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Die Russen nennen ihren Kamow-50-Kampfhubschrauber Tschornaja Akula – den Schwarzen Hai. Der Name passt, denn er ist wendig und schnell und erlegt seine Beute effizient und wirksam.

Zwei dieser Schwarzen Haie tauchten kurz vor Tagesanbruch plötzlich aus einer Nebelbank auf und schossen mit zweihundert Knoten nur zehn Meter über dem harten Talboden durch die mondlose Nacht. Sie flogen in enger Formation und hatten ihre Positionslichter ausgeschaltet. Sie folgten im Tiefstflug einem trockenen Flussbett, das sich dreißig Kilometer nordwestlich von Argwani, dem nächsten größeren Dorf hier im westlichen Dagestan, durch die Berge schlängelte.

Die gegenläufig rotierenden Koaxialrotoren des Ka-50 zerschnitten die dünne Gebirgsluft. Durch diese einzigartige Doppelrotor-Konstruktion war ein Heckrotor überflüssig. Dies machte die Hubschrauber schneller, weil mehr Motorkraft in den Schub und Vortrieb geleitet wurde. Außerdem waren sie weniger anfällig gegenüber Bodenfeuer, da sie dadurch einen Gefahrenpunkt weniger aufwiesen, der bei einem Treffer zu einem verheerenden Systemausfall führen konnte.

Diese Eigenschaft machte den Schwarzen Hai zusammen mit einigen weiteren redundanten Systemen – einem selbstversiegelnden Treibstofftank und einer zum Teil aus Verbundwerkstoffen wie Kevlar bestehenden Zelle – zu einer außerordentlich robusten Kampfmaschine, die darüber hinaus absolut tödlich war. So waren auch die beiden Hubschrauber auf dem Weg zu ihrem Ziel in Russlands nördlichem Kaukasus voll aufmunitioniert. Jeder von ihnen hatte vierhundertfünfzig 30-mm-Geschosse für seine Unterrumpf—Maschinenkanone an Bord. Dazu kamen noch vierzig ungelenkte Luft-Boden-Raketen, Kaliber 80 mm, die von außen liegenden Rohrstartbehältern abgefeuert wurden, und ein Dutzend AT-16 – lasergesteuerte Panzerabwehrlenkwaffen, die an zwei externen Pylonen unter den Stummelflügeln hingen.

Die beiden Ka-50 waren »Notschnij«-(Nacht)-Modelle, die schon allein durch ihre schwarze Farbe in der Dunkelheit kaum zu erkennen waren. Als sie sich jetzt ihrem Ziel näherten, verhinderten nur die Nachtsichtgeräte der Piloten, ihre ABRIS-Moving-Maps-Navigationssysteme und ihr FLIR (Forward-Looking Infrared Radar), dass die Hubschrauber auf die steilen Felswände auf beiden Talseiten oder den Talboden prallten oder in der Luft miteinander kollidierten.

Der Führungspilot überprüfte die Zeit bis zum Erreichen des Ziels und rief dann in das Mikro seines Headsets: »Sjem minut!« Sieben Minuten.

»Ponjal« – Verstanden –, kam die Antwort aus dem Schwarzen Hai hinter ihm.

Das Dorf, das sieben Minuten später in Flammen aufgehen würde, lag noch in tiefem Schlaf.

In einer Scheune mitten in einer Gebäudegruppe auf der felsigen Anhöhe über dem Tal lag Israpil Nabijew auf seinem Strohlager und versuchte zu schlafen. Er steckte den Kopf in den Mantelkragen und verschränkte die Arme fest um seinen Brustgurt. Sein dichter Vollbart schützte seine Wangen ein wenig, aber seine hervorstehende Nasenspitze war schutzlos der Kälte ausgesetzt. Seine Handschuhe hielten die Finger warm, aber ein stetiger kalter Luftzug blies ihm die Ärmel bis zu den Ellenbogen hoch.

Nabijew war ein Stadtkind. Er stammte aus Machatschkala an der Küste des Kaspischen Meeres. Er hatte zwar schon in unzähligen Scheunen, Höhlen, Zelten oder Erdgräben unter freiem Himmel genächtigt, war jedoch in einem Wohnplattenbau mit Strom, fließendem Wasser, Toiletten und einem Fernseher aufgewachsen, Annehmlichkeiten, die er im Moment schmerzlich vermisste. Doch er beklagte sich nicht. Er wusste, dass diese Inspektionstour nötig war. Es gehörte zu seinen Aufgaben, alle paar Monate die Runde zu machen und seine Truppen reihum zu besuchen, ob ihm das nun passte oder nicht.

Wenigstens musste er nicht alleine leiden. Tatsächlich ging Nabijew nirgendwo alleine hin. Fünf Mitglieder seiner Sicherheitstruppe froren mit ihm in dieser eiskalten Scheune. Er hörte in der Dunkelheit ihr Schnarchen und roch ihre Körper und das Waffenöl ihrer Kalaschnikows. Die anderen fünf Männer, die ihn aus Machatschkala hierher begleitet hatten, hielten zusammen mit der Hälfte der einheimischen Kämpfer draußen Wache. Sie saßen hellwach mit dem Gewehr im Schoß vor der Scheune. Nur die Kanne mit heißem Tee, die ständig nachgefüllt wurde, spendete ihnen von Zeit zu Zeit etwas Wärme.

Israpils eigenes Gewehr lag als letztes Mittel der Selbstverteidigung in Griffweite. Es handelte sich um eine AK-74U, eine Variante der altehrwürdigen, aber immer noch hocheffizienten Kalaschnikow, die sich durch einen verkürzten Lauf auszeichnete, was zu einer höheren Feuerrate führte. Als er sich zur Seite rollte, um dem unangenehmen Luftzug zu entgehen, tastete er mit der Hand nach deren Plastikgriff, zog sie näher an sich heran und drehte sich dann auf den Rücken. Mit den schweren Stiefeln an seinen Füßen, dem Pistolengurt um die Hüfte und dem an seinen Oberkörper geschnallten Brustgurt voller Gewehrmagazine war es verdammt schwer, eine einigermaßen bequeme Stellung zu finden.

Eigentlich hielt ihn jedoch nicht die Unbequemlichkeit dieser Scheune und seiner Ausrüstung, sondern vor allem die ständig nagende Sorge vor einem Angriff wach. Israpil wusste sehr wohl, dass die Russen es auf ihn abgesehen hatten. Sie hielten ihn für den zukünftigen Kopf des Widerstands, für die Zukunft seines Volkes, und zwar nicht nur die Zukunft des islamischen Dagestans, sondern die Zukunft eines islamischen Kalifats im Kaukasus.

Nabijew war ein erstrangiges Ziel Moskaus, da er fast sein ganzes bisheriges Leben gegen dessen Repräsentanten gekämpft hatte. Bereits im Alter von elf Jahren hatte er damit begonnen. Seinen ersten Russen hatte er 1993 in Bergkarabach mit gerade einmal fünfzehn Jahren getötet. Seitdem hatte er in Grosny, Tiflis, Zchinwali und Machatschkala noch viele andere zur Strecke gebracht.

Jetzt war er mit nicht einmal fünfunddreißig Jahren zum militärischen Führer der dagestanischen radikalislamischen Organisation Jamaat Shariat, der »Islamischen Rechtsgemeinschaft«, aufgestiegen, wobei er Kämpfer vom Kaspischen Meer im Osten bis nach Tschetschenien, Georgien und Ossetien im Westen anführte, die alle für dasselbe Ziel kämpften: die Vertreibung der fremden Invasoren und die Errichtung der Scharia.

Inschallah – so Gott will – würde Israpil Nabijew schon bald seinen Traum erfüllen und alle islamischen Organisationen des Kaukasus vereinen.

Die Russen hatten also recht. Er war die Zukunft des Widerstands.

Auch seine eigenen Leute wussten das, was sein hartes Leben etwas erleichterte. Die zehn Soldaten in seiner Sicherheitstruppe würden genauso wie die dreizehn Kämpfer der örtlichen Argwanizelle voller Stolz ihr Leben für Israpil hingeben.

Erneut wuchtete er seinen Körper herum, um sich vor dem unangenehmen Luftzug zu schützen und wenigstens noch etwas Ruhe zu finden, wobei er jedoch seine Waffe nicht aus der Hand ließ. Man muss es nehmen, wie es kommt, dachte er. Er hoffte, dass zumindest vor Tagesanbruch keiner seiner Männer sein Leben für ihn opfern musste.

Israpil Nabijew glitt in den Schlaf hinüber, während auf der Anhöhe über dem Dorf der erste Hahn krähte.

Das Krähen des Hahns unterbrach den Funkspruch des Russen, der einige Meter von dem großen Vogel entfernt im hohen Gras lag. Er wartete ein paar Sekunden, bis der Hahn zum dritten Mal gekräht hatte, dann brachte er seine Lippen wieder an das Funkgerät heran, das an seinem Brustgurt festgemacht war. »Alpha-Team an Aufklärung. Wir sehen euch und schließen in einer Minute zu euch auf.«

Es gab keine gesprochene Antwort. Das Scharfschützenteam war gezwungen gewesen, bis auf zehn Meter an einen Ziegelschuppen heranzurücken, um ihr Ziel weitere hundert Meter vor ihnen ins Blickfeld zu bekommen. So nahe am Gegner würden sie auf keinen Fall sprechen, nicht einmal flüstern. Der vorgeschobene Beobachter drückte nur zwei Mal auf seine Sendetaste. Die beiden Klicks bestätigten, dass er die Botschaft des Alpha-Teams empfangen hatte.

Auf der Anhöhe hörten acht Mann die beiden Klicks und rückten daraufhin langsam durch die Dunkelheit vor.

Alle acht gehörten zusammen mit den zwei Scharfschützen zu den bewaffneten Kräften des russischen Federalnaja Sluschba Besopasnosti, des »Föderalen Dienstes für die Sicherheit der Russischen Föderation«, wie der aus dem KGB hervorgegangene russische Inlandsgeheimdienst jetzt hieß. Sie waren sogar Teil des Alpha-Direktorats des Zentrums für Spezialoperationen des FSB. Als absolute Elitetruppe aller russischen Speznaz-Einheiten waren die Mitglieder der Alpha-Gruppe Experten auf dem Gebiet der Terrorismusbekämpfung, Geiselbefreiung, des Häuser-und Straßenkampfs und einer ganzen Reihe weiterer tödlicher Fertigkeiten. Sie waren allesamt Spezialisten im Gebrauch von Feuer-und Stichwaffen sowie Sprengstoffen und im Nahkampf. Dieses Alpha-Team bestand aus hartgesottenen Profikillern, die sich lautlos durch das Gelände bewegten und verdeckt operieren konnten.

Die ganze Nacht waren die Russen langsam vorgerückt, wobei die gespannte Aufmerksamkeit all ihrer Sinne niemals nachließ. Ihr Eindringen war perfekt gelungen. Auf dem sechsstündigen Weg zu ihrem Zielpunkt hatten sie nichts als Wald gerochen und außer Tieren nichts Lebendiges gesehen: Kühe, die im Stehen schliefen oder unbeaufsichtigt auf Weiden grasten, Füchse, die aus dem Wald herauskamen und wieder darin verschwanden, und sogar Steinböcke, die sich hoch oben durch den nackten Fels bewegten.

Dagestan war ihnen nicht fremd, die Operationen im benachbarten Tschetschenien waren da weitaus vertrauter. Offen gesagt, gab es dort einfach mehr Terroristen, die getötet werden mussten, als in Dagestan, obwohl die Jamaat Shariat alles unternahm, um mit ihren muslimischen Brüdern im Westen gleichzuziehen. In Tschetschenien gab es mehr Berge und Wälder, während die Hauptkonfliktzonen in Dagestan in den Städten lagen. Allerdings bildete das heutige »Omega«, das heutige Ziel, die Ausnahme von dieser Regel. Bewaldete Felshöhen umgaben eine eng beieinanderliegende Ansammlung von Gehöften, verbunden durch unbefestigte Wege, in deren Mitte eine Rinne verlief, durch die das Regenwasser zum Fluss weiter unten ablaufen konnte.

Die Soldaten hatten ihr Dreitagegepäck einen Kilometer weiter hinten abgelegt und trugen jetzt nur noch das am Körper, was für den Kampf nötig war. Jetzt versuchten sie, unsichtbar zu bleiben, und robbten auf allen vieren über die Weide direkt oberhalb des Dorfes und danach jeweils zu zweit über eine Viehkoppel. Sie passierten ihr Scharfschützenteam am Rand der Ansiedlung und schlichen dann zwischen den Gebäuden hindurch, einem Futterschuppen, einem Klohäuschen, einem Einfamilienhaus und einem aus Ziegeln errichteten Traktorschuppen mit Wellblechdach. Dabei hatten sie jede Ecke, jeden Weg und jedes dunkle Fenster mit ihren Nachtsichtgeräten fest im Blick.

Sie trugen AK-105-Gewehre und Hunderte von zusätzlichen 5,45x39-mm-Patronen in flachen Magazinbrustgurten, die es ihnen erlaubten, sich flach auf den Boden zu legen, um sich vor den Augen eines Wächters oder feindlichem Beschuss zu verbergen. Ihre grünen Feldjacken und gleichfarbigen Schutzwesten waren schlammverschmiert, mit Grasflecken übersät und von geschmolzenem Schnee und dem Schweiß durchnässt, den sie trotz der Kälte bei ihrem anstrengenden Vormarsch vergossen.

An ihren Gürteln hingen Holster mit russischen Varjag-MP-445-Pistolen, Kaliber 9 mm. Einige trugen daneben noch schallgedämpfte 5,45-mm-Pistolen, um eventuelle Wachhunde mit einem 45-Grain-Hohlspitzgeschoss in den Kopf schlagartig ruhigzustellen.

Sie fanden den mutmaßlichen Aufenthaltsort ihrer Zielperson und bemerkten dabei Bewegungen vor der Scheune. Wachen! In den danebenliegenden Gebäuden würde es sicher noch mehr geben. Einige waren bestimmt auch noch wach, obwohl ihre Aufmerksamkeit in dieser frühen Morgenstunde sicher nicht mehr die größte war.

Sie umgingen den Zielbereich in einem weiten Bogen, wobei sie zuerst eine Minute lang mit dem Gewehr in den Armbeugen auf ihren Ellbogen krochen, um sich dann zwei weitere Minuten auf Händen und Knien vorwärtszubewegen. Ein Esel wurde unruhig, ein Hund bellte, und eine Ziege meckerte, was jedoch alles für den frühen Morgen in einem Bauerndorf nichts Ungewöhnliches war. Schließlich verteilten sich die acht Soldaten in vier Zweiergruppen entlang der Rückseite des Gebäudes, wobei jede ein vorherbestimmtes Schussfeld abdeckte. Hilfreich war, dass ihre russischen Gewehre mit einem amerikanischen holografischen Laservisier der Firma EOTech ausgerüstet waren. Die Männer visierten sorgfältig durch ihr rotes Fadenkreuz die ihnen zugewiesenen Fenster, Türen oder Gebäudedurchgänge an.

Dann, und erst dann, flüsterte der Teamführer in sein Funkgerät: »Sind in Stellung!«

Ein gewöhnlicher Angriff auf einen Terroristenstützpunkt hätte ganz anders ausgesehen. Die Alpha-Truppe wäre mit großen Mannschaftstransportpanzern oder Hubschraubern angerückt. Flugzeuge hätten das Dorf mit Raketen angegriffen, während die Teams von ihren Schützenpanzern abgesprungen wären oder sich von den Transporthubschraubern abgeseilt hätten.

Aber das hier war kein gewöhnlicher Einsatz. Sie hatten den Auftrag, ihre Zielperson – wenn irgend möglich – lebend zu fangen.

Laut FSB-Quellen kannte der Mann, hinter dem sie her waren, die Namen, Aufenthaltsorte und Verbindungen praktisch aller dschihadistischen Führer in Dagestan, Tschetschenien und Inguschetien. Bekam man ihn in die Finger und konnte seine Kenntnisse »abschöpfen«, dann könnte der islamistischen Sache ein annähernd tödlicher Schlag versetzt werden. Die acht Mann, die jetzt fünfundzwanzig Meter von der Rückseite des Zielgebäudes entfernt in der Dunkelheit kauerten, sollten dabei als Sperreinheit jeden Ausbruch der Muslime verhindern. Die eigentlichen Angreifer näherten sich gleichzeitig zu Fuß von Westen her durch das Tal. Laut Operationsplan sollten sie die Zielperson in die Falle hinter der Scheune treiben.

Der Operationsplan der Alpha-Gruppe beruhte auf deren Kenntnis der Taktiken, die die Aufständischen hier im Kaukasus gewöhnlich anwandten. Wenn sie von überlegenen Kräften angegriffen wurden, versuchten die jeweiligen Anführer sofort zu entkommen. Dabei waren die Dagestaner und Tschetschenen auf keinen Fall Feiglinge. Nein, Mut besaßen sie sogar im Überfluss. Aber ihre Anführer mussten auf jeden Fall geschützt werden. Die Fußsoldaten nahmen dabei Stellungen in vorgeschobenen Gebäuden und durch Sandsäcke geschützten Bunkern ein, um von dort aus den Angreifern Widerstand zu leisten. Ein einzelner Mann konnte dabei mit einer einzigen Waffe eine ganze Eingreiftruppe so lange aufhalten, bis der Anführer und seine persönliche Wachmannschaft in die umliegenden, unwegsamen Berge geflohen waren, die sie wahrscheinlich genauso gut kannten wie die Körperformen ihrer Geliebten.

Die acht Mann der Speznaz-Sperreinheit warteten also in der Dunkelheit, kontrollierten ihren Atem und Herzschlag und bereiteten sich darauf vor, einen einzigen Mann zu fangen. Jeder von ihnen trug in der Kartentasche seiner ballistischen Schutzweste eine beige Laminatkarte mit einem Porträt Israpil Nabijews.

Wenn diese russischen Spezialtruppen einen Mann fangen würden, dessen Gesicht mit diesem Foto übereinstimmte, stand sein weiteres Schicksal fest.

Sollte das Gesicht des Gefangenen dagegen nicht dem des Gesuchten entsprechen, wäre das für den entsprechenden Mann noch verhängnisvoller, denn die Russen wollten nur eine einzige Person in diesem Dorf lebend in ihre Gewalt bringen.