Sechzehn
JETZT
Als ich das erste Mal geträumt habe, Graham hätte mich betrogen, bin ich mitten in der Nacht schweißgebadet im Bett hochgeschossen. Ich habe panisch nach Luft geschnappt, weil ich in meinem Traum so heftig geschluchzt habe, dass ich das Gefühl hatte zu ersticken. Graham ist sofort wach geworden und hat mich in den Arm genommen. Aber ich war so wahnsinnig wütend und enttäuscht, dass ich ihn von mir gestoßen habe, weil sich der Traum so realistisch angefühlt hat, als hätte er mich wirklich betrogen. Graham hat mich umarmt und geküsst, bis ich mich wieder beruhigt hatte, dann hat er gelacht. Und dann hat er mich geliebt.
Am nächsten Tag hat er mir Blumen geschickt. Auf der Karte, die im Strauß steckte, stand: »Es tut mir leid, was ich dir in deinem Albtraum angetan habe. Bitte vergib mir heute Nacht im Traum.«
Die Karte habe ich aufgehoben. Die Erinnerung daran bringt mich zum Lächeln. Manche Männer schaffen es nicht mal, sich für Dinge zu entschuldigen, die sie im wahren Leben getan haben. Meiner entschuldigt sich sogar für etwas, was er bloß in meinem Traum gemacht hat.
Ob er sich heute Abend auch entschuldigt?
Die Frage ist: Hat er etwas getan, wofür er sich entschuldigen müsste?
Es ist schwer zu erklären, weil ich nicht weiß, woher es kommt, aber ich habe ein ganz merkwürdiges Gefühl. Es hat angefangen, nachdem er so betrunken nach Hause gekommen war, dass er sich am nächsten Morgen an nichts mehr erinnern konnte. Es ist stärker geworden, als er letzten Donnerstagabend nach Hause gekommen ist und kein bisschen nach Bier gerochen hat. Obwohl mir die Sache mit Ethan definitiv nachhängt, wie meine Träume beweisen, habe ich an Grahams Treue nie gezweifelt. Trotzdem kam mir sein Verhalten irgendwie seltsam vor. Er ist früher nach Hause gekommen als sonst und hat mich zur Begrüßung zum ersten Mal nicht geküsst, sondern ist sofort im Schlafzimmer verschwunden, um sich umzuziehen. Seitdem ist mein Misstrauen nicht mehr gewichen.
Und heute war ich mir plötzlich ganz sicher. Die Erkenntnis traf mich wie ein Schlag in den Magen, der mir für einen Augenblick den Atem raubte. Es war, als könnte ich ganz deutlich die Schuldgefühle spüren, die er in dem Moment hatte, obwohl ich nicht wusste, wo er gerade war. Natürlich weiß ich, dass das unmöglich ist. Die Verbindung zwischen zwei Menschen kann gar nicht so eng sein, dass sie die Gefühle des anderen quasi telepathisch aus der Ferne spüren können. Vielleicht habe ich ja schon länger geahnt, was los ist, es aber nicht wahrhaben wollen. Und dann ist es immer mehr in mein Bewusstsein vorgedrungen, bis ich es vor mir selbst nicht mehr leugnen konnte.
So schlimm wie in letzter Zeit stand es um unsere Beziehung noch nie. Graham und ich reden kaum noch miteinander. Berührungen finden sowieso nicht mehr statt. Und doch bewegen wir uns in unserem Haus in der üblichen Routine und tun so, als wäre alles wie immer. Es ist, als hätte Graham an dem Abend, an dem er betrunken nach Hause gekommen ist, aufgehört, Opfer für uns zu bringen. Abschiedsküsse sind selten geworden. Zur Begrüßung bekomme ich gar keinen Kuss mehr. Er ist jetzt auf das Niveau hinabgestiegen, auf dem ich mich schon seit einiger Zeit befinde. Entweder hat er wegen irgendetwas Schuldgefühle oder er hat den Kampf um unsere Beziehung aufgegeben.
Ist es nicht genau das, was ich tief in mir die ganze Zeit wollte? Dass er endlich aufhört, um etwas zu kämpfen, was ihn langfristig doch nur unglücklich macht?
Ich trinke zwar selten Alkohol, habe für Notfälle aber immer eine Flasche Wein im Haus. Das jetzt fühlt sich definitiv nach Notfall an. Ich schenke mir in der Küche ein Glas ein und lasse die Uhr nicht aus den Augen, während ich es leere.
Mit dem zweiten Glas setze ich mich ins Wohnzimmer auf die Couch und halte den Blick auf die Einfahrt gerichtet.
Ich brauche den Wein, um mein Misstrauen zu besänftigen. Die Hand, mit der ich das Glas halte, zittert. Mein Magen ist wie zugeschnürt, als hätte ich einen meiner Albträume.
Ich sitze mit angezogenen Beinen in der rechten Ecke der Couch, der Fernseher ist stumm. Das Haus dunkel. Ich starre immer noch nach draußen, als sein Wagen schließlich um halb acht in der Einfahrt hält. Die Scheinwerfer gehen aus. Ich kann Graham durchs Fenster sehen, aber er sieht mich nicht.
Er umklammert mit beiden Händen das Lenkrad und bleibt im Wagen sitzen, als wäre alles besser, als zu mir ins Haus zu gehen. Ich trinke noch einen Schluck Wein und sehe, wie er seine Stirn aufs Lenkrad drückt.
Eins, zwei, drei, vier, fünf …
Fünfzehn Sekunden sitzt er so da. Fünfzehn Sekunden voller Angst. Oder voller Reue. Ich weiß nicht, was in ihm vorgeht.
Dann lässt er das Lenkrad los und richtet sich auf. Er sieht in den Rückspiegel und wischt sich über den Mund. Rückt seine Krawatte zurecht. Reibt sich über den Hals. Bricht mir das Herz. Seufzt so schwer, dass ich es sehen kann, und steigt dann endlich aus.
Als er durch die Tür kommt, bemerkt er mich im ersten Moment nicht. Er wendet sich Richtung Küche, von wo es in den hinteren Teil des Hauses mit unserem Schlafzimmer geht. Aber dann dreht er sich doch noch einmal um und jetzt sieht er mich.
Das Weinglas an den Lippen, trinke ich noch einen Schluck, den Blick unverwandt auf ihn gerichtet. Er erwidert meinen Blick schweigend und fragt sich vermutlich, warum ich in der Dunkelheit sitze. Warum ich allein in der Dunkelheit sitze. Allein Wein trinke. Sein Blick wandert von mir zum Fenster, vor dem sein Wagen steht. Ihm wird klar, dass ich alles, was er eben getan hat, klar und deutlich gesehen haben muss. Er fragt sich, ob ich gesehen habe, wie er sich ihre Spuren vom Mund gewischt hat und von seinem Hals. Er fragt sich, ob ich gesehen habe, wie er sich die Krawatte gerichtet hat. Ob ich gesehen habe, wie er seine Stirn aus Angst oder aus Reue auf das Lenkrad gepresst hat. Als er den Blick vom Wagen wendet, schaut er nicht mich an. Er schaut zu Boden.
»Wie heißt sie?« Irgendwie gelingt es mir, ihm diese Frage zu stellen, ohne verächtlich zu klingen. Der Tonfall ist derselbe, in dem ich ihn frage, wie sein Tag gelaufen ist.
Wie war dein Tag, Liebling?
Wie heißt deine Geliebte, Liebling?
Trotz meines freundlichen Tonfalls antwortet Graham nicht.
Er hebt den Blick, bis er meinen trifft, bleibt aber stumm.
Mein Magen krampft sich zusammen und mir wird speiübel. Ich bin schockiert darüber, wie wütend mich sein Schweigen macht. Ich bin schockiert darüber, dass es in Wirklichkeit noch viel mehr wehtut als in meinen Albträumen. Ich hätte nicht geglaubt, dass es noch schlimmer sein könnte.
Und dann sitze ich plötzlich nicht mehr, sondern stehe mit erhobenem Arm da, das Glas in der Hand. Aber ich will es nicht auf ihn schleudern, das nicht. Auch wenn ich ihn gerade mit jeder Faser hasse, ist er hier nicht der alleinige Schuldige. Wenn ich das Glas auf mich selbst schleudern könnte, würde ich es tun. Aber weil das nicht geht, schleudere ich es auf unser Hochzeitsfoto, das hinter Graham an der Wand hängt.
Das Glas zersplittert, der Wein spritzt und ich frage noch einmal: »Verdammt, Graham. Wie heißt sie?«
Jetzt ist meine Stimme nicht mehr freundlich. Grahams Gesicht bleibt reglos. Er schaut nicht auf das Hochzeitsfoto, er schaut nicht auf den Wein, der sich wie eine Blutlache auf dem Boden ausbreitet. Er schaut nicht auf seine Füße. Er schaut mir direkt in die Augen. »Andrea.«
Danach wendet er den Blick ab. Er will nicht sehen, was seine brutale Ehrlichkeit mit mir anrichtet.
Ich denke an den Moment zurück, in dem Ethan aus der Tür kam, nachdem klar war, dass er mich betrogen hatte. An den Moment, in dem Graham mein Gesicht in seinen Händen hielt. Den Moment, in dem er sagte: »Wir dürfen jetzt keine Gefühle zeigen, okay? Das wäre das Schlimmste. Du darfst nicht ausrasten, Quinn. Du darfst nicht weinen.«
Damals war es einfacher. Als Graham noch auf meiner Seite war. Wenn man allein ist, ist es nicht so einfach.
Ich falle auf die Knie, aber Graham ist nicht da, um mich aufzufangen. Nachdem er ihren Namen gesagt hat, ist er aus dem Raum gegangen.
Ich tue all das, was er mir geraten hat, nicht zu tun. Ich zeige Gefühle. Ich raste aus. Ich heule.
Ich krieche auf den Scherbenhaufen zu, den ich angerichtet habe. Ich die Splitter zusammen, die ich durch den Tränenschleier kaum sehen kann. Ich greife tränenblind nach einem Stapel Servietten, um den Wein vom Parkett aufzusaugen.
Die Dusche rauscht. Anscheinend beseitigt er die Spuren von Andrea, während ich die Spuren des Rotweins beseitige. Dass mir Tränen übers Gesicht laufen, ist nichts Neues, aber es ist eine andere Art von Tränen. Ich weine nicht über etwas, das nicht sein wird. Diesmal weine ich über etwas, das war und nie mehr zurückkommen wird.
Ich hebe eine Scherbe auf, rutsche zur Wand und lehne mich dagegen. Ich strecke die Beine aus und betrachte das Stück Glas. Und dann drehe ich meine andere Hand und presse die Scherbe in den Ballen. Sie durchschneidet die Haut, ich drücke noch fester und sehe, wie sie immer tiefer eindringt, wie das Blut quillt.
In meiner Brust spüre ich einen viel schlimmeren Schmerz. Viel, viel schlimmer.
Irgendwann lasse ich die Scherbe fallen. Ich wische das Blut mit einer Serviette weg, ziehe die Beine an, umschlinge meine Knie und presse mein Gesicht darauf. Ich schluchze immer noch, als Graham ins Zimmer zurückkommt. Ich umfasse meine Beine fester, als er sich neben mich setzt. Ich spüre seine Hand in meinen Haaren, spüre seine Lippen. Seine Arme um meine Schultern. Er zieht mich an sich.
Ich möchte ihn anschreien, möchte auf ihn einschlagen, vor ihm wegrennen. Aber alles, was ich tun kann, ist, meine Knie noch fester zu umschlingen und mich noch mehr in mich zusammenzukauern, während ich schluchze.
»Quinn.« Er hält mich in den Armen, drückt sein Gesicht in meine Haare. Seine Stimme ist voller Qual, als er meinen Namen sagt. Ich habe diesen Namen noch nie so gehasst. Ich halte mir die Ohren zu, weil ich seine Stimme jetzt nicht hören will. Aber er sagt sowieso nichts mehr. Nicht einmal, als ich mich aus seiner Umarmung winde, aufstehe, in unser Schlafzimmer gehe und die Tür abschließe.