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Die vier Puma-Hubschrauber überquerten kurz nach drei Uhr morgens die Grenze zu Nordwasiristan. Die großen Helikopter flogen niedrig und eng beieinander. Sie nutzten Bergeinschnitte und tiefe Flusstäler, um sich immer weiter ihrem Ziel, der Stadt Aziz Khel, zu nähern.

Ryan, der, eingeklemmt zwischen Mohammed al-Darkur und Dom, auf dem Boden der Maschine saß und in die dunkle Landschaft hinausschaute, musste gegen seine Übelkeit ankämpfen. Ihm gegenüber saß Chavez. In dem Fluggerät befanden sich außer ihnen noch fünf Zarrar-Kommandosoldaten, ein Doorgunner an seinem 7,62-mm-MG und ein Lademeister, der vorne bei den beiden Piloten saß.

Die Besatzung der anderen drei Hubschrauber sah ähnlich aus.

Chavez übertönte das Dröhnen der Motoren: »Dom, Jack! Ich möchte, dass ihr beiden, wenn wir innerhalb dieses Anwesens sind, immer direkt hinter mir bleibt. Haltet eure Waffen ständig im Anschlag. Wir bewegen uns als Einheit.«

Ryan hatte in seinem ganzen Leben noch nie solche Angst gehabt. Jeder hier in dieser Gegend in einem Umkreis von hundert Kilometern mit Ausnahme der vier Hubschrauberbesatzungen würde ihn umbringen, sobald er ihn sah.

Al-Darkur hatte bisher ein Headset getragen, um mit den Piloten kommunizieren zu können. Jetzt nahm er es ab und setzte stattdessen seinen Helm auf. Er beugte sich zu Chavez hinüber und schrie: »Wir sind fast da. Sie werden zehn Minuten kreisen! Keine Sekunde länger! Dann ziehen sie ab.«

»Verstanden«, rief Ding zurück.

Ryan beugte sich zu Chavez’ getarntem Gesicht hinüber. »Reichen denn zehn Minuten?«

Der klein gewachsene Latino zuckte die Achseln. »Wenn wir im Gebäude festgenagelt werden, sind wir tot. Hier wimmelt es nur so von Haqqani-Kämpfern. In jeder Sekunde, die wir länger dort drin bleiben, kann uns einer von ihnen eine Kugel in den Kopf jagen. Wenn wir in zehn Minuten nicht wieder draußen sind, kommen wir überhaupt nicht mehr dort raus, ’mano.«

Ryan nickte, setzte sich wieder gerade und schaute auf die welligen schwarzen Berge hinunter.

Plötzlich zog der Hubschrauber steil nach oben und Jack kotzte ans Fenster.

Sam Driscoll hatte keine Ahnung, ob es draußen Tag oder Nacht war. Gewöhnlich konnte man die Tageszeit nach dem Wachwechsel erraten oder danach, ob es nur Brot zu essen gab (Morgen) oder zu dem Brot auch noch ein kleiner Blechnapf mit wässriger Brühe gereicht wurde (Abend). Nach ein paar Wochen Gefangenschaft begannen er und die beiden Männer, die neben ihm immer noch in dem Kellergefängnis hausen mussten, jedoch zu vermuten, dass die Wärter ihren »Speiseplan« umgedreht hatten, um sie zu verwirren.

In der Nachbarzelle steckte ein Reuters-Reporter aus Australien. Sein Name war Allen Lyle, und er war jung, nicht über dreißig. Er hatte sich eine Art Magenvirus eingehandelt und schon seit ein paar Tagen nichts mehr bei sich behalten können. In der vordersten Zelle direkt neben der Tür zum Treppengang wurde ein afghanischer Politiker gefangen gehalten. Er war erst seit ein paar Tagen hier. Gelegentlich wurde er von seinen Wächtern verprügelt, aber sonst war er noch bei guter Gesundheit.

Sams Bein war wieder fast verheilt. Allerdings hinkte er jetzt leicht und hatte sich wohl auch eine Infektion eingefangen. Er fühlte sich ständig schwach, ihm war dauernd übel, und nachts hatte er Schweißausbrüche. Er hatte inzwischen ziemlich abgenommen, und durch das ständige Liegen auf seiner Pritsche hatte auch die Muskelspannung nachgelassen.

Er stand mühsam auf und hinkte zu den Gitterstäben hinüber, um nach dem jungen Mann von Reuters zu sehen. In der ersten Woche hatte der ihn mit Fragen regelrecht gelöchert. Er wollte wissen, für wen er arbeitete und womit er beschäftigt war, als ihn die Taliban gefangen genommen hatten. Aber Driscoll gab nie eine Antwort, und schließlich gab der Reuters-Reporter auf. Jetzt sah es fast so aus, als ob er dabei wäre, auch seinen Lebenswillen aufzugeben.

»He!«, rief Sam. »Lyle! Wach auf!«

Der Reporter regte sich. Er öffnete halb die Augen. »Ist das ein Hubschrauber?«

Er ist schon im Delirium, dachte Sam. Armer Bastard.

Warte mal. Sam hörte es jetzt auch. Es war schwach, aber es war ein Helikopter. Der Afghane neben der Tür stand auch auf und schaute zu Sam herüber, um von ihm eine Bestätigung zu bekommen.

Jetzt hörten es auch die drei Gefängniswärter vor den Zellen. Sie blickten sich an, schauten dann den dunklen Gang hinunter und riefen einem Wärter etwas zu, den Driscoll aus seinem Blickwinkel nicht sehen konnte.

Einer der Männer machte einen Witz, und die drei anderen lachten.

Der afghanische Politiker schaute jetzt wieder zu Driscoll hinüber und sagte: »Er hat gemeint, Präsident Kealty sei gekommen, um Sie und den Reporter zu holen.«

Sam seufzte. Es war nicht das erste Mal, dass sie über sich pakistanische Armeehubschrauber gehört hatten. Nach ein paar Sekunden war deren Geräusch aber jedes Mal wieder verschwunden. Driscoll drehte sich um und wollte zu seiner Pritsche zurückhumpeln.

Und dann … Bum!

Irgendwo über ihnen gab es einen lauten Knall. Sam wandte sich wieder dem Gefängnisgang zu.

Jetzt war Maschinengewehrfeuer zu hören. Und jetzt eine weitere Explosion.

»Legt euch auf den Boden!«, rief Driscoll den anderen Gefangenen zu. Wenn dies ein Rettungsversuch der pakistanischen Armee sein sollte und auch hier unten geschossen werden würde, könnten sie die Querschläger in diesem Steinkeller treffen. Die Kugeln der Freunde würden dann ganz genauso wehtun wie die der Feinde.

Sam suchte jetzt selbst nach einer Deckung, als ein Wärter an seine Zelle herantrat. Die Augen des Mannes waren vor Angst und Entschlossenheit weit aufgerissen. Sam bekam den Eindruck, dass der Wichser ihn als menschlichen Schutzschild benutzen wolle, wenn die Armeesoldaten in den Keller hinunterkommen sollten.

Sie hatten den Hubschrauber bereits seit fast zwei Minuten verlassen, und trotzdem hatte Jack Ryan noch keinen einzigen Feind gesehen. Zuerst waren sie etwa hundert Meter vor dem Ziel in eine knietiefe Abfallgrube gestürzt. Jack verstand nicht, warum der Pilot sie nicht näher an ihrem Zielgebäude abgesetzt hatte. Als sie sich jedoch dem ummauerten Anwesen näherten, sahen sie mehrere Reihen von Pfosten und die dazugehörenden Stromleitungen, die die offene Fläche vor dem Haupttor kreuz und quer überspannten.

Während Chavez die mit Wasser verdämmte Sprengladung am äußeren Eingangstor anbrachte, gaben ihm Jack, Dom und Mohammed Deckung. Sie ließen sich auf die Knie fallen und beobachteten die dunklen Dächer und Tore einer ganzen Reihe von Gehöften auf der anderen Seite einer offenen Steinfläche. Vor allem behielten sie jedoch die nördlichen und südlichen Ecken der Umfassungsmauer des Haqqani-Lagers im Auge. Über ihnen kreisten die großen Hubschrauber und feuerten von Zeit zu Zeit mit ihren Bord-MGs Salven in das ummauerte Anwesen hinein, die in ihrer Lautstärke mit Presslufthämmern vergleichbar waren. Dazwischen war immer wieder das stakkatohafte Krachen der Gewehrsalven zu hören, mit denen die Zarrar-Kommandos den Haqqani-Stützpunkt eindeckten. Die 20-mm-Kanone eines Hubschraubers feuerte Sprenggeschosse auf die Berghänge hinter dem Stützpunkt ab, damit die Taliban-Kämpfer in ihren Quartieren wussten, dass es besser war, diese im Moment nicht zu verlassen.

Schließlich hörte Jack inmitten des Höllenlärms jemand rufen: »Lunte brennt!« Er suchte Deckung, indem er sich an die vier Meter hohe Ziegelmauer presste. Sekunden später ging die Sprengladung los und drückte die eisenbewehrten Eichenholztore des Gehöftes ein. Das schwere Holz flog jetzt wie Zahnstocher durch die Luft.

Und schon waren die Männer im Innern des Gehöfts und rannten auf das dreißig Meter entfernte Hauptgebäude zu. Als Ryan über die rechte Schulter zu der langen niedrigen Truppenunterkunft zurückschaute, schlugen neben dem dunklen Gebäude Leuchtspurgeschosse ein, die aus den kreisenden Hubschraubern abgefeuert wurden.

Jack war Dom auf den Fersen, und Mohammed hielt sich dicht hinter Jack. An der Spitze lief jedoch mit seinem AUG im Anschlag Chavez.

Jack war überrascht, als Chavez vor ihm sein Gewehr abfeuerte. Ryan sah, dass die Kugeln in ein kleines Gebäude, vielleicht eine Garage, links neben dem Haupthaus einschlugen. Dort blitzte plötzlich ein helles Licht auf, und eine RPG, eine raketengetriebene Granate, stieg in den Himmel. Offensichtlich hatten sie jedoch schlecht gezielt.

Ding schoss unaufhörlich dort hinüber. Ryan hob jetzt sein P90 an die Schulter, um ebenfalls ein paar Schuss abzufeuern, aber das Team erreichte das Hauptgebäude, bevor er in der Dunkelheit ein Ziel gefunden hatte.

Sie rannten unter Dings Führung an der Hauswand entlang auf die Eingangstür zu. Chavez nickte Caruso zu, der blitzschnell an der geschlossenen Tür vorbeilief und sich auf der anderen Seite an die Wand drückte. Jetzt nickte Chavez Ryan zu, der daraufhin in eine Uniformtasche an seinem rechten Schenkel griff und eine Schockgranate herausholte. In diesem Augenblick wurde auf der freien Fläche hinter dem Haupthaus eine zweite und dritte RPG abgefeuert. Beide Granaten flogen direkt auf einen Puma zu, der gerade über die Mannschaftsunterkunft flog.

Dieses Mal hatten sie gut gezielt. Die erste RPG zischte zwar noch dicht an der Windschutzscheibe des Piloten vorbei, die zweite schlug jedoch direkt hinter den beiden Turbinen ins Heck ein. Ryan beobachtete fasziniert, wie das Heck explodierte, der Hubschrauber nach rechts abkippte und dann hinter einer schwarzen Rauchwolke verschwand.

Der Aufprall fand außerhalb der Umfassungsmauer auf der freien Fläche hinter dem Anwesen statt.

Sofort hörten die restlichen drei Hubschrauber auf, über dem Haqqani-Gehöft zu kreisen, und flogen auf die Absturzstelle zu.

»Scheiße!«, rief Chavez. »Wir haben gerade unsere Deckung verloren.«