der Zivilregierung seien. Auch sollten sie nicht mit hohem Kostenaufwand – von den Gefahren ganz zu schweigen – hergestellt und gelagert werden, nur um dann als eine Art hypothetisches Abschreckungsmittel, als unsichtbare Schachfigur, zu dienen. Nein. Pakistans Atomwaffen gehörten der Umma, der Gemeinschaft der Muslime. Sie sollten deshalb dem Wohl aller Gläubigen dienen.
Die beiden Physiker waren Riaz Rehan treu ergeben, und sie waren sich sicher, dass jetzt der richtige Zeitpunkt war, weil er ihnen das sagte. Noon und Nishtar verstanden nicht alles, was da um sie herum vor sich ging, aber ihre Aufgabe war ihnen klar. Sie mussten die Waffen einsatzbereit machen und den Einbau in die Nutzlastcontainer überwachen. Danach würden sie mit dem ISI-General nach Pakistan zurückkehren und dort untertauchen, bis Rehan ihnen verkündete, es sei jetzt für sie sicher, wieder an die Öffentlichkeit zu treten, um als Helden des Staates geehrt zu werden.
Noon und Nishtar arbeiteten jetzt bereits mehr als drei Stunden in der kalten Werkstatt. Ab und zu wärmten sie ihre Hände über einem Brikettofen auf, der in einer Ecke stand. Gerade entfernten sie die nuklearen Sprengsätze aus ihren Mk84-Bombenhüllen. Dies war notwendig, damit sie später in die Nutzlastverkleidungen hineinpassen würden. Einige von Rehans Leibwächtern standen bereit, um ihnen mit Motorhebern und Hebebühnen zu helfen. Safronow bot seine Jamaat-Shariat-Männer für diese Arbeit an, aber Rehan lehnte ab. Sie sollten stattdessen das Werkstattgelände nach außen sichern. Sobald die Bomben Duschanbe verließen, würden sie Safronow gehören. Im Moment seien sie jedoch in seiner, Rehans, Obhut und seine eigenen Leute würden sich darum kümmern.
Als Noon und Nishtar einige Daten in einem Laptop nachschauten, der auf einem Tisch neben dem Nutzlastcontainer stand, traten Rehan und Safronow hinter sie. Der General legte den beiden Männern seine dicken Pranken auf die Schulter. »Meine Herren, wie kommen Sie voran?«
Dr. Nishtar antwortete, während er in den Container schaute und die Konfiguration des Sprengkopfs überprüfte. »Noch ein paar Minuten, dann beginnen wir mit der zweiten Bombe. Wir haben den Startcodemechanismus überbrückt und einen Höhenzünder eingebaut.«
»Den würde ich gerne sehen.«
Noon deutete auf ein Gerät an der Seite der Bombe. Es sah wie eine metallene Aktentasche aus und enthielt mehrere verkabelte mechanische Teile sowie eine Computertastatur und eine LED-Anzeige. »Der Radarhöhenmesser ist bereits eingestellt. In einer Höhe von 18 000 Metern wird er den Sprengkopf scharf machen, und wenn dieser auf 300 Meter abgesunken ist, wird er detonieren. Der Zünder verfügt auch über ein Back-up-Barometer sowie eine manuelle Korrektureinrichtung, mit der Sie einen neuen Zündzeitpunkt einstellen können. Die werden Sie natürlich bei einem solchen Raketenstart nicht benötigen. Außerdem werden wir an der Tür des Nutzlastcontainers eine Sabotagesicherung anbringen. Wenn jemand den Container zu öffnen versucht, um die Waffe zu entwenden, wird der Atomsprengkopf explodieren.«
Georgij lächelte und nickte. Er war den Männern für ihre Unterstützung der dagestanischen Sache dankbar. »Die andere Bombe werden Sie genauso einrichten?«
»Natürlich.«
»Ausgezeichnet«, sagte Rehan und klopfte den Männern auf die Schulter. »Lassen Sie sich nicht stören.«
Einige Minuten später verließ Safronow die Werkstatt, während Rehan noch einen Moment dablieb. Er kehrte zu den beiden Physikern zurück und sagte: »Ich habe eine kleine Bitte an Sie beide.«
»Was immer Sie wünschen, General«, sagte Dr. Noon.
Neunzig Minuten später umarmte der General Georgij Safronow vor dem Werkstattgebäude. Danach schüttelte er jedem einzelnen dagestanischen Kämpfer die Hand. Er nannte sie tapfere Brüder und versprach ihnen, dass er in seinem Land Straßen nach ihnen benennen würde, wenn sie zu Märtyrern werden würden.
Dann verließen Rehan, Khan, die beiden Physiker und Rehans Leibwächtertruppe in vier Fahrzeugen das Gelände, nachdem sie jede Spur ihrer Anwesenheit beseitigt hatten. Zurück blieben die dagestanischen Kämpfer und die beiden Dnjepr-1-Nutzlastcontainer.
Nur Minuten später brachen auch die Dagestaner auf. Zuvor hatten sie die pakistanischen Geschenke vorsichtig auf ihre Sattelschlepper geladen. Jetzt stand ihnen eine lange Fahrt nach Norden bevor.
John Clark saß schon den ganzen Morgen auf einer kleinen Parkbank auf dem Puschkinplatz im Herzen Moskaus. In der Nacht zuvor waren fünf Zentimeter Schnee gefallen, aber jetzt war der Himmel wieder hell und klar. Er zog einen »taktischen Vorteil« aus der Kälte, indem er einen schweren Mantel und eine dicke Pelzmütze trug. Wenn sich jetzt seine Frau neben ihn auf die Parkbank gesetzt hätte, dann hätte sie ihn nicht erkannt.
Das kam ihm im Moment auch gut zupass. Im Park hielten sich auch noch zwei französische Muskelpakete auf, die denselben Ort beobachteten wie er. Er hatte sie und zwei ihrer Kollegen bereits am Tag zuvor entdeckt. Die beiden anderen hielten sich in einem geschlossenen Lieferwagen auf, der ein Stück weiter in der Uspenskij Pereulok parkte und dort Tag und Nacht rund um die Uhr den Motor laufen ließ. Clark hatte den dampfenden Auspuff auf einem seiner Erkundungsgänge durch die Nachbarschaft bemerkt. Es war nur eine von Dutzenden Anomalien gewesen, die sein geschultes Auge in den Straßen der Umgebung seiner Zielperson gesehen hatte. Die anderen Anomalien hatten sich nach einer kurzen Überprüfung als unbedenklich herausgestellt, aber die beiden Franzosen im Park und der Lieferwagen, der den ganzen Tag im Stehen den Motor laufen ließ, bedeuteten, dass seine Verfolger seine Zielperson als Köder benutzen wollten.
In Tallinn war ihnen das misslungen, aber hier in Moskau waren sie fest entschlossen, nicht wieder zu versagen.
Clark beobachtete aus den Augenwinkeln die Eingangstür von Oleg Kowalenkos Wohnung. Der alte russische Spion hatte sie den ganzen gestrigen Tag nicht verlassen, aber das hatte Clark nicht weiter überrascht. Ein Rentner in seinem Alter würde sich nur dann auf die vereisten Moskauer Straßen wagen, wenn es wirklich nötig war. Wahrscheinlich waren in der ganzen eiskalten Stadt Zehntausende alter Menschen über das Wochenende freiwillig in ihren winzigen Wohnungen geblieben.
Am Tag zuvor hatte Clark sich in einem Einkaufszentrum ein Prepaid-Handy gekauft. Er hatte Kowalenkos Nummer im Telefonbuch gefunden und daran gedacht, den Mann einfach anzurufen und mit ihm ein Treffen an einem sicheren Ort zu vereinbaren. Aber Clark war sich nicht sicher, ob die Franzosen das Telefon des ehemaligen KGB-Agenten nicht bereits angezapft hatten, deshalb verzichtete er darauf.
Stattdessen hatte er einen Großteil des Tages auf der Suche nach einer Möglichkeit verbracht, wie er in die Wohnung des Russen gelangen könnte, ohne die Franzosen auf sich aufmerksam zu machen. Gegen zwei Uhr nachmittags hatte er eine Idee, als eine alte Frau mit einer rosafarbenen Mütze ihr Rollwägelchen aus dem Vordereingang des Gebäudes schob und in westlicher Richtung den Platz überquerte. Er folgte ihr in einen Supermarkt, wo sie einige Lebensmittel kaufte. In der Kassenschlange stellte er sich neben sie und benutzte sein eingerostetes Russisch, um mit ihr ein Gespräch anzufangen. Er entschuldigte sich für seine schlechten Sprachkenntnisse und erklärte ihr, er sei ein amerikanischer Zeitungsreporter, der gerade an einem Artikel arbeite, wie die »echten« Moskowiter mit den Unbilden des harten Winters fertigwürden.
Clark bot ihr an, ihren Einkauf zu bezahlen, wenn sie sich zu einem kurzen Interview mit ihm bereit erklärte.
Swetlana Gasanowa war von der Gelegenheit begeistert, mit diesem netten jungen Ausländer ein Schwätzchen halten zu können. Sie bestand darauf, ihn in ihre Wohnung mitzunehmen – sie lebte schließlich ja nur ein Stück die Straße hinunter – und ihm einen Tee zu machen.
Die Späher im Park achteten nicht auf ein altes Paar, das das Gebäude betrat. Außerdem war Clark dermaßen in seinen Mantel und seine Mütze eingehüllt, dass sie ihn nicht einmal erkannt hätten, wenn er direkt vor ihrer Nase gestanden hätte. Er trug sogar den Einkaufskorb, um den Eindruck zu vermitteln, dass er in diesem Haus wohnte.
John Clark plauderte eine halbe Stunde mit der alten Rentnerin. Sein Russisch war wirklich nicht sehr gut, aber er lächelte und nickte viel und trank den mit Marmelade gesüßten Tee, den sie ihm gemacht hatte, während sie ihm von der Gasgesellschaft, ihrem Hauswirt und ihrer Schleimbeutelentzündung erzählte.
Gegen sechzehn Uhr wurde sie müde. Er dankte ihr für ihre Gastfreundschaft, schrieb sich ihre Adresse auf und versprach, ihr eine Zeitungskopie zu schicken. Sie führte ihn noch zur Wohnungstür, und er versicherte ihr, dass er sie bei seinem nächsten Moskauaufenthalt bestimmt wieder besuchen werde.
Im Treppenhaus warf er die Adresse der Frau in einen Aschenbecher und ging die Treppe hinauf statt hinunter.
Clark verzichtete darauf, an Oleg Kowalenkos Wohnungstür zu klopfen. In Frau Gasanowas Wohnung war ihm aufgefallen, dass die schweren Eichentüren in diesem alten Gebäude nur mit großen, leicht zu knackenden Stiftschlössern gesichert waren. John hatte sich bereits vor einigen Tagen in einer Pfandleihe hier in Moskau einen kleinen Satz zahnärztlicher Instrumente gekauft und sie zu Dietrichen verbogen, die er in dieser Form bereits früher in Russland benutzt hatte. Die holte er jetzt aus seiner Manteltasche: einen Halbdiamanten, eine Schlange und einen Spanner. Halbdiamant und Schlange nahm er in den Mund. Nachdem er sichergestellt hatte, dass sich außer ihm niemand im Treppenhaus aufhielt, führte er den Spanner ins Schlüsselloch ein, drehte ihn ganz leicht gegen den Uhrzeigersinn und hielt das Instrument mit seinem rechten kleinen Finger in Spannung. Dann holte er mit seiner linken Hand die Schlange aus dem Mund und schob sie über dem Spanner in das Schlüsselloch. Er hielt die Spannung mit seinem kleinen Finger aufrecht und bewegte gleichzeitig mit beiden Händen die Schlange über den federgelagerten Stiften vor und zurück und drückte sie auf diese Weise hinunter.
Am Schluss blieben noch zwei Stifte übrig. Er steckte die Schlange wieder in den Mund, nahm den Halbdiamanten, schob ihn ins Schloss und drückte dann ganz langsam die beiden letzten Stifte nach unten.
Mit einem befriedigenden Klicken, das in der Wohnung hoffentlich nicht so laut widerhallte, drehte der Spanner jetzt den Kern des Schließzylinders, und das Schloss öffnete sich.
Schnell steckte John seine Werkzeuge in die Tasche und zog seine Pistole.
Er stieß die Tür auf und schlich in die Küche der winzigen Wohnung. Dahinter lag ein abgedunkeltes kleines Wohnzimmer mit einer Couch, einem winzigen Couchtisch, einem Fernsehgerät und einem Esstisch, auf dem mehrere Schnapsflaschen standen. Der dicke Oleg Kowalenko saß mit dem Rücken zum Zimmer auf einem Stuhl am Fenster und schaute durch seine schmutzigen Vorhänge auf die Straße hinaus.
»Wie lange wird es dauern, bis sie wissen, dass ich hier bin?«, fragte Clark auf englisch.
Kowalenko fuhr zusammen, stand auf und drehte sich um. Seine Hände waren leer, sonst hätte ihm Clark eine .45er-Kugel in seinen fetten Bauch gejagt.
Der dicke Russe fasste sich an die Brust. Sein Herz schlug ihm offensichtlich bis zum Hals vor Schreck. Nach kurzer Zeit setzte er sich jedoch wieder hin. »Ich weiß es nicht. Haben sie Sie hineingehen sehen?«
»Nein.«
»Dann brauchen Sie keine Angst zu haben. Sie haben mehr als genug Zeit, um mich zu töten.«
Clark senkte die Pistole und schaute sich um. Selbst Manfred Kromms kleine Wohnung war besser gewesen als das hier. Scheiße, dachte der Amerikaner. So wenig Dank für all die Jahre im Dienste des Landes. Dieser alte russische Spion, der alte ostdeutsche Spion Kromm und John Clark, selbst ein alter amerikanischer Spion.
Drei Männer, die dasselbe Schicksal ereilt hatte.
»Ich werde Sie nicht töten.« Clark nickte in Richtung der leeren Wodkaflaschen. »Sie sehen nicht so aus, als ob Sie dazu meine Hilfe bräuchten.«
Kowalenko dachte darüber nach. »Dann wollen Sie Informationen haben?«
Jetzt zuckte Clark die Achseln. »Ich weiß, dass Sie Paul Laska in London getroffen haben. Ich weiß, dass auch Ihr Sohn Walentin in die Sache verwickelt ist.«
»Walentin befolgt die Befehle seiner Vorgesetzten, so wie Sie das tun. Und so wie ich es getan habe. Er hat nichts Persönliches gegen Sie.«
»Was sind das für Typen da drüben im Park?«
»Ich glaube, Laska hat sie geschickt, damit sie Sie fangen«, sagte Kowalenko. »Sie arbeiten für die französische Detektei Fabrice Bertrand-Morel. Mein Sohn ist wieder in London, sein Anteil an dieser Affäre war rein politisch und gewaltlos. Er hatte mit den Männern, die Sie jagen, nichts zu tun.« Der alte Russe nickte in Richtung der Pistole in Clarks Rechter. »Ich wäre überrascht, wenn mein Junge jemals eine Waffe angerührt hat.« Er kicherte. »Er ist so verdammt zivilisiert.«
»Stehen Sie mit den Männern dort unten in Kontakt?«
»In Kontakt? Nein. Sie sind bei mir gewesen. Sie haben mir von Ihnen erzählt. Sie würden hierherkommen, aber sie würden mich schützen. Bis vorgestern hatte ich noch nie von Ihnen gehört. Ich habe nur das Treffen zwischen Walentin und Pavel … Entschuldigung … Paul organisiert. Sie haben mir nicht erzählt, worüber sie sich unterhalten haben.«
»Laska arbeitete in der Tschechoslowakei für den KGB.« Clark äußerte das als Feststellung.
Kowalenko leugnete das nicht ab. Er sagte nur: »Pavel Laska war ein Feind eines jeden Landes, in dem er je gelebt hat.«
John fällte über Laska kein Urteil. Der amerikanische Ex-CIA-Agent wusste, dass der skrupellose KGB den Geist des jungen Paul Laska zerstört und ihn zu etwas gemacht haben könnte, was er freiwillig nie geworden wäre.
Das Schlachtfeld des Kalten Kriegs war von gebrochenen Menschen übersät.
»Ich mache mir jetzt einen Drink, wenn Sie mir versprechen, dass Sie mir nicht in den Rücken schießen werden«, sagte Oleg. Clark winkte ihn zu seinen Flaschen hinüber, und der dicke Russe beugte sich über den Tisch. »Wollen Sie auch etwas?«
»Nein.«
»Also, was haben Sie jetzt von mir erfahren? Nichts. Fahren Sie heim. In ein paar Wochen haben Sie einen neuen Präsidenten. Er wird Sie schützen.«
Clark sagte es nicht, aber nicht er suchte bei Jack Ryan Schutz. Es war gerade umgekehrt. Er musste Ryan davor bewahren, dass er durch die Verbindung zu ihm und dem Campus bloßgestellt wurde.
Kowalenko stand am Tisch und goss sich ein großes Glas Wodka ein. Er ging mit der Flasche und mit dem Glas in der Hand zu seinem Stuhl zurück.
»Ich möchte mit Ihrem Sohn sprechen.«
»Ich kann sein Büro in der Londoner Botschaft anrufen. Aber ich bezweifle, dass er zurückrufen wird.« Kowalenko kippte das halbe Glas hinunter und stellte die Flasche auf das Fensterbrett. Dabei schob er sie leicht gegen die Vorhänge. »Sie hätten vielleicht mehr Glück, wenn Sie ihn selbst anrufen würden.«
Der Russe schien die Wahrheit zu sagen. Er hatte keine großartige Beziehung zu seinem Sohn, und dieser war ganz bestimmt nicht hier. Vielleicht kam Clark in London irgendwie an ihn heran. Er musste es zumindest versuchen. Nach Moskau zu kommen, um vom alten Oleg irgendwelche Informationen zu erhalten, war eine Sackgasse gewesen.
Clark steckte seine Pistole in die Tasche zurück. »Ich lasse Sie jetzt bei Ihrem Wodka. Wenn Sie mal mit Ihrem Jungen reden, sagen Sie ihm, ich würde gerne mit ihm sprechen. Nur ein freundliches Gespräch. Er wird von mir hören.«
Der Amerikaner drehte sich um, um durch die Küche die Wohnung zu verlassen, aber der russische Rentner rief hinter ihm her. »Wollen Sie wirklich nicht einen mit mir trinken? Es wird Sie aufwärmen.«
»Njet«, sagte John, als er an die Wohnungstür kam.
»Vielleicht könnten wir über alte Zeiten reden.«
Clarks Hand stoppte kurz über der Türklinke. Er drehte sich um und kehrte ins Wohnzimmer zurück.
Oleg zwang sich ein kleines Lächeln ab. »Ich bekomme nicht viel Besuch. Da kann ich nicht auch noch wählerisch sein, oder?«
Clark ließ die Augen in Windeseile noch einmal durch das ganze Zimmer wandern. Sein Blick blieb an der Wodkaflasche auf dem Fensterbrett hängen. Oleg hatte sie vorhin so gegen die Vorhänge gedrückt, dass diese jetzt geschlossen waren.
Es war ein Signal an die Männer im Park. »Scheißkerl«, rief Clark und rannte durch die Küche und durch die Tür ins Treppenhaus.
Dort hörte er das Zirpen eines Walkie-Talkies und die schweren Schritte zweier Männer. John rannte zum nächsten Treppenabsatz hinauf. Dort stand ein schwerer metallener Abfalleimer. Er legte ihn vor der obersten Stufe auf die Seite und wartete, bis die Männer fast auf dem nächstunteren Treppenabsatz angekommen waren. Dann versetzte er dem Eimer einen Tritt. Er sah gerade noch, wie der erste Mann um den Absatz herumkam. Er hatte einen schweren schwarzen Mantel an und hielt eine kleine schwarze Pistole und ein Funkgerät in der Hand. John zog seine eigene Pistole.
Der Metalleimer wurde immer schneller, je weiter er die Stufen hinunterrollte. Kurz vor den Männern schleuderte es ihn in die Luft, und er prallte mit einer solchen Wucht auf sie, dass sie rückwärts auf den Fliesenboden knallten. Ein Mann ließ dabei seine Pistole fallen, der andere konnte jedoch seine Waffe festhalten und versuchte jetzt, auf den Mann über ihm zu zielen.
John feuerte eine einzige Kugel ab, sie brannte eine rote Rille in die linke Wange des Mannes.
»Fallen lassen!«, rief Clark.
Der Mann folgte der Aufforderung. Er und sein Partner hoben noch im Liegen die Hände.
Trotz des Schalldämpfers war der Widerhall des Schusses in dem engen Treppenhaus schmerzhaft laut. Bestimmt waren ein paar Bewohner schon auf dem Weg zum Telefon, um die Polizei zu verständigen. Er ging langsam die Treppe hinunter und zwischen den beiden Männern hindurch, wobei er seine Pistole ständig auf sie gerichtet hielt. Er nahm ihnen ihre Waffen, Walkie-Talkies und Handys ab. Einer der beiden fluchte Clark auf französisch an, hielt dabei aber weiterhin die Hände in die Höhe, insofern war es John egal. Clark setzte seinen Weg die Treppe hinunter fort, ohne ein weiteres Wort zu sagen.
Eine Minute später verließ er das Mietshaus durch den Hintereingang und warf die Ausrüstung der Männer in einen Mülleimer.
Für einen kurzen hoffnungsvollen Moment glaubte er, er sei jetzt in Sicherheit, bis ein weißer Lieferwagen auf der anderen Straßenseite vorbeifuhr und plötzlich scharf bremste. Vier Männer sprangen heraus. Zwischen ihnen und John lagen jedoch acht Spuren Nachmittagsstoßverkehr. Trotzdem begannen die vier über die Straße zu rennen und dabei um die Autos Slalom zu laufen.
John selber war schon längst wieder unterwegs. Sein ursprüngliches Ziel war die Metrostation Puschkinskaja gewesen. Aber die Männer waren nur noch fünfzig Meter hinter ihm und viel schneller als er. Die U-Bahn-Station würde seine Flucht nur aufhalten. Sie hätten ihn längst eingeholt, bevor er in einen Zug steigen konnte. Deshalb rannte er jetzt quer über die Twerskaja-Straße. Dieses Mal musste er acht Spuren in einem verrückten Tanz durch den Verkehr überwinden.
Auf der anderen Seite angekommen, schaute er kurz über die Schulter. Inzwischen waren sechs Mann hinter ihm her, und sie waren nur noch fünfundzwanzig Meter entfernt.
Sie würden ihn fassen, das war jetzt klar. Sie waren zu viele, sie waren zu gut ausgebildet, zu gut koordiniert und, wie er zugeben musste, einfach verdammt zu jung und fit, als dass er ihnen durch ganz Moskau hätte davonlaufen können.
Er entkam ihnen zwar nicht, aber er konnte mit ein wenig List und Tücke seine Gefangennahme nach seinen eigenen Vorstellungen gestalten.
John lief jetzt etwas schneller in dem Bemühen, den Abstand zu seinen Verfolgern wieder ein wenig zu vergrößern. Dabei holte er das Prepaid-Handy aus der Manteltasche, das er sich am Tag zuvor gekauft hatte.
Das Handy hatte eine »Automatische Antwort«-Taste. Drückte man diese, nahm das Gerät automatisch jedes eingehende Gespräch nach dem zweiten Klingelton entgegen. Clark stellte das Telefon entsprechend ein und bog in eine Seitenstraße ab, die zum Puschkinplatz führte. Es war eigentlich eher eine Gasse, aber Clark sah nach kurzer Zeit, wonach er suchte. Ein städtischer Müllwagen kam ihm entgegen, der gerade einen Müllcontainer hinter der McDonald’s-Filiale geleert hatte. John nahm das Handy, schaute auf die Nummer auf der Anzeige und warf es dann in hohem Bogen hinten auf den Lastwagen, als dieser nach links abbog.
Dann rannte Clark ins Hamburger-Restaurant, als seine Verfolger hinter ihm gerade um die Ecke kamen.
Er lief an lächelnden Angestellten vorbei, die ihn freundlich fragten, ob sie ihm helfen könnten, und drückte sich durch die Menge der wartenden Kunden hindurch, die ihrerseits zurückdrückten.
Er versuchte, durch eine Seitentür zu entkommen, aber dort fuhr gerade eine schwarze Limousine vor und zwei Männer mit dunklen Sonnenbrillen und schweren Mänteln stürzten heraus.
Clark zog sich wieder ins Restaurant zurück und machte sich dann in die Küche auf.
Die McDonald’s-Filiale am Puschkinplatz war das größte McDonald’s der ganzen Welt. Es gab dort Platz für neunhundert Gäste. Clark hatte offensichtlich gerade den größten Nachmittagsandrang erwischt. Schließlich schaffte er es doch durch die Menschenmassen hindurch und in die Küche hinein.
In einem dahinterliegenden Büroraum hob er den Hörer ab und wählte die Nummer, die er gerade auswendig gelernt hatte. »Mach schon! Mach schon!«
Nach zwei Klingeltönen hörte er ein Klicken und wusste, dass der Anruf durchgestellt worden war.
In diesem Moment tauchten in der Tür des Büros seine sechs bewaffneten Verfolger auf.
Clark rief in das Telefon hinein: »Fabrice Bertrand-Morel, Paul Laska und Walentin Kowalenko von der SWR.« Als die sechs Männer näher kamen, wiederholte er die Namen noch einmal. Dann legte er auf.
Der Größte der Crew hob seine Pistole hoch über den Kopf und ließ sie dann auf John Clarks Nasenrücken heruntersausen.
Und dann wurde alles schwarz.
Als Clark aufwachte, war er in einem dunklen fensterlosen Raum an einen Stuhl gefesselt. Sein Gesicht schmerzte, seine Nase schmerzte, und in seinen Nasenlöchern steckte anscheinend blutige Gaze.
Er spuckte Blut auf den Boden.
Es gab nur einen Grund, warum er noch lebte. Sein »Telefongespräch« hatte sie verwirrt. Jetzt würden diese Männer, ihr Boss und ihre Auftraggeber herauszufinden versuchen, mit wem er da gesprochen hatte. Wenn sie ihn jetzt töteten, nachdem er diese Informationen weitergegeben hatte, würde ihnen das gar nichts nützen.
Jetzt mussten sie ihn so lange schlagen, bis er seine Kontaktperson verriet. Immerhin würden sie ihm im Moment keine Kugel in den Schädel jagen.
Noch nicht, jedenfalls.