Zehn


JETZT

»Noch zwei Lippenstifte«, verkündet Gwenn. Sie fährt mit dem leuchtend roten Stift über meine Oberlippe und malt dabei so großzügig über die Ränder hinaus, dass sie an meiner Nase anstößt.

»Du machst das echt sehr professionell«, sage ich lachend.

Wir sind zum Abendessen bei Grahams Eltern. Graham sitzt auf dem Boden und spielt mit Adeline, der fünfjährigen Tochter seiner Schwester Caroline. Die dreijährige Gwenn kniet neben mir auf der Couch und schminkt mich hingebungsvoll. Grahams Eltern sind in der Küche und kochen.

Die Sonntage verbringen wir meistens bei seiner Familie. Ich fand diese Tradition immer schon schön, aber in letzter Zeit bin ich noch lieber bei ihnen. Ich kann nicht genau sagen, warum sich zwischen Graham und mir alles so viel leichter anfühlt, wenn wir mit den anderen zusammen sind, aber es ist definitiv so. Es fällt mir leichter zu lachen. Es fällt mir leichter, glücklich auszusehen. Es fällt mir sogar leichter, Grahams Liebe zuzulassen.

Mir ist aufgefallen, dass ich mich ihm gegenüber in der Öffentlichkeit anders verhalte, als wenn wir allein sind. Zu Hause ziehe ich mich zurück. Ich weiche ihm und seinen Zärtlichkeiten aus, weil daraus leicht mehr wird. Seit ich angefangen habe, mich vor dem Sex zu fürchten, fürchte ich mich auch vor allem, was dazu führen könnte.

Aber wenn wir unter Menschen sind, wo seine Zärtlichkeiten zu nichts führen können, genieße ich sie. Dann sehne ich mich sogar danach. Ich mag es, wenn er mich berührt. Wenn er mich küsst. Ich liebe es, mich auf der Couch an ihn zu kuscheln. Fällt ihm auf, dass ich viel zurückhaltender bin, wenn wir zu zweit sind? Zumindest hat er mich noch nie darauf angesprochen.

»Fertig«, erklärt Gwenn und müht sich ab, die Kappe auf den Lippenstift zu schieben.

Graham sieht zu mir hoch. »Oh Mann, Quinn. Du siehst … wow!«

Ich lächle Gwenn an. »Hast du mich schön geschminkt, ja?« Sie beginnt zu kichern. Ich stehe auf, gehe ins Bad und muss laut lachen, als ich mein Spiegelbild sehe.

Übrigens bin ich mir ziemlich sicher, dass blauer Lidschatten nur hergestellt wird, damit Dreijährige die Lider erwachsener Frauen damit bemalen können. Ich bin gerade dabei, mir das Gesicht zu waschen, als Graham reinkommt. Er lehnt in der Tür, sieht mich an und schüttelt grinsend den Kopf.

»Was denn? Gefalle ich dir etwa nicht?«

Er tritt hinter mich und küsst mich auf die Schulter. »Du bist wunderschön, Quinn. Immer.«

Ich trockne mir das Gesicht ab und bin eigentlich fertig, aber Grahams Lippen sind immer noch auf meiner Schulter und wandern dann sanft meinen Nacken empor. Das Wissen, dass dieser Kuss nicht zu Sex führen und damit nicht in den ewigen Teufelskreis von SexHoffnungVernichtung münden wird, ermöglicht es mir, mich so fallen zu lassen, wie ich es bei uns zu Hause niemals könnte.

Gott, ist das krank. Aber ich will jetzt nicht darüber nachdenken, warum ich mich hier auf Graham einlassen kann und zu Hause nicht, weil er es anscheinend auch nicht tut, sondern sich ganz auf seinen Kuss konzentriert.

Er drückt mich von hinten gegen das Waschbecken und lässt seine Hand erst über meine Hüfte und dann nach vorn über meinen Oberschenkel gleiten. Ich klammere mich am Rand des Beckens fest und beobachte uns im Spiegel. Er hebt den Blick und sieht mich unverwandt an, während er mein Kleid hochschiebt.

Es ist fast zwei Monate her, seit er das letzte Mal versucht hat, mich zu verführen. So lange haben wir noch nie nicht miteinander geschlafen. Nachdem sein letzter Versuch in so einem Desaster endete, hat er wahrscheinlich darauf gewartet, dass ich den ersten Schritt tue. Aber ich habe ihn nicht getan.

Es ist so lange her, dass er mich auf diese Weise berührt hat, dass ich viel intensiver reagiere als sonst.

Ich schließe die Augen, als seine Hand in meinen Slip gleitet. Mein ganzer Körper überzieht sich mit Gänsehaut, und ich sehne mich so sehr nach der Berührung seines Munds und seiner Finger, dass ich leise aufstöhne.

Die Badezimmertür steht offen, und es könnte jederzeit jemand in den Flur kommen, aber genau das gibt mir die Sicherheit, dass Graham nicht weiter als bis zu einem bestimmten Punkt gehen wird. Was es mir wiederum ermöglicht, mich ganz meiner Lust hinzugeben.

Er dringt mit einem Finger in mich ein und streicht mit dem Daumen gleichzeitig federzart über meine Klitoris. Das Gefühl ist so überwältigend, dass mein Kopf nach hinten an seine Schulter sinkt. Graham dreht mein Gesicht zu sich, und ich keuche leise auf, als er seine Lippen auf meine legt. An der hungrigen Ungeduld seines Kusses spüre ich, wie verzweifelt er darum bemüht ist, alles aus diesem Moment herauszuholen, bevor ich ihn wieder wegschiebe.

Graham küsst und streichelt mich bis zum Höhepunkt, und selbst als ich bebend in seinen Armen liege, hört er nicht auf, mich zu küssen und zu streicheln, bis der Moment ganz vorüber ist.

Langsam zieht er die Hand aus meinem Slip und taucht mit seiner Zunge ein letztes Mal tief zwischen meine Lippen. Schwer atmend, die Hände um den Rand des Waschbeckens gekrallt, stehe ich da, als er mich noch einmal auf die Schulter küsst und dann mit einem so stolzen Grinsen aus dem Badezimmer geht, als hätte er gerade die Welt erobert.

Ich brauche ein paar Minuten, bis ich mich wieder gefangen habe. Nachdem ich mir etwas kaltes Wasser ins Gesicht gespritzt habe, gehe ich ins Wohnzimmer zurück. Graham liegt auf der Couch und schaut Fernsehen. Er rückt zur Seite, um mir Platz zu machen, und ich kuschle mich an ihn. Während wir fernsehen, küsst er immer mal wieder meine Schläfe. Es fühlt sich an wie früher. Und ich tue so, als wäre alles gut. Tue so, als wäre jeder Tag in unserem Leben so wie die Sonntage bei seinen Eltern, wo alle Schwere von uns abfällt. Wenn wir hier sind, gibt es nur Graham und mich. Hier schaffe ich es, nicht darüber nachzudenken, was für ein Mängelexemplar von Frau ich bin.

Nach dem Abendessen bieten Graham und ich seinen Eltern an, die Küche aufzuräumen. Das Radio läuft im Hintergrund, während wir am Becken stehen. Ich spüle, er trocknet ab. Er erzählt von der Arbeit und ich höre zu. Als ein Ed-Sheeran-Song kommt, greift Graham nach meinen Händen, die voller Schaum sind, zieht mich an sich und beginnt mit mir zu tanzen. Wir umarmen uns fest und bewegen uns kaum, wiegen uns nur leicht zur Musik – seine Arme um meine Taille, meine um seinen Nacken geschlungen. Er drückt die Stirn an meine, und obwohl ich weiß, dass er mich ansieht, halte ich die Augen geschlossen und tue so, als wäre unser gemeinsames Glück ungetrübt. Kurz vor dem Ende des Songs kommt Caroline in die Küche, die in ein paar Wochen ihr drittes Kind erwartet.

In der einen Hand trägt sie einen Pappteller, die andere presst sie sich ins Kreuz und verdreht lachend die Augen, als sie uns sieht. »Gott, Leute, ihr könnt einen echt neidisch machen. Man will gar nicht wissen, was ihr zu Hause so treibt, wenn ihr hier schon die Hände nicht voneinander lassen könnt.« Sie wirft den Teller in den Müll. »Wahrscheinlich seid ihr eins von diesen sagenhaften Paaren, die auch nach jahrelanger Ehe immer noch mindestens zweimal täglich übereinander herfallen.« Kopfschüttelnd geht sie wieder ins Wohnzimmer.

Als wir allein sind, sieht Graham mich stumm an. Natürlich hat ihn die Bemerkung seiner Schwester nachdenklich gemacht. Ich weiß genau, dass er kurz davor ist, mich zu fragen, warum ich zu Hause nie so mit ihm bin wie jetzt gerade.

Aber er sagt nichts, sondern reicht mir stattdessen ein Küchentuch, damit ich mir die Hände abtrocknen kann. »Sollen wir nach Hause fahren?«

Ich nicke, obwohl ich spüre, dass es sofort wieder losgeht. Dass sich in meinem Magen Anspannung breitmacht. Die Angst davor, er könnte das, was gerade zwischen uns passiert ist, zu Hause fortsetzen wollen.

Ich habe es nicht verdient, dass er bei mir bleibt. Es liegt nicht daran, dass ich ihn nicht liebe. Oder vielleicht ja doch? Wenn ich ihn richtiger lieben würde, könnte ich es vielleicht gar nicht über mich bringen, ihn immer wieder abzuweisen.

Auf der Heimfahrt presse ich die Schläfe an die kalte Scheibe des Seitenfensters. »Ich habe auf einmal ziemlich krasse Kopfschmerzen«, lüge ich, obwohl ich mich unendlich mies fühle, allen Ernstes die lahmste Ausrede der Welt zu verwenden.

Zu Hause sagt Graham, dass ich mich lieber gleich ins Bett legen soll. Fünf Minuten später bringt er mir ein Glas Wasser und eine Kopfschmerztablette. Er schaltet das Licht aus, als er aus dem Zimmer geht, und ich weine in der Dunkelheit um das, was ich aus unserer Beziehung gemacht habe.

Das Herz meines Mannes ist mein sicherer Hafen, aber vor seiner Nähe fürchte ich mich.