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Mohammed al-Darkur tat sein Bestes, den über Stock und Stein holpernden Lastwagen unter Kontrolle zu bringen, indem er an dem toten Fahrer vorbeilangte und das Lenkrad ergriff. Das war jedoch leichter gesagt als getan. Mohammeds Helm war heruntergefallen, und jetzt schlug sein Kopf bei jeder Bodenwelle ungeschützt gegen die Metalldecke des Führerhauses. Er spürte, wie ihm Blut über das Gesicht tropfte, aber er konnte es nicht abwischen, bevor es ihm in die Augen lief, weil er beide Hände am Lenkrad benötigte.

Schließlich blieben sie mitten in dem trockenen Flussbett stehen. Er hatte es sogar geschafft, durch eine letzte Lenkraddrehung die lockere Kiesschicht zu vermeiden, die sich in Tausenden von Regenzeiten angesammelt hatte. Er hörte aus der Ferne immer noch Gewehrfeuer, aber er nahm sich die Zeit, einen Fuß auf die Bremse zu setzen und dann zu warten, bis sein Hauptmann auf der linken Seite ausgestiegen war und trotz Beschuss um die Kühlerhaube herumlief und von rechts wieder ins Führerhaus kletterte. Zusammen schoben sie den toten Fahrer auf den Mittelsitz. Der Hauptmann übernahm jetzt das Steuer, und al-Darkur rückte zum linken Seitenfenster hinüber, fand sein Gewehr auf dem Bodenblech und feuerte auf die Lichtblitze weiter oben, während der Lastwagen nach Osten weiterfuhr.

Al-Darkur war natürlich aufgefallen, dass die Männer hinten auf der Ladefläche keine Schüsse mehr abgaben. Er machte sich Sorgen um sie, vor allem um den Amerikaner. Immerhin hatte er ihm versprochen, er werde sein Leben schützen. Aber es gab keinen Weg zurück. Sie mussten es erst einmal zum Stützpunkt schaffen. Dann konnten sie etwas unternehmen, um den Verwundeten oder den Leuten, die sie eventuell zurückgelassen hatten, zu helfen.

Sam erwachte aus seiner Ohnmacht. Sein Körper lag zusammengerollt neben einem kleinen Felsblock. Er fühlte keine Schmerzen, aber er war erfahren genug, um zu wissen, dass er ganz bestimmt verwundet war. Aus einem fahrenden Lastwagen zu fallen musste ihn ganz bestimmt verletzt haben, auch wenn das Adrenalin in seinem Blut etwaige Schmerzen im Moment überdecken mochte.

Er blieb erst einmal ganz still liegen und beobachtete, wie der schwere Lkw weiterhin den Abhang hinunterrollte und von den Männern oben auf der Straße immer noch beschossen wurde. Driscoll hatten sie jedoch noch nicht entdeckt. Er hoffte, hier im Dunkeln liegen bleiben zu können, bis die Haqqani-Kämpfer verschwunden waren. Erst dann würde er seine Wunden inspizieren.

Tatsächlich hörte oben auf der Straße das Gewehrfeuer allmählich auf, als der Lastwagen mit hoher Geschwindigkeit das trockene Flussbett entlangfuhr und in der Dunkelheit verschwand. Er hörte, wie Männer auf ihre Pick-ups kletterten und wegfuhren, und er hörte, wie andere Männer, höchstwahrscheinlich Haqqani-Kämpfer, irgendwo da draußen vor Schmerzen stöhnten. Er hatte keine Ahnung, wie viele Überlebende es auf der Anhöhe über ihm gab, aber er war sich sicher, dass sich oben im Unterschlupf immer noch eine ganze Anzahl feindlicher Kämpfer aufhielt.

Driscoll strich sich jetzt mit der Hand über den Körper. Er fühlte Blut auf seinen Armen und seinem Gesicht, konnte sich jedoch ohne Schmerzen bewegen. Er hob dann ganz langsam das eine und dann das andere Bein. Beide waren noch einsatzfähig. Er tastete mit den Fingerspitzen im trockenen Sand und Gestrüpp nach seinem Gewehr, aber er hatte die Waffe wohl bei seinem Sturz vom Lastwagen verloren. Seine Pistole steckte jedoch noch in seinem Hüftkoppel. Er wusste das, weil die Waffe ihm auf seine unteren Rippen drückte.

Nachdem er sich jetzt sicher war, dass er sich normal bewegen konnte, schaute er sich in der Dunkelheit um. Fünfzig Meter unterhalb lag im Westen ein niedriges Gehölz. Er dachte darüber nach, dorthin zu kriechen und sich darin zu verstecken, bevor der Tag anbrach.

In diesem Moment beleuchtete von der Straße über ihm der Strahl einer Taschenlampe die Bäume. Ein weiterer Strahl huschte jetzt links von Driscoll im Osten über das Gelände. Offensichtlich suchten sie aufs Geratewohl den Abhang ab, vielleicht sogar nach jemand, der vom fliehenden Lastwagen gefallen war.

Sam rührte sich nicht. Er konnte nicht viel mehr tun, als zu hoffen, dass der Strahl nicht gerade ihn traf. Zumindest hätte er seine Hand gerne am Griff seiner Glock 17 gehabt, aber das würde schon mehr Bewegung erfordern, als er riskieren wollte.

Die Lichter glitten über ihn hinweg, konzentrierten sich dann jedoch auf eine Stelle, die zwanzig Meter von ihm entfernt zu seiner Linken lag. Die Männer auf der Straße riefen sich jetzt aufgeregt etwas zu. Sie hatten zweifellos jemand gesehen.

Scheiße, dachte Sam. Wenn die Haqqani-Kämpfer den Abhang herunterkamen, würde er keine andere Wahl haben, als …

Da, eine Bewegung genau an der Stelle, die jetzt von den Taschenlampen beleuchtet wurde. Ein einzelner SSG-Kommandosoldat, der Mann, der zusammen mit Driscoll auf der Ladefläche des Lkws gewesen war, als dieser von der Straße abkam, stand jetzt auf und eröffnete mit seinem M16 das Feuer. Es hatte ihn vorhin wohl auch hinausgeschleudert, aber jetzt war er entdeckt worden und wusste, dass er keine andere Chance mehr hatte, als sich mit seiner Waffe zu verteidigen. Driscoll sah, dass der Mann verwundet war. Im hellen Licht der Lampen glänzte das Blut auf seinem Körper und seiner Ausrüstung.

Sam hätte dort bleiben können, wo er jetzt war, aber das kam für ihn überhaupt nicht infrage. Er rollte sich auf die Knie, zog seine 9-mm-Glock und schoss auf die Männer weiter oben. Dabei ging er natürlich das Risiko ein, dass der Zarrar-Soldat, überrascht über den plötzlichen Lärm, ihm in den Rücken schoss. Er glaubte sich jedoch auf die Ausbildung und den Instinkt des Kommandosoldaten verlassen zu können und konzentrierte sich darauf, so viele Haqqani-Kämpfer wie möglich zu töten.

Tatsächlich schaltete er mit seiner Pistole die beiden Männer mit den Taschenlampen aus. Den einen traf er in den Schenkel, den anderen direkt in den Rumpf. Die anderen auf der Straße gingen in Deckung, was Driscoll die Zeit verschaffte, sich an seinen SSG-Kameraden zu wenden. »Zu diesen Bäumen hinüber! In Zehn-Meter-Abschnitten!«, rief er. Der junge Soldat schaute über die Schulter, entdeckte das Gehölz auf halber Höhe des Abhangs, drehte sich um und lief zehn Meter darauf zu. Währenddessen schickte Sam ein paar Pistolenschüsse zur Straße hinauf. Als der SSG-Mann ihm dann Unterstützungsfeuer gab, sprang Driscoll auf die Füße und begann jetzt selbst, auf die Bäume zuzulaufen.

Auf diese Art bewegten sie sich vorwärts: Einer rannte zehn Meter, ging in Stellung und gab dem anderen Unterstützungsfeuer, während dieser seinerseits zehn Meter vorrückte. Mehr als einmal stolperten Sam oder der SSG-Sergeant und fielen zu Boden, was den Prozess verlangsamte und den Männern oben auf der Straße für ein paar Sekunden ein ruhendes Ziel eröffnete.

Als sie noch zwanzig Meter von den Bäumen entfernt waren, rastete der Verschluss von Driscolls Glock in geöffneter Stellung ein, nachdem er die letzte Patrone verschossen hatte. Genau in diesem Moment eilte der Zarrar-Kommandosoldat an ihm vorbei. Sam zog sein letztes volles Pistolenmagazin aus dem Gürtel und rammte es in den Pistolengriff. Dann ließ er den Verschluss nach vorne schnellen und führte dadurch eine Patrone ins Patronenlager ein.

Direkt neben sich hörte er plötzlich den Soldaten laut stöhnen, bevor er vornüberstürzte und zu Boden fiel. Der Amerikaner feuerte sieben Schuss in Richtung Straße ab, wirbelte herum und rannte zu seinem verletzten Kameraden hinüber, um ihm zu helfen. Er sah jedoch voller Schrecken, dass ihm ein gut gezieltes Geschoss aus einer AK den gesamten Hinterkopf abgerissen hatte.

Der Mann war auf der Stelle tot gewesen.

»Fuck!«, schrie Sam in einer Mischung aus Frustration, Schmerz und Angst. Aber er konnte keine Sekunde länger hierbleiben. Die Funken, die die heranfliegenden Vollmantelgeschosse aus den überall herumliegenden Steinen herausschlugen, waren ein weiterer Antrieb, seinen Hintern sofort aus der Schusslinie zu bringen. Driscoll griff sich das Gewehr des Toten und robbte, rollte und glitt dann den Rest des Weges zu den Bäumen hinunter.

Die Haqqani-Kämpfer begannen sofort, das Wäldchen zu beschießen, in dem Driscoll Deckung gesucht hatte. Unzählige Kalaschnikow-Geschosse schlugen in die Stämme und Äste der Maulbeerbäume und Tannen ein und ließen Blätter und Nadeln auf ihn herabregnen. Sam ließ sich auf den Bauch fallen und kroch so schnell wie möglich zum anderen Ende des kleinen Gehölzes hinüber, das insgesamt nur dreißig Meter lang und ebenso breit war. Das hieß, dass er sich nicht allzu lange darin verstecken konnte.

Sam fand eine Stelle hinter einem dicken Baumstamm und nahm sich einen Moment Zeit, um seinen Körper nach Verletzungen abzusuchen. Er war voller Blut. Wahrscheinlich hatten ihn aufgewirbelte Steinsplitter getroffen. Außerdem hatte er bei seinem Sturz vom Lastwagen und dem Blitzabstieg zu seiner gegenwärtigen Deckung zahlreiche Platzwunden und tiefe Kratzer am ganzen Körper davongetragen.

Er überprüfte seine Ausrüstung oder das, was von ihr übrig war.

Der Karabiner, den er sich von dem toten Soldaten besorgt hatte, war ein älteres M16. Eine gute Waffe mit einem langen Lauf. Sie war besonders dafür geeignet, weit entfernte Ziele zu treffen. Allerdings hätte er seinen mit einem Zielfernrohr ausgestatteten M4-Karabiner vorgezogen, den er weiter oben verloren hatte. Aber immerhin passten seine drei restlichen M4-Magazine auch in den M16-Karabiner. Er führte ein Magazin in sein neues Gewehr ein und wechselte zu einer anderen Stelle hinüber, die direkt am südlichen Rand des Wäldchens lag.

Hier überdachte er seine Optionen. Er konnte sich ergeben, er konnte davonlaufen oder er konnte kämpfen.

An Kapitulation dachte er keine Sekunde, also kamen nur die beiden anderen Optionen infrage.

Driscoll war ein tapferer Mann, aber er war auch ein Pragmatiker. Er hatte kein Problem damit, von hier abzuhauen, wenn das im Augenblick die beste Überlebensoption war. Er lugte hinter den Bäumen hervor, um herauszufinden, ob es einen Fluchtweg gab.

Dreißig Meter hinter ihm explodierte eine Granate, die wahrscheinlich von einer RPG abgefeuert worden war.

Fuck.

Er schaute aufs Tal hinaus. In einer Wolkenlücke erschien plötzlich eine schmale Mondsichel, die einen schwachen Glanz über das trockene felsige Flussbett warf, das sich in Ost-West-Richtung erstreckte. Das nackte Gesteinsfeld war am Talboden etwa fünfzig Meter breit. Jeder, der das Gehölz verließ, in dem er Deckung gesucht hatte, würde mehrere Minuten lang den Gewehren oben auf der Straße schutzlos ausgeliefert sein, bevor er eventuell eine neue Deckung fand.

Sam konnte also nicht spurlos in der Nacht verschwinden. Er konnte nicht zum Flussbett hinunterlaufen und auf diesem Weg entkommen. Das wäre reiner Selbstmord.

Driscoll entschied sich in diesem Moment, dass er nicht mit einer Kugel im Rücken diese Welt verlassen wollte. Diese Bäume würden sein Alamo werden. Er würde sich seinem Feind entgegenstellen und gegen ihn kämpfen. Er würde es möglichst vielen von ihnen heimzahlen, bevor ihre schiere Übermacht ihn überwältigen würde. Langsam und doch ein wenig zögerlich griff er nach dem M16, stand auf und ging zum oberen Ende des Wäldchens hinauf.

Er war noch keine zehn Meter weit gekommen, als heftiges AK-Feuer noch mehr Blätter auf ihn herunterregnen ließ. Er ließ sich auf die Knie fallen und schoss blindlings aus seiner Deckung heraus. Er verfeuerte ein halbes Magazin, um ihre Köpfe unten zu halten. Dann richtete er sich auf und rannte dem Feind entgegen.

Eine Gruppe von sechs Haqqani-Kämpfern war bereits die Hälfte des Abhangs hinuntergestiegen. Man hatte sie wohl losgeschickt, um nach dem Soldaten zu suchen, der sich bestimmt hinter einem Felsbrocken zwischen den Bäumen verbarg. Sie waren jetzt völlig überrascht, als Sam aus dem Wäldchen direkt vor ihnen stürmte und ganze Gewehrsalven auf sie abgab. Als sie und die Männer oben auf der Straße das Feuer erwiderten, ließ sich Driscoll zu Boden fallen, schaute nach den Mündungsblitzen und feuerte Drei-Schuss-Feuerstöße ab, bis sein Magazin leer war. Er wusste, dass er mindestens zwei Männer erledigt hatte. Es mussten also noch vier Kämpfer übrig sein. Er rollte sich auf die Hüfte, holte ein Magazin aus seinem Brustgurt und begann, sein Gewehr neu zu laden.

Genau in diesem Moment sah er oben auf der Straße einen helleren, größeren Lichtblitz. Sofort erkannte er die helle Lichtspur einer RPG-Granate. Sekundenbruchteile später wurde ihm klar, dass sie genau dort einschlagen würde, wo er gerade lag.

Instinktiv sprang er auf die Beine, drehte sich um und spurtete zurück zu den Bäumen.

Die Granate schlug direkt hinter ihm in den Boden ein, explodierte in einem gleißenden Feuerball, jagte dem amerikanischen Agenten Sam Driscoll heiße, scharfe Granatsplitter in den Körper und schleuderte ihn wie eine abgelegte Stoffpuppe in das Gehölz hinein.

Dort lag er reglos mit dem Gesicht auf dem Boden, während die Haqqani-Kämpfer zu ihm hinunterstiegen.