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Clark brauchte mehrere Tage, um seine Zielperson in Deutschland aufzuspüren. Der Mann, nach dem er suchte, hieß Manfred Kromm. Ihn zu finden stellte eine große Herausforderung dar, aber nicht weil er untergetaucht wäre oder irgendwelche Maßnahmen ergriffen hätte, sein Auffinden zu erschweren. Nein, Manfred Kromm war deshalb so schwer zu lokalisieren, weil er ein Niemand war.
Vor dreißig Jahren war er jedoch Mitglied des ostdeutschen Geheimdienstes gewesen. Er und sein Partner hatten etwas Illegales getan, und Clark war herbeigerufen worden, um es auszubügeln. Jetzt war der Mann weit über siebzig, lebte nicht mehr in Berlin und war schon lange nicht mehr im Staatsdienst.
Clark wusste nur aus einem Grund, dass er noch lebte. Die Fragen, die das FBI Hardesty gestellt hatte, mussten irgendwie auf Manfred Kromm zurückgehen. Zwar hätte er seine Sicht der Ereignisse auch schon vor Jahren aufschreiben und in der Zwischenzeit verstorben sein können. Clark nahm jedoch nicht an, dass Kromm ein solches Schriftstück von sich aus verfasst hätte. Er konnte sich nicht vorstellen, dass die Sache gerade jetzt wieder hochgespült worden wäre, wenn Kromm seine Geschichte vor langer Zeit erzählt hätte.
Kromm lebte jetzt in Köln. Clark hatte den Mann schließlich gefunden, als er dessen letzte bekannte Adresse, ein zweistöckiges Gebäude im Ortsteil Haselhorst des Berliner Bezirks Spandau, aufgesucht hatte. Er hatte sich dort als Verwandter ausgegeben, der leider jeden Kontakt zu ihm verloren habe. Eine Frau in diesem Haus wusste, dass Kromm nach Köln gezogen war und wegen eines Nervenschadens, den seine Zuckerkrankheit verursacht hatte, eine Beinschiene trug. Clark reiste daraufhin nach Köln, wo er sich drei Tage lang als Vertreter eines amerikanischen Unternehmens ausgab, das orthopädische Geräte und Sanitätswaren herstellte. Er ließ seinen Computer falsche Visitenkarten, Bestellungen und E-Mails ausdrucken und suchte damit fast jedes Sanitätsgeschäft der Stadt auf. Er behauptete, ein Mann namens Kromm habe bei seiner Firma maßgeschneiderte orthopädische Einlagen bestellt, und bat, man möge ihm bei der Suche nach der gegenwärtigen Adresse des Mannes helfen.
Einige Geschäfte fertigten ihn nur mit einem Schulterzucken ab, aber die meisten schauten in ihren Kundenlisten nach. Schließlich stieß ein freundlicher Ladenbesitzer auf einen Kunden namens Manfred Kromm, vierundsiebzig Jahre alt, wohnhaft in der Thieboldsgasse 13, Wohnung 3 a, den er jeden Monat mit Blutzuckerteststreifen und Insulinspritzen belieferte.
Endlich hatte John Clark seinen Mann gefunden.
Die Wohnung von Clarks Zielperson lag in der südlichen Kölner Altstadt. Die Thieboldsgasse 13 war ein vierstöckiges Wohngebäude, und die etwa fünfzig Häuser auf beiden Seiten dieser Straße glichen sich fast wie ein Ei dem anderen. Hier und da lockerte ein einzelner Baum vor einem Eingang das Straßenbild etwas auf. Vor den fast identischen Gebäuden lagen kleine Grasflächen, die von den Zugangswegen zu den gläsernen Eingangstüren unterbrochen wurden.
Eine Stunde lang streifte John durch das Viertel. Plötzlich begann es zu regnen, was es ihm erlaubte, einen Schirm aufzuspannen, den Mantelkragen hochzuklappen und dadurch sein Gesicht weitgehend zu verbergen. Er legte eventuelle Fluchtwege fest, für den Fall, dass sein Treffen nicht gut verlaufen würde. Er suchte und fand die nächste Bus-und Straßenbahnhaltestelle. Die ganze Zeit hielt er dabei nach Polizisten und Briefträgern Ausschau, die zur falschen Zeit auftauchen könnten. Allerdings waren die Straßen in diesem Viertel so belebt, dass ein einzelner Fußgänger nicht weiter auffiel. Nach einer Stunde beschloss er deshalb, sich auf die Hausnummer 13 zu konzentrieren.
Als er von der anderen Straßenseite aus im strömenden Regen die Thieboldsgasse 13 eine Zeit lang betrachtete, fand er das Haus so gesichtslos, farblos und reizlos wie den Kalten Krieg selbst.
Dieser Kalte Krieg war für Leute an seiner geheimen Front wie John Clark allerdings gar nicht so kalt gewesen. Einmal hatte er in diesen Zeiten in Deutschland eine Spezialoperation durchgeführt. Er war damals Mitglied der SAD gewesen, der Special Activities Division der CIA, die für paramilitärische Operationen zuständig war. Man zog ihn von einem Training ab, das er gerade mit der Delta Force, der frisch aufgestellten Elitetruppe der US Army, in North Carolina abhielt, und setzte ihn in einen 35A-Learjet der CIA, der ihn nach Europa brachte. Nach einem Tankstopp auf der britischen Mildenhall-Luftwaffenbasis in Suffolk hob das Flugzeug mit Clark an Bord wieder ab. Niemand erzählte ihm, wohin sie ihn brachten oder was er nach seiner Ankunft tun sollte.
Schließlich landete er auf dem Flughafen Tempelhof in Westberlin und wurde zu einem konspirativen Stützpunkt gebracht, nur einen Steinwurf von der Berliner Mauer entfernt. Dort traf er auf einen alten Freund namens Gene Lilly. Sie hatten in Vietnam zusammengearbeitet, und jetzt war Lilly der Leiter des Berliner CIA-Büros. Lilly erzählte Clark, dass er ihn für eine einfache Dokumentenaustauschaktion jenseits der Mauer benötige. Clark spürte sofort, dass hier etwas faul sein musste. Für so etwas musste man ganz bestimmt keinen SAD-Paramilitär aus Amerika einfliegen lassen. Als er Lilly seine Zweifel mitteilte, brach dieser in Tränen aus.
Gene beichtete ihm, er sei in eine Sexfalle geraten. Eine Prostituierte hätte mit ein paar einfachen Stasi-Agenten zusammengearbeitet, die sich ohne Wissen ihrer Vorgesetzten etwas Extrageld verdienen wollten. Sie hätten von ihm seine gesamten Ersparnisse erpresst. John sollte ihnen jetzt die Aktenmappe voller Bargeld übergeben. Im Gegenzug würde er einen Ordner mit Negativen erhalten. Clark fragte nicht, was auf diesen Negativen zu sehen war. Er war sich sicher, dass er das gar nicht wissen wollte.
Lilly beschwor Clark, dass er niemand anderem in der Agency trauen könne. Der dreiunddreißigjährige SAD-Agent war bereit, seinem alten Freund zu helfen.
Einige Minuten später übergab Lilly ihm eine Aktenmappe voller D-Mark-Noten und brachte ihn zu einer U-Bahn-Station, wo Clark in den nächsten Zug einstieg, der zu dieser Tageszeit halb leer war.
Der Austausch zwischen Clark und den Stasi-Erpressern sollte an einem surrealen Ort stattfinden, wie es ihn so nur im Berlin des Kalten Krieges geben konnte. Im Westberliner U-Bahn-System gab es einige Linien, die ein Stück unter Ostberlin hindurchführten. Vor der Teilung der Stadt war das natürlich belanglos, aber nach dem Mauerbau im Jahr 1961 durften die Züge, die unter der Mauer hindurchfuhren, nicht mehr an den Stationen auf der anderen Seite halten. Die Ostdeutschen verschlossen die Zugänge auf Straßenhöhe und entfernten jeden Hinweis auf diese U-Bahn-Haltestellen aus ihren Netzplänen. Diese schummrigen, leeren und labyrinthischen unterirdischen Plätze bekamen den Namen Geisterbahnhöfe.
Einige Minuten nach Mitternacht sprang John Clark kurz vor einem dieser Geisterbahnhöfe vom letzten Wagen der Linie U8 ab, der gerade den Ostberliner Bezirk Mitte durchquerte. Dies war insofern nicht sehr gefährlich, als diese Züge die Geisterbahnhöfe nur im Schritttempo durchfahren durften. Während der Zug weiterratterte, zog der Amerikaner eine Taschenlampe aus dem Mantel, hielt sie über seine Schulter und ging auf dem Gleis weiter. Kurz darauf kam er an dem Geisterbahnhof Weinmeisterstraße an. Hier wartete er auf dem schwach beleuchteten Bahnsteig. Um ihn herum war es totenstill, nur unter ihm war das leise Geräusch von streunenden Ratten zu hören.
Kurz darauf erschien am Fuß einer Treppe der Schein einer Taschenlampe. Ein einzelner Mann richtete seine Lampe auf Clark und forderte ihn auf, seine Aktenmappe zu öffnen. Clark tat, wie ihm geheißen. Jetzt legte der Mann seinerseits ein Päckchen auf den staubigen Betonboden und gab ihm einen kleinen Tritt, sodass es zum Amerikaner hinüberschlitterte.
Clark hob es auf, überprüfte, ob es auch die Negative enthielt, und stellte die Geldtasche ab.
So hätte es enden können, ja sollen.
Aber die Stasi-Gauner waren gierig und wollten ihre Negative zurückhaben, um die Erpressung fortsetzen zu können.
Als sich John Clark umdrehte und zum Ende der Station zurückgehen wollte, hörte er jenseits der Gleise auf dem gegenüberliegenden Bahnsteig ein Geräusch. Als er mit seiner Lampe hinüberleuchtete, bekam er gerade noch rechtzeitig mit, dass ein Mann eine Pistole auf ihn richtete. Clark warf sich sofort zu Boden und rollte sich auf dem schmutzigen Betonboden zur Seite, als ein Pistolenschuss losging. Der Knall wurde von den Tunnel-und Bahnhofswänden vielfach zurückgeworfen.
Der amerikanische CIA-Agent zog blitzschnell seine Colt-M1911-Selbstladepistole. Er feuerte zweimal über die Gleise hinüber und traf den Schützen beide Male direkt in die Brust. Er brach sofort zusammen.
Clark wandte sich dann dem Stasi-Mann mit der Geldtasche zu. Dieser eilte gerade die Stationstreppe hinauf. Clark gab einen Schuss ab, verfehlte ihn jedoch. Kurz darauf war er verschwunden. Clark überlegte sich, ihm nachzueilen. Immerhin war es möglich, dass er doch noch zurückkehrte, um ihn zu erledigen. Aber in diesem Moment fuhr der nächste Zug im Schritttempo durch den Geisterbahnhof. Clark verbarg sich hinter einem Betonpfeiler. Die hellen Zuglichter warfen auf dem staubigen U-Bahnsteig lange Schatten. Clark schaute noch einmal zur Treppe hinüber, über die der Stasi-Mann verschwunden war. Dort bewegte sich jedoch nichts. Er wusste, dass er zehn Minuten auf den nächsten Zug warten musste, wenn er diesen hier verpasste.
Clark sprang auf den letzten Wagen auf. Tatsächlich konnte er sich an einem Haltegriff an der rückwärtigen Tür festhalten. Nach einigen Minuten Dunkelheit war er wieder in Westberlin. An der ersten Station sprang er von dem Zug herunter auf den Bahnsteig und mischte sich unter die anderen ausgestiegenen Passagiere. Dreißig Minuten später saß er in einem Linienbus zwischen lauter Westberlinern, die von ihrer Nachtschicht heimkehrten, und weitere dreißig Minuten später händigte er Gene Lilly die Negative aus.
Am nächsten Tag verließ er mit einem Linienflug die Bundesrepublik Deutschland. Er war sich sicher, dass nichts von dem, was am Tag zuvor geschehen war, jemals in den Archiven der CIA oder des DDR-Staatssicherheitsdiensts auftauchen würde.
Als er jetzt im kalten Kölner Regen stand, schüttelte er die alten Erinnerungen ab und schaute sich um. Das Deutschland von heute hatte wenig Ähnlichkeit mit der geteilten Nation von vor dreißig Jahren, und Clark erinnerte sich daran, dass die heutigen Probleme seine ungeteilte Aufmerksamkeit erforderten.
Um sechzehn Uhr wurde es an diesem grauen Tag bereits dunkel. Im Treppenhaus der Thieboldsgasse 13 ging jetzt das Licht an. Durch die Glastür beobachtete er, wie eine ältere Frau am Fuß der Treppe ihren Hund anleinte. Sofort überquerte Clark die Straße, zog seinen Mantelkragen noch höher und kam gerade an dem Gebäude an, als die Frau die Vordertür öffnete. Sie hatte die Augen bereits auf die Straße gerichtet und beachtete Clark nicht. Bevor die Tür sich wieder hinter ihr schloss, schlüpfte John an der Hauswand entlang und ins Treppenhaus hinein.
Er war mit seiner SIG-Sauer-Pistole in der Hand fast schon im ersten Stock angekommen, als die Haustür unten ins Schloss fiel.
Manfred Kromm reagierte auf das Klopfen an seiner Tür mit einem Stöhnen. Das war bestimmt wieder Herta, die auf der anderen Seite des Hausflurs wohnte. Sie hatte sich wahrscheinlich wieder selbst ausgeschlossen, während sie ihren kleinen grauen Pudel Gassi führte. Er würde also wieder einmal das Schloss ihrer Wohnungstür knacken müssen, wie er es schon Dutzende Male getan hatte.
Natürlich hatte er ihr nie erzählt, wo er das gelernt hatte. Sie hatte ihn auch noch nie danach gefragt.
Dass sie sich absichtlich aussperrte, um seine Aufmerksamkeit zu erregen, ärgerte ihn nur noch mehr. Die alte Frau ging ihm auf die Nerven. Sie war eine absolute Landplage, fast so lästig wie ihr kläffendes Hündchen. Trotzdem hatte Manfred Kromm sie noch nie merken lassen, dass er ihren Trick mit dem »vergessenen Schlüssel« durchschaut hatte. Als der Einzelgänger, der er war, würde er niemals einem anderen Menschen zeigen, dass er erkannt hatte, dass sich dieser für ihn interessierte. Also lächelte er weiterhin nach außen, stöhnte nach innen und schloss der alten Hexe ihre gottverdammte Tür auf, wann immer sie klopfte.
Er arbeitete sich aus seinem Stuhl hoch, schlurfte zur Tür hinüber und griff sich auf dem Tisch in der Diele seinen Dietrich. Er hatte die Hand bereits am Türriegel, um ihn zu öffnen. Aus alter Gewohnheit schaute er durch den Türspion. Er wollte bereits wieder wegschauen, als sich seine Augen vor Überraschung weiteten. Auf der anderen Seite der Tür stand ein Mann in einem Regenmantel.
Und dieser Mann richtete eine automatische Pistole aus rostfreiem Stahl mit einem aufgeschraubten Schalldämpfer direkt auf Manfred Kromms Tür.
Der Mann sprach so laut, dass man es durch das Türholz hörte: »Wenn Ihre Tür nicht aus schusssicherem Stahl besteht oder Sie sich schneller als eine Kugel bewegen können, sollten Sie mich besser hereinlassen.«
»Wer ist denn da?«, krächzte Kromm.
»Jemand aus Ihrer Vergangenheit.«
Und plötzlich erinnerte sich Kromm. Er wusste genau, wer dieser Mann war.
Und er wusste, dass er jetzt sterben würde.
Er öffnete die Tür.
»Ich kenne Ihr Gesicht. Sie sind älter geworden. Aber ich erinnere mich an Sie«, sagte Kromm. Wie von Clark gefordert, hatte er sich wieder auf seinen Stuhl vor dem Fernseher gesetzt. Seine Hände lagen auf den Knien, und er knetete langsam seine geschwollenen Gelenke.
Clark stand vor dem Deutschen und hatte seine Waffe immer noch auf ihn gerichtet.
»Sind Sie allein?«, fragte Clark und schaute sich in der winzigen Wohnung um.
Manfred Kromm nickte. »Selbstverständlich.«
Clark ließ trotzdem seinen Blick schweifen und zielte dabei mit seiner SIG weiterhin auf die Brust des Alten. »Bitte keine plötzlichen Bewegungen. Ich habe heute eine Menge Kaffee getrunken, Sie sollten deshalb gar nicht erst ausprobieren, wie hibbelig und schreckhaft ich bin.«
»Ich werde mich nicht bewegen«, sagte der alte Deutsche. Dann zuckte er die Achseln. »Diese Pistole in Ihrer Hand ist die einzige Waffe in dieser Wohnung.«
Clark durchsuchte schnell den Rest der Wohnung. Sie war einschließlich des Badezimmers und der Küche sicher keine fünfunddreißig Quadratmeter groß. Auch die Einrichtung war alles andere als luxuriös. »Was, fünfunddreißig Jahre bei der Stasi, und das ist alles, was es Ihnen eingebracht hat?«
Jetzt musste der Deutsche ein wenig lächeln. »Nach den Kommentaren Ihrer Regierung über Sie zu schließen, Mister Clark, sieht es so aus, dass Ihre Organisation Ihnen Ihre Dienste nicht viel besser vergolten hat als meine Organisation die meinen.«
Clark zwang sich jetzt selbst ein saures Grinsen ab, während er mit den Füßen einen kleinen Tisch gegen die Eingangstür schob. Sie würde jemand, der vom Hausflur her eindringen wollte, einen kurzen Moment aufhalten, aber auch nicht viel mehr. Clark stellte sich neben die Tür und hielt die SIG immer noch auf den übergewichtigen Mann gerichtet, der sich auf seinem Lehnstuhl offensichtlich recht unbehaglich fühlte.
»Sie haben Geschichten herumerzählt.«
»Ich habe nichts gesagt.«
»Ich glaube Ihnen nicht, und das ist das Problem. Sie erzählen jetzt mir, was Sie denen erzählt haben.«
»Mr. Clark, ich habe keine Ahnung, was Sie …«
»Vor dreißig Jahren gingen drei Personen in diesen Geisterbahnhof. Zwei von ihnen kamen lebend wieder heraus. Sie und Ihr Partner haben für die Stasi gearbeitet, aber Sie haben nicht nach den Stasi-Regeln gespielt, das heißt, dass Sie dieses Geld für sich selbst erpresst haben. Ich hatte den Auftrag, Sie beide laufen zu lassen, aber Ihr Partner Lukas Schumann hat versucht, mich umzubringen, nachdem Sie das Geld bekommen hatten. Ich habe Lukas Schumann getötet, aber Sie sind davongekommen, und ich weiß, dass Sie danach nicht zu Markus Wolf gegangen sind und ihm erzählt haben, was bei Ihrer illegalen Nebenbeschäftigung schiefgegangen war. Sie haben den Mund gehalten, damit sie das Geld behalten konnten.«
Kromm sagte kein einziges Wort. Er walkte nur seine Knie mit den Händen, als wollte er Brötchen kneten, bevor er sie in den Ofen schob.
Clark redete weiter auf ihn ein. »Ich hatte den Befehl, meiner Agency über diese Angelegenheit nicht zu berichten. Der Einzige, der außer Ihnen, mir und dem toten Lukas Schumann von dieser Sache im Geisterbahnhof wusste, war mein Vorgesetzter, und der ist vor fünfzehn Jahren gestorben, ohne zuvor jemand davon erzählt zu haben.«
»Ich habe das Geld nicht mehr. Ich habe alles ausgegeben«, sagte Kromm.
Clark seufzte, als ob ihn diese Bemerkung des Deutschen enttäuscht hätte. »Genau, Manfred, ich komme nach dreißig Jahren zurück, um mir eine Tasche voller wertloser D-Mark-Scheine zurückzuholen.«
»Was wollen Sie dann?«
»Ich möchte wissen, mit wem Sie geredet haben.«
Kromm nickte. »Es klingt wie ein Klischee aus einem amerikanischen Kriminalfilm, aber es ist die Wahrheit. Wenn ich es Ihnen erzähle, werden sie mich bestimmt umbringen.«
»Wer, Manfred?«
»Ich bin nicht zu ihnen gegangen. Sie kamen zu mir. Ich hatte kein Interesse, diese alten Geschichten aus unserer gemeinsamen Vergangenheit wieder auszugraben.«
Clark hob die Pistole und schaute durch ihr Tritium-Visier.
»Wer, Manfred? Wem haben Sie vom Jahr 81 erzählt?«
»Obtschak!«, platzte es in seiner Panik aus ihm heraus.
Clark legte den Kopf schief. Er ließ die Waffe sinken.
»Wer ist Obtschak?«
»Obtschak ist kein wer! Es ist eine estnische kriminelle Vereinigung. Eine ausländische Filiale der Russenmafia, sozusagen.«
John konnte seine Verwirrung nicht verbergen. »Und die haben Sie nach mir gefragt? Namentlich?«
»Nein, gefragt im normalen Sinne haben sie mich eigentlich nicht. Sie haben mich überfallen. Sie haben mir eine zerbrochene Bierflasche an den Hals gehalten und mich dann befragt.«
»Und Sie haben ihnen von Berlin erzählt.«
»Natürlich! Sie können mich töten, wenn Sie das wollen, aber warum hätte ich Sie in Schutz nehmen sollen?«
Clark fiel etwas auf. »Wie wussten Sie überhaupt, dass sie von der Obtschak waren?«
Kromm zuckte die Achseln. »Sie waren Esten. Sie sprachen estnisch. Wenn jemand ein Gangster ist und estnisch spricht, nehme ich an, dass er von der Obtschak kommt.«
»Und sie sind hierhergekommen?«
»Hierher in meine Wohnung? Nein. Sie haben mich zu einem Lagerhaus in Deutz bestellt. Sie meinten, dort könnte ich etwas Geld verdienen. Im Wachdienst.«
»Im Wachdienst? Verarschen Sie mich nicht, Kromm. Niemand setzt Sie mehr im Wachdienst ein!«
Der Deutsche hob die Hand und wollte widersprechen, aber der Lauf von Clarks SIG zielte erneut auf seine Brust, deshalb ließ er die Hand wieder sinken.
»Ich habe in der Vergangenheit ein paar … ein paar Arbeiten für osteuropäische Immigranten erledigt.«
»Arbeiten welcher Art? Gefälschte Ausweise?«
Kromm schüttelte den Kopf. Er war jedoch zu stolz, um es zu verschweigen. »Schlösser. Ich habe Schlösser für sie geknackt.«
»Von Autos?«
Jetzt musste der alte Deutsche lächeln. »Autos? Nein. Autohandlungen. Damit bessere ich meine winzige Rente etwas auf. Dadurch habe ich auch ein paar Esten kennengelernt. Ich kannte deshalb den Mann, der mich zu diesem Lagerhaus bestellt hat, sonst wäre ich niemals dorthin gegangen.«
Clark griff in seine Manteltasche, holte einen Notizblock und einen Bleistift heraus und warf sie dem Alten zu. »Ich möchte seinen Namen, seine Adresse und die Namen aller Esten haben, von denen Sie wissen, dass sie bei der Obtschak sind.«
Kromm fiel in seinem Stuhl regelrecht zusammen. »Sie werden mich umbringen.«
»Hauen Sie ab. Hauen Sie jetzt gleich von hier ab. Glauben Sie mir, wer immer Sie über mich ausgefragt hat, ist schon lange nicht mehr hier. Aber genau den suche ich. Die Männer, die Sie dorthin bestellt haben, sind nur dessen örtliche Handlanger. Verlassen Sie Köln, und sie werden Sie nicht mehr belästigen.«
Kromm bewegte sich nicht. Er schaute Clark nur an.
»Ich werde Sie hier und jetzt töten, wenn Sie nicht das tun, was ich Ihnen sage.«
Kromm fing ganz langsam zu schreiben an, aber dann schaute er am Pistolenlauf vorbei, als ob er etwas sagen wollte.
»Schreiben Sie oder reden Sie«, sagte Clark, »aber tun Sie es gleich, sonst jage ich Ihnen eine Kugel ins Knie.«
Jetzt begann der deutsche Rentner zu reden. »Nachdem sie mich in die Mangel genommen hatten, musste ich einen Tag im Krankenhaus verbringen. Ich habe den Ärzten erzählt, ich sei auf der Straße überfallen worden. Als ich dann heimkam, war ich wütend und wollte mich rächen. Ihr Anführer, der mir die Fragen gestellt hat, stammte nicht von hier. Ich merkte das, weil er kein Deutsch sprach. Nur estnisch und russisch.«
»Reden Sie weiter.«
»Ich habe immer noch einen Freund in Moskau, der sich dort gut auskennt.«
»Der sich in der Mafia gut auskennt, wollen Sie sagen?«
Kromm zuckte die Achseln. »Er ist freier Unternehmer. Wie dem auch sei, ich habe ihn angerufen und um Informationen über die Obtschak gebeten. Den wahren Grund habe ich ihm nicht erzählt. Er nahm wohl an, dass es um irgendein Geschäft ging. Ich habe den Mann beschrieben, der mich ausgefragt hat. Etwa fünfzig Jahre alt und mit Haaren, die er gefärbt hatte, als ob er der zwanzigjährige Sänger einer Punkband wäre.«
»Und Ihr Freund hat Ihnen einen Namen genannt?«
»Das hat er.«
»Und was haben Sie dann getan?«
Kromm zuckte die Achseln. Er schaute beschämt auf den Boden. »Was hätte ich tun können? Ich war betrunken, als ich den Entschluss fasste, mich zu rächen. Jetzt bin ich wieder nüchtern.«
»Geben Sie mir den Namen dieses Mannes.«
»Wenn ich das tue und Ihnen den Namen des Mannes in Tallinn gebe, der mich von diesen Leuten zusammenschlagen ließ, könnten Sie dann nicht seine Männer hier in Köln in Ruhe lassen? Wenn Sie direkt nach Tallinn weiterreisen, werden die doch gar nicht erfahren, dass ich geplaudert habe.«
»Das kann ich machen, Manfred.«
»Sehr gut«, sagte Kromm und nannte Clark den Namen, als draußen gerade die Dunkelheit hereinbrach.