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Sam und Dom gingen voraus, während Jack und der Afghane den hilflosen Reuters-Reporter trugen. Es war zwar recht anstrengend, ihn die Treppe hinaufzuschleppen, aber im Erdgeschoss trafen sie eine weit ernstere Lage an. Chavez hatte den ersten Stock gesäubert, aber jetzt knieten er und al-Darkur in der Eingangshalle in der Nähe der Treppe und feuerten auf feindliche Kämpfer, die in das Haus hineindrängten.
Der pakistanische Major hatte einen Schuss in die linke Schulter abbekommen, und eine weitere Kugel hatte sein Gewehr außer Gefecht gesetzt. Trotzdem feuerte er mit seiner rechten Hand unverdrossen seine Pistole ab.
Chavez bemerkte hinter sich die fünf Männer, von denen einer getragen werden musste. Er nickte sich selbst zu und klopfte al-Darkur auf die Schulter. »Wir sollten einen Weg nach draußen finden, bevor der Feind anfängt, mit RPGs zu schießen!«
Sie drangen in den hinteren Bereich des Hauses vor. Der hinkende Sam Driscoll ging voraus. Er trug eine Kalaschnikow, die er sich bei einem toten Wärter besorgt hatte. Chavez hatte die Nachhut übernommen und schoss ständig, um die feindlichen Kämpfer in den Zimmern und Gängen im Vorderteil des Hauses niederzuhalten.
Der Gang endete in einer T-Abzweigung. Driscoll wandte sich nach rechts, und der Rest der Prozession folgte ihm. Sie landeten in einem großen Zimmer an der Rückwand des Hauses, aber die Fenster waren vermauert, und es gab keine Tür nach draußen.
»Eine Sackgasse!«, rief Sam. »Versucht die andere Richtung!«
Jetzt ging Chavez voran. Er war überrascht, dass das feindliche Feuer in diesem Bereich des Gangs merklich abgenommen hatte. Ryan und Caruso schossen den Stamm des T hinunter, während Chavez und al-Darkur auf die andere Seite eilten, wo sie in eine lange, enge Küche kamen. Auch hier gab es keinen Ausgang, aber eine kleine Seitentür sah vielversprechend aus. Chavez öffnete sie und hoffte, dahinter ein Fenster, eine Tür oder wenigstens eine Treppe ins Obergeschoss zu finden.
Dahinter lag jedoch nur ein dunkler Raum, etwa fünf Meter breit und zehn Meter lang. Es schien eine Art Reparaturwerkstatt zu sein. Aber Ding interessierte sich nicht für das Zimmer selbst, sondern leuchtete mit seiner Gewehrlampe an dessen Wänden entlang, um einen Ausgang zu finden. Als er nichts entdeckte, wollte er den Raum wieder verlassen, um sich den anderen anzuschließen. Da fiel ihm im Dämmerlicht etwas ins Auge.
Vorhin hatte er die Holztische und -regale in dem Zimmer ignoriert, jetzt betrachtete er sie etwas genauer, vor allem, was auf ihnen stand.
Behälter mit Autoteilen und elektrischen Komponenten. Batterien. Handys. Kabel. Kleine Pulverfässer. Stahlplatten und ein blaues 200-Liter-Fass, das etwas enthielt, das Ding sofort als Salpetersäure identifizierte.
Auf dem Boden lagen auseinandermontierte Mörsergranaten.
Ding begriff, dass er auf eine Bombenwerkstatt gestoßen war. Die hier hergestellten Sprengkörper wurden über die Grenze nach Afghanistan geschmuggelt. Das erklärte auch, warum die Haqqani-Kämpfer keine Rakete auf Chavez und seine Begleiter hier im Hinterteil des Hauses abgefeuert hatten. Wenn irgendetwas in diesem Raum hochging, würde das gesamte Anwesen einschließlich aller Haqqani-Männer pulverisiert werden.
»Mohammed?«, rief Ding und al-Darkur lugte in den Raum.
Sofort nickte er. »Bomben.«
»Ich weiß, was das ist. Können wir sie benutzen?«
Mohammed nickte mit einem schiefen Lächeln. »Mit Bomben kenne ich mich aus.«
Ryan und Caruso hatten nur noch ein Magazin. Ab jetzt feuerten sie Einzelschüsse den Stamm des T hinunter. Sie wussten, dass sie inzwischen zahlreiche Haqqani-Kämpfer ausgeschaltet hatten, aber es schien einen unbegrenzten Nachschub zu geben.
Ein Puma-Hubschrauber drehte inzwischen wieder seine Kreise um das Gehöft. Jack hörte das an dem gelegentlichen Gewehrfeuer, das eindeutig von oben kam und sich um ihren gegenwärtigen Standpunkt herumbewegte. Den Hubschrauber selber hörte er dagegen nicht. Die ständigen Schusswechsel in den engen Hausgängen hatten sein Gehör für den Moment ruiniert. Außer dem Lärm von kleineren und größeren Waffen konnte er kaum noch etwas identifizieren.
Chavez erschien jetzt hinter den beiden Männern und überreichte ihnen je ein Magazin. Ein zweites ließ er in ihre Brusttaschen gleiten. Dabei rief er ihnen zu: »Dahinten ist eine Bombenwerkstatt!«
»O Scheiße«, sagte Ryan. Ihm wurde klar, dass er und seine Kameraden in ein Feuergefecht verwickelt waren und dabei auf einem riesigen Pulverfass saßen.
»Al-Darkur baut gerade einen improvisierten Sprengsatz zusammen, um damit die Rückwand des Hauses aufzusprengen. Wenn er es richtig macht, sollte das Loch groß genug für uns sein. Wenn es so weit ist, dreht ihr euch um und rennt den Gang hoch zu diesem Loch. Ich werde euch Deckung geben.«
Jack fragte gar nicht erst, was passieren würde, wenn Mohammed es nicht »richtig machen« würde.
Ding setzte seine Belehrungen fort: »Ihr dürft das Haus erst verlassen, wenn ihr eure mobile Signalbake angemacht habt. Der Doorgunner im Puma feuert jetzt bereits seit zehn Minuten mit dem MG auf dieses Haus. Verlasst euch bloß nicht darauf, dass er dieses kleine Infrarot-Blinklicht auf eurem Rücken bemerkt. Er wird euch einfach in Hackfleisch verwandeln. Also zeigt ihm eure Signalbake, damit er mitbekommt, dass ihr zu den guten Jungs gehört.«
Die beiden Männer nickten.
»Sam und der Afghane werden den Kranken tragen, und ihr beide gebt ihnen Feuerschutz, bis der Hubschrauber landet und sie an Bord nimmt.«
»Verstanden!«, sagte Dom, und Ryan nickte.
Ryan und Caruso beschränkten sich auch weiterhin auf kontrolliertes Einzelfeuer, gerade genug, damit der Feind wusste, dass er einen hohen Preis zahlen musste, wenn er sich bis zur T-Abzweigung vorarbeiten wollte. Ab und zu schoss jemand zurück, aber meist kamen die Schüsse nur aus Kalaschnikows, die jemand kurz um die Ecke hielt. Die Kugeln prallten gegen Wände, Boden und Decke, ohne größeren Schaden zu hinterlassen.
Zweimal gingen al-Darkur und Chavez in dieser Zeit hinter ihnen vorbei. Sie brachten Teile des Sprengkörpers von der Bombenwerkstatt auf der linken Seite zum anderen Ende des Gangs zu ihrer Rechten hinüber.
Kurz darauf stand Chavez hinter ihnen und schrie ihnen ins Ohr: »Volle Deckung!«
Beide Männer ließen sich auf den Steinboden des Gangs fallen und schützten ihren Kopf mit den Händen. Nach ein paar Sekunden war hinter ihnen ein ungeheurer Schlag zu hören. Die Erschütterung war so stark, dass Jack befürchtete, das Haus könnte über ihnen zusammenbrechen. Tatsächlich fielen Mörtelstücke, Steine und Staub von der Decke und regneten auf die Männer hinunter.
Caruso war als Erster auf den Beinen. Er rannte zum anderen Ende des Ganges hinüber. Ryan blieb dicht hinter ihm. Unterwegs überholten sie Driscoll und den Afghanen, die den Reuters-Mann unter den Armen gepackt hatten und mit sich zogen.
Jack holte Dom ein, als sie das Zimmer mit den vermauerten Fenstern betraten. Hier schwebte so viel Staub in der Luft, dass ihre Waffenlampen nutzlos waren. Sie liefen einfach zur Außenwand hinüber, bis sie schließlich den freien Himmel sahen. Sofort warf Dominic die blinkende Signalbake in den Hinterhof des Anwesens hinaus. Zumindest in der Theorie würde sie den Schützen in den über ihnen kreisenden Hubschraubern signalisieren, dass sie nicht auf sie feuern sollten.
Trotzdem hatte Dominic Angst, eine volle MG-Salve von dem Doorgunner abzubekommen, als er selbst auf den Hinterhof hinaustrat. Glücklicherweise hielten die Zarrar-Kommandosoldaten eine strikte Feuerdisziplin ein. Der Amerikaner kauerte sich hinter einen niedrigen Lkw-Reifenstapel und deckte die gesamte Nordseite des Anwesens ab, während sein Cousin sich links neben al-Darkurs Bombenloch hinter einen kleinen Abfallhaufen legte, um von dort aus die Südseite zu sichern.
Ein SSG-Hubschrauber hatte mit seiner 20-mm-Kanone im Hinterhof sämtliche Stromleitungspfosten in Stücke geschossen, sodass der Hubschrauber direkt neben Major al-Darkur, den befreiten Gefangenen und den amerikanischen Agenten landen konnte. Nach wenigen Sekunden waren alle an Bord, der Helikopter stieg auf und brachte sich mit Höchstgeschwindigkeit in Sicherheit.
In der Kabine ließen sich die sieben Männer übereinander auf das Bodenblech fallen, sodass sie hinterher Arme und Beine auseinandersortieren mussten. Jack Ryan fand sich ganz unten in diesem Menschenhaufen wieder. Er war jedoch viel zu müde, um sich zu bewegen, und konnte sich nicht einmal dazu entschließen, das dicke Bein des afghanischen Politikers von seinem Gesicht herunterzuschieben.
Nach zwanzig Minuten Tiefflug ging in der Hubschrauberkabine endlich das Licht an, und der Pilot verkündete über Mohammed al-Darkur und dessen mit dem Bordfunk verbundene Headset, dass sie jetzt außer Gefahr waren. Die Männer setzten sich auf und reichten Wasserflaschen herum. Der Lademeister der Maschine kümmerte sich um al-Darkurs Schulter, während ein Zarrar-Kommandosoldat dem australischen Reuters-Korrespondenten am Arm eine Infusion anlegte.
Der normalerweise so trockene und stoische Sam Driscoll fiel jetzt jedem Mitglied seines Befreiungsteams um den Hals. Dann rollte er sich in einer Ecke zusammen und schlief ein, während er sich weiterhin eine Wasserflasche an die Brust drückte.
Chavez beugte sich zu Jacks Ohr hinüber, um den Lärm der Turbinen zu überschreien: »War wohl ganz schön knapp dort unten.«
Jack folgte Dings Blick zum Segeltuch-Magazinhalter auf seiner Brust. In einer Magazintasche befand sich ein gezacktes Loch. Er holte ein aus Metall und Kunststoff bestehendes P90-Magazin heraus und stellte fest, dass eine Kugel es glatt durchbohrt hatte. Danach griff er mit dem Finger in das Loch in seinem Brustgeschirr und pulte nach einiger Zeit ein scharfes und in sich verdrehtes 7,62-mm-Geschoss heraus, das in seine Keramik-Brustplatte eingeschlagen war.
In all dem Trubel hatte Jack nicht einmal bemerkt, dass ihn eine Kugel direkt auf die Brust getroffen hatte.
»Das glaube ich jetzt nicht«, sagte er, als er das Geschoss hochhielt und betrachtete.
Chavez lachte nur und zwickte Ryan in den Arm. »Du warst wohl noch nicht fällig, ’mano.«
»Offensichtlich nicht«, sagte Jack und hätte jetzt gern Mom und Dad und Melanie angerufen. Und plötzlich packte ihn wieder die Übelkeit.