Sieben


DAMALS

Es hat gedauert, bis ich über Ethan hinweg war. Vielleicht ging es nicht einmal um ihn als Person, sondern um das, wofür er stand. Die Beziehung zu verlieren war schlimmer, als Ethan zu verlieren. Wenn man sich über einen derart langen Zeitraum mit einem anderen Menschen identifiziert und sich als Teil eines Paars betrachtet, ist es nicht so einfach, wieder zum Individuum zu werden. Es hat ein paar Monate gebraucht, bis ich ihn vollständig aus meiner Wohnung entfernt hatte. Ich habe das Hochzeitskleid entsorgt, sämtliche Fotos von uns beiden und ihm, die Geschenke, die er mir im Laufe der Jahre gemacht hat, Kleidungsstücke, die mich an ihn erinnerten. Ich habe mir sogar ein neues Bett gekauft, wobei das vielleicht mehr damit zu tun hatte, dass ich einfach ein neues Bett wollte, als mit Ethan.

Jetzt ist die Trennung ein halbes Jahr her, und ich sitze einem Typen gegenüber, mit dem ich mich sogar schon zum zweiten Mal treffe. Das liegt allerdings nur daran, dass unser erstes Date kein komplettes Desaster war. Außerdem hat Ava mich dazu überredet.

Obwohl meine Mutter von Ethan hingerissen war und sich bestimmt wünscht, ich würde ihm alles verzeihen, könnte ich mir vorstellen, dass ihr dieser Jason sogar noch besser gefallen würde. Man könnte meinen, das würde für ihn sprechen, tut es aber nicht. Meine Mutter und ich haben einen komplett unterschiedlichen Männergeschmack. Eigentlich warte ich bloß darauf, dass Jason irgendetwas sagt oder tut, das meine Mutter schrecklich finden würde – dann wäre er mir etwas sympathischer.

Im Moment macht er sich bei mir gerade alles andere als beliebt, weil er mir lauter Fragen stellt, die ich schon beim letzten Treffen beantwortet habe. Zum Beispiel, wie alt ich bin. »Fünfundzwanzig – gleich alt wie vor einer Woche.« Auf die Frage, wann ich Geburtstag habe, bekam er zur Antwort: »Immer noch am 26. Juli.«

Ich gebe mir Mühe, nicht zickig zu werden, aber es ist echt nicht leicht, nett zu bleiben, wenn der andere mit jedem Satz erkennen lässt, dass er sich kein bisschen für irgendetwas von dem interessiert hat, was man letztes Mal gesagt hat.

»Ah, du bist Löwe, ja?«, fragt er.

Ich nicke.

»Ich bin Skorpion.«

Ich habe keine Ahnung, was mir das jetzt sagen soll. Astrologie hat mich noch nie interessiert.

Außerdem fällt es mir schwer, mich auf ihn zu konzentrieren, weil ich hinter ihm gerade etwas entdeckt habe. Jemanden, um genau zu sein. Zwei Tische weiter sitzt Graham und grinst in meine Richtung. Ich schaue schnell weg.

Während Jason mich darüber aufklärt, inwiefern Skorpione und Löwen zusammenpassen, bemühe ich mich, ihn anzusehen und interessiert zu tun. Hoffentlich merkt er mir nicht an, dass ich auf einmal total außer Fassung bin. Als ich über Jasons Schulter hinweg mitkriege, wie Graham aufsteht, sich bei seiner Begleiterin entschuldigt und auf uns zukommt, bleibt mir kurz das Herz stehen.

Ich knete meine Serviette im Schoß und begreife nicht, warum es beim Anblick von Graham mehr flattert als jemals in Jasons Gegenwart. Kurz bevor er an unserem Tisch vorbeikommt, sehe ich auf. Er nickt in die Richtung, in die er geht, und streift im Vorbeigehen wie versehentlich mit einem Finger meinen Oberarm. Ich schnappe nach Luft.

»Wie viele Geschwister hast du?«

»Immer noch nur eine Schwester.« Ich lege meine Serviette entschlossen auf den Tisch. »Entschuldige mich bitte. Ich muss mal zur Toilette.« Jason rutscht zurück und erhebt sich ein Stück, als ich aufstehe. Ich lächle ihn an und gehe dann zu den Toiletten. Zu Graham.

Warum bin ich so aufgeregt?

Die Toiletten befinden sich im rückwärtigen Teil des Lokals hinter einer Trennwand in einem langen Flur. Graham ist schon um die Ecke gebogen. Ich bleibe kurz stehen, lege die rechte Hand auf meine Brust, um den Aufruhr in mir zu beruhigen, atme tief durch und folge ihm dann.

Er lehnt, eine Hand in der Tasche seiner Jacke, lässig an der Wand. Sein Anblick beruhigt mich, obwohl ich gleichzeitig auch aufgeregt bin. Plötzlich ist es mir ein bisschen peinlich, dass ich mich nie bei ihm gemeldet habe.

»Hey, Quinn.« Er schenkt mir sein träges Halblächeln, das wie schon beim letzten Mal mit diesem leichten Stirnrunzeln verbunden ist und das ich aus irgendeinem Grund sehr mag. Es lässt ihn aussehen, als würde er in seinem Innersten ständig gegen irgendetwas ankämpfen.

»Hey.« Ich bleibe in einiger Entfernung vor ihm stehen.

»Graham.« Er zeigt auf sich. »Falls du vergessen hast, wie ich heiße.«

Ich schüttle den Kopf. »Habe ich nicht. Die Details des schlimmsten Tages seines Lebens vergisst man nicht so schnell.«

Sein Lächeln wird breiter, er stößt sich von der Wand ab und macht einen Schritt auf mich zu. »Du hast nie angerufen.«

Ich zucke mit den Schultern, als hätte ich gar nicht mehr daran gedacht, dass ich seine Nummer habe. Dabei habe ich sie in Wirklichkeit jeden Tag vor Augen gehabt. Sie hängt immer noch an der Stelle an der Wand, wo er sie hingeklebt hat. »Du hast gesagt, ich soll dich anrufen, nachdem ich Trostsex gehabt habe. Ich bin gerade dabei, den Typen dafür klarzumachen.«

»Ist das der, mit dem du hier bist?«

Ich nicke. Graham macht noch einen Schritt auf mich zu, und ich merke, dass ich kaum noch Luft bekomme.

»Was ist mit dir?«, frage ich. »Bist du mit der Frau hier, mit der du Trostsex hast?«

»Mein Trostsex ist schon zwei Frauen her.«

Das passt mir nicht. Das passt mir so was von ganz und gar nicht, dass ich plötzlich überhaupt keine Lust mehr auf dieses Gespräch habe. »Tja, dann … Herzlichen Glückwunsch. Sie ist hübsch.«

Graham verengt die Augen, als würde er versuchen, das Kleingedruckte zwischen meinen Sätzen zu lesen. Ich drehe mich zur Damentoilette und lege die Hand an die Tür. »Es hat mich gefreut, dass wir uns mal wieder gesehen haben, Graham.«

Seine Augen sind immer noch verengt und er hält den Kopf leicht geneigt. Ich weiß nicht, was ich noch sagen soll, deswegen gehe ich in die Toilette und lasse die Tür hinter mir zufallen. Drinnen lehne ich mich an die Wand, stoße einen tiefen Seufzer aus und merke erst jetzt, wie sehr mich die Begegnung mit Graham mitgenommen hat.

Warum eigentlich?

Ich stelle mich ans Waschbecken, drehe das Wasser auf und merke, dass meine Hände zittern. Vielleicht beruhigt es meine Nerven, sie mit warmem Wasser und Lavendelseife zu waschen. Nachdem ich sie abgetrocknet habe, halte ich sie vor mich, betrachte mich im Spiegel und versuche mir zu sagen, dass Graham mir egal ist. Aber meine Hände zittern immer noch. Er ist mir nicht egal.

Seit sechs Monaten bin ich immer wieder kurz davor, ihn anzurufen, und halte mich seit sechs Monaten im letzten Moment davon ab. Und jetzt höre ich, dass er längst über alles hinweg ist und schon eine neue Freundin hat? Dass ich meine Chance verpasst habe? Nicht, dass ich wirklich etwas von ihm gewollt hätte. Ich glaube nach wie vor, dass er mich zu sehr an das erinnern würde, was war. Wenn ich mich irgendwann wieder auf einen Mann einlasse, soll das jemand sein, den ich vorher noch nie gesehen habe. Jemand, der nichts mit dem schlimmsten Tag meines Lebens zu tun hat. Jemand wie … Jason.

Jason! Ich sollte ihn nicht so lange warten lassen. Als ich die Tür aufstoße, steht Graham immer noch im Flur und sieht mich an. Verwirrt bleibe ich stehen, sodass mir die Tür beim Zurückschwingen in den Rücken knallt und ich einen Schritt vorwärtsstolpere.

Ich werfe einen Blick zum Ende des Flurs, dann frage ich: »War noch irgendwas?«

Graham holt tief Luft und kommt auf mich zu. Diesmal bleibt er, beide Hände in die Jackentaschen geschoben, dicht vor mir stehen.

»Wie geht es dir?« Seine Stimme ist leicht belegt. Der suchende Blick in seinen Augen sagt mir, dass sich seine Frage auf das bezieht, was ich seit dem Tag, an dem wir uns kennengelernt haben, durchgemacht habe. Dass ich die Hochzeit absagen musste.

Ich mag die Aufrichtigkeit in seiner Stimme. Und auf einmal bin ich innerlich genauso ruhig, wie ich mich vor sechs Monaten in seiner Gegenwart gefühlt habe.

»Gut«, sage ich und nicke bekräftigend. »Ich hab wahrscheinlich nicht mehr so ein Urvertrauen wie früher, aber ansonsten ist alles okay.«

Er sieht erleichtert aus. »Gut.«

»Und wie geht es dir?«

In seinem Blick entdecke ich nichts von dem, was ich zu sehen erwartet hatte. Stattdessen ist da: Bedauern. Als würde er immer noch an Sasha hängen. Zur Antwort zuckt er nur mit den Schultern.

Ich versuche, mir mein Mitleid nicht anmerken zu lassen, weiß aber nicht, ob mir das gelingt. »Deine neue Freundin hilft dir bestimmt, irgendwann über Sasha hinwegzukommen.«

»Sasha?« Graham lacht leise. »Der weine ich keine Träne nach. Ich bin mir ziemlich sicher, dass ich in dem Moment über sie hinweg war, in dem ich dich kennengelernt habe.« Er redet sofort weiter, weshalb ich keine Zeit habe, das zu verarbeiten, was ich gerade gehört habe. »Aber wir sollten jetzt lieber wieder zurück, Quinn. Wir werden ja beide erwartet.« Er wendet sich ab und schlendert davon.

Ich bleibe wie gelähmt stehen. Ich bin mir ziemlich sicher, dass ich in dem Moment über sie hinweg war, in dem ich dich kennengelernt habe.

Hat er das gerade wirklich gesagt? Er kann doch nicht so was sagen und dann einfach weggehen! Ich laufe ihm hinterher, aber er ist schon fast wieder an seinem Tisch. Jason lächelt mir entgegen und steht höflich auf. Ich gebe mir größte Mühe, normal zu wirken, aber es ist schwierig, ruhig zu bleiben, während ich zusehen muss, wie Graham sich zu seiner Freundin beugt und ihr einen Kuss auf die Schläfe gibt, bevor er sich ihr wieder gegenübersetzt.

Versucht er etwa, mich eifersüchtig zu machen? Falls das seine Absicht ist, muss ich ihn enttäuschen. Ich habe kein Interesse an manipulativen Männern. Ich habe ja noch nicht mal Interesse an langweiligen Männern wie dem, mit dem ich hier bin.

Jason kommt höflich um den Tisch herum, um mir den Stuhl zurechtzurücken. Bevor ich mich setze, sieht Graham zu mir rüber. Ich schwöre, dass um seine Mundwinkel ein kleines Lächeln spielt. Und ich – keine Ahnung, warum ich mich auf sein Niveau herunterbegebe – drehe mich zu Jason und drücke ihm einen kurzen Kuss auf den Mund.

Dann setze ich mich.

Ich habe Graham gut im Blick, als Jason wieder um den Tisch auf seine Seite geht. Jetzt grinst Graham nicht mehr.

Dafür grinse ich.

»Also, von mir aus können wir jetzt gehen«, sage ich.