Fünf
DAMALS
Es ist seltsam, mit einem anderen Mann nach Hause zu kommen als mit Ethan. Wobei er gar nicht so oft bei mir war, weil seine Wohnung schöner und vor allem größer ist, weshalb wir uns meistens bei ihm getroffen haben.
Aber jetzt bin ich hier, mit einem komplett Fremden, und es sieht ganz so aus, als würde ich gleich Rachesex mit ihm haben! Wenn Ethan mit jemand anderem ins Bett gehen kann, werde ich das wohl auch schaffen, oder? Vor allem, wenn dieser Jemand so attraktiv ist wie Graham. Dieser Tag war so bizarr, dass er ruhig auch bizarr enden kann.
Als ich die Wohnungstür aufschließe, überlege ich leicht panisch, ob es vielleicht irgendetwas gibt, das ich lieber wegräumen sollte (alles?), aber dazu ist es sowieso zu spät, weil Graham direkt hinter mir steht.
»Komm rein«, sage ich.
Graham tritt in mein Zwei-Zimmer-Apartment und sieht sich um. Eigentlich finde ich es ganz gemütlich, aber jetzt wirkt es plötzlich fast erstickend klein, weil es voller Erinnerungen an Ethan ist.
Auf dem Esstisch liegt ein Stapel überzähliger Hochzeitseinladungen, und das Hochzeitskleid, das ich vor zwei Wochen gekauft habe, hängt in einer Kleiderhülle an der Schlafzimmertür. Ich nehme es mit zusammengebissenen Zähnen runter, falte es zusammen und stopfe es ganz unten in die Kommode. Soll das blöde Kleid doch zerknittern.
Graham schlendert zur Küchentheke und greift nach einem gerahmten Foto von mir und Ethan, das dort steht. Es ist an dem Tag aufgenommen worden, an dem er mir den Antrag gemacht hat. Stolz halte ich meinen Ring in die Kamera. Graham streicht mit dem Daumen über das Glas.
»Du siehst glücklich darauf aus.«
Ich sage nichts dazu, aber er hat recht. Ich sehe glücklich aus, weil ich glücklich war. Wahnsinnig glücklich. Und wahnsinnig ahnungslos. Wie oft Ethan mich wohl betrogen hat? Lief das mit Sasha schon, als er mir den Antrag gemacht hat? Ich hätte so viele Fragen, aber ich glaube, ich verzichte darauf, Antworten zu bekommen, weil ich keine Lust habe, Ethan jemals noch mal gegenüberzutreten.
Graham legt den Rahmen umgedreht auf die Theke, wirft mir einen kurzen Blick zu und schnippt dann – wie bei seinem Handy vorhin – so dagegen, dass er über die Kante rutscht und auf dem Küchenboden zerbricht.
Eigentlich eine Frechheit. Aber ich finde es großartig.
Auf der Theke stehen noch zwei Bilder. Ich versetze dem anderen von Ethan und mir einen Schubs und lächle, als es klirrend zerspringt. Graham grinst. Jetzt steht nur noch ein Bild dort. Es zeigt meinen Vater und mich und wurde zwei Wochen vor seinem Tod aufgenommen. Graham nimmt es in die Hand und betrachtet es.
»Dein Vater?«
»Ja.«
Er stellt es wieder zurück. »Er darf bleiben.«
Er geht zum Tisch, wo die Hochzeitseinladungen liegen. Meine Mutter hat die Karte zusammen mit Ethans Mutter ausgesucht, den Text formuliert und die Einladungen sogar für uns verschickt. Die übrig gebliebenen Karten hat sie mir vor zwei Wochen vorbeigebracht, weil sie meinte, vielleicht könnte man daraus noch etwas Originelles basteln. Aber bisher hatte ich keine Lust dazu.
Jetzt ist klar, dass ich sie wegwerfen werde, so wie jede andere Erinnerung an diese desaströse Beziehung.
Ich folge Graham, bleibe einen Moment unschlüssig neben ihm stehen und setze mich dann auf die Tischplatte.
Graham liest laut vor: »Anlässlich der Vermählung von Quinn Dianne Whitley, Tochter von Avril Donnelly und dem verstorbenen Kevin Whitley aus Old Greenwich, Connecticut, mit Ethan Samson Van Kemp, Sohn von Dr. Van Kemp und seiner Gemahlin Mrs Samson Van Kemp, ebenfalls aus Old Greenwich, bitten wir Sie um die Ehre Ihrer Anwesenheit bei den Hochzeitsfeierlichkeiten im Douglas Whimberly Plaza am …«
Er sieht mich an. »Anlässlich der Vermählung. Wow.«
Meine Wangen brennen.
Ich hasse diese Einladungen. Als ich sie zum ersten Mal gesehen habe, bin ich fast ausgerastet, weil ich das alles so unfassbar prätentiös fand. Aber so ist sie eben. Hauptsache Eindruck schinden.
»Der Text geht aufs Konto meiner Mutter. Manchmal ist es einfacher, sie ihr Ding machen zu lassen, als einen Streit zu riskieren.«
Graham zieht eine Augenbraue hoch und legt die Einladung wieder auf den Stapel. »Du kommst aus Greenwich?«
Seine Stimme verrät, was er denkt, aber das nehme ich ihm nicht übel. Old Greenwich ist kürzlich im Ranking der wohlhabendsten Gemeinden der USA auf einem der ersten Plätze gelandet. Wer dort wohnt, hält sich in der Regel automatisch für etwas Besseres. Und alle, die nicht dort wohnen, haben in der Regel Vorurteile gegenüber denen, die es tun. Wobei ich grundsätzlich etwas gegen Vorurteile habe und lieber die Ausnahme der Regel bin.
»Du wirkst gar nicht so, als kämst du aus Old Greenwich«, sagt Graham.
Meine Mutter würde jetzt beleidigt schnauben, aber ich lächle, weil ich es als Kompliment auffasse.
»Danke. Ich gebe mir Mühe, nicht den Eindruck zu vermitteln, als wäre ich mit einem goldenen Löffel im Mund zur Welt gekommen.«
»Das gelingt dir absolut überzeugend – und das meine ich definitiv positiv.«
Noch so eine Bemerkung, die meine Mutter als Affront auffassen würde. Graham wird mir immer sympathischer.
»Hast du Hunger?« Ich werfe einen Blick zur Küchenzeile und frage mich, ob ich überhaupt irgendwas dahabe, das ich ihm anbieten könnte. Zu meinem Glück schüttelt er den Kopf.
»Nein, mir ist immer noch ein bisschen schlecht vom chinesischen Essen und Betrogenwerden.«
Ich lache leise. »Ja, mir auch.«
Graham schaut sich in meinem Apartment um, vom Wohnzimmer mit angeschlossener Küche über den Flur zum Schlafzimmer, dann sieht er mich an, und ich muss leise Luft holen, weil der Blick, den er über meine Beine und den Rest meines Körpers wandern lässt, so intensiv ist. Es ist ungewohnt, von jemandem so angesehen zu werden, der nicht Ethan ist. Ich bin überrascht, dass ich es genieße.
Was Graham wohl gerade durch den Kopf geht? Ist er genauso geschockt wie ich, dass er hier ist und mich anschaut, statt bei sich zu Hause Sasha anzuschauen?
Er steckt eine Hand in seine Jackentasche, zieht ein kleines Kästchen hervor, klappt es auf und hält es mir wortlos hin. In schwarzem Samt steckt ein Ring – offensichtlich ein Verlobungsring. Viel schlichter als der, den Ethan mir geschenkt hat, und viel schöner. Ethan hat den teuersten Ring genommen, den er für das Geld seines Vaters bekommen konnte.
»Den schleppe ich schon seit zwei Wochen mit mir rum.« Graham lehnt sich neben mich gegen den Tisch und blickt auf den Ring. »Irgendwie hat sich nie ein guter Moment ergeben, um ihr den Antrag zu machen. Ich hatte schon seit einer Weile so ein komisches Gefühl. Aber sie ist echt eine verdammt gute Lügnerin.«
Das klingt fast beeindruckt.
»Der ist wunderschön.« Ich ziehe ihn heraus und streife ihn mir über den rechten Ringfinger.
»Du kannst ihn behalten. Ich brauche ihn jetzt ja nicht mehr.«
»Du solltest ihn zurückbringen. Er war sicher teuer.«
»Ich habe ihn bei eBay gekauft. Der Händler hat Retouren ausgeschlossen.«
Ich strecke meine beiden Hände aus und vergleiche die Ringe. Warum habe ich Ethan nicht gesagt, dass ich auf gar keinen Fall einen protzigen Ring haben möchte? Es ist, als wäre ich so darauf fixiert gewesen, ihn zu heiraten, dass ich meine Stimme verloren habe. Meine Meinung. Mich selbst.
Ich ziehe seinen Ring ab, stecke ihn in Grahams Kästchen und streife dafür den, den er Sasha gekauft hat, über meinen linken Ringfinger. Als ich ihm das Kästchen hinhalte, wehrt er ab.
»Bitte nimm ihn. Wir tauschen«, sage ich und schiebe es ihm über den Tisch zu.
»Auf keinen Fall.« Er schüttelt den Kopf. »Der ist garantiert wahnsinnig wertvoll. Wahrscheinlich würdest du ein Auto dafür kriegen.«
»Ich hab schon eins.«
»Dann gib ihn Ethan zurück. Er kann ihn Sasha schenken. Sie würde ihn sicher schöner finden als den, den ich besorgt habe.«
Ich seufze. »Dann schicke ich ihn Ethans Mutter. Soll sie entscheiden, was sie damit machen.«
Graham schiebt die Hände in die Jackentaschen. Er sieht wirklich besser aus als Ethan, das habe ich vorhin nicht gesagt, um ihm zu schmeicheln. Ethans Wirkung beruht hauptsächlich auf Selbstvertrauen und Geld. Er ist immer gepflegt, immer teuer gekleidet und immer auch ein bisschen großspurig. Ist ein Mensch selbst davon überzeugt, gut auszusehen, glaubt es auch der Rest der Welt.
Grahams gutes Aussehen ist ehrlicher. Seine Attraktivität lässt sich nicht an Details festmachen. Nicht an seinen dunklen Haaren. Nicht an seinen Augen, die nicht meerblau oder smaragdgrün sind, sondern braun, was die leichte Melancholie, die er ausstrahlt, wahrscheinlich noch verstärkt. Nicht an seinen Lippen, die zwar schön geschnitten und voll sind, aber nicht ungewöhnlich. Er ist groß, aber nicht extrem groß. Ich schätze, so um die eins fünfundachtzig.
Es ist die Summe der Einzelteile, die seine Attraktivität ausmacht. In der Kombination haben sie eine Gesamtwirkung, die in meinem Inneren ein sehnsüchtiges Ziehen hervorruft. Mir imponiert, mit welcher Gelassenheit er die Welt betrachtet, während sein Leben im Chaos versinkt. Ich finde das leise Lächeln um seine Mundwinkel unwiderstehlich. Manchmal legt er mitten im Satz eine Pause ein und streicht sich mit dem Daumen über die Unterlippe. Vermutlich weiß er gar nicht, wie sexy das ist. Ich kann mich nicht erinnern, dass ich mich schon jemals von einem Unbekannten körperlich so angezogen gefühlt hätte.
Als er zur Wohnungstür schaut, frage ich mich, ob er es bereut, mit mir hergekommen zu sein. Findet er mich überhaupt attraktiv? Denkt er an Sasha? Er stößt sich vom Tisch ab, und ich erwarte, dass er mir sagt, warum er doch leider wieder gehen muss. Jetzt schiebt er die Hände in die Taschen seiner Jeans, als wüsste er nicht, wohin damit. Gleich wird er sich verabschieden. Sein Blick fällt auf meinen Hals, bevor er wieder zu meinem Gesicht wandert. Das Braun seiner Augen ist mit einem Mal unglaublich intensiv. »Okay. Wo geht es zum Schlafzimmer?«
Seine Direktheit schockiert mich etwas.
Ich versuche, mir nicht anmerken zu lassen, wie zerrissen ich innerlich bin. Einerseits hätte ich wirklich gute Lust, mich an Ethan zu rächen, indem ich mit dem gut aussehenden Freund seiner Affäre ins Bett gehe. Genau aus diesem Grund ist Graham hier. Andererseits frage ich mich, ob ich Lust habe, als Objekt für den Rachesex von jemand anderem herzuhalten.
Aber hey … immer noch besser, als allein im Bett zu heulen, oder?
Ich gleite vom Tisch. Graham bleibt, wo er ist, sodass sich unsere Körper berühren, als ich mich an ihm vorbeischiebe. Ich spüre ihn in jeder Faser und kurz stockt mir der Atem. »Hier lang.«
Ich bin immer noch nervös, aber nicht annähernd so nervös wie vorhin, als ich die Wohnungstür aufgeschlossen habe. Grahams Stimme beruhigt mich. Seine ganze Präsenz beruhigt mich. Vielleicht auch seine Traurigkeit.
»Ich mache nie mein Bett«, warne ich ihn, als ich die Tür öffne, das Licht anschalte und mich zu ihm umdrehe.
Graham steht im Türrahmen. »Warum nicht?« Er geht ein paar Schritte ins Zimmer, und jetzt wird mir doch wieder mulmig, als ich diesen fremden Mann betrachte, der vor meinem Bett steht, in dem ich jetzt eigentlich liegen und mir die Augen aus dem Kopf heulen müsste.
Wie ist das für ihn? Er hat vorhin selbst gesagt, dass er an seiner Beziehung zu Sasha gezweifelt hat, sonst wäre er ihr wohl auch niemals bis zu Ethan gefolgt, während der Verlobungsring ein Loch in seine Jackentasche brannte.
Ist er insgeheim erleichtert, dass er ihn ihr nie gegeben hat? Bin ich womöglich erleichtert, Ethan nicht heiraten zu müssen? Wie sonst wäre meine nervöse Vorfreude und mein Herzflattern zu erklären, obwohl ich doch komplett am Boden zerstört sein müsste?
Ich sehe Graham gedankenverloren an und merke erst mit Verzögerung, dass ich seine Frage noch nicht beantwortet habe. »Ach so … ja.« Ich räuspere mich. »Es dauert durchschnittlich zwei Minuten, ein Bett zu machen, in das man sich spätestens zwölf Stunden später sowieso wieder reinlegt. Wozu soll man zusammengerechnet ganze achtunddreißig Tage seines Lebens für etwas total Unnötiges verschwenden?«
Graham betrachtet mein zerwühltes Bett, und um seine Mundwinkel spielt das kleine Lächeln, das ich so unwiderstehlich finde. Ich merke, dass ich keine Ahnung habe, wie es jetzt weitergehen soll. Ich hatte mich darauf eingestellt, heute Abend Ethan wiederzusehen, und nicht, mit einem vollkommen fremden Mann Sex zu haben. Soll ich das Licht ausmachen? Sollte ich mich vielleicht umziehen? Graham soll mir nicht die Kleidungsstücke ausziehen, die ich für einen anderen angezogen habe. Gott. Ich glaube, ich brauche einen Moment, um mich innerlich zu sortieren. Es ist so viel in so kurzer Zeit passiert, und ich bin noch gar nicht dazu gekommen, durchzuatmen.
»Wartest du kurz?« Ich zeige zur Badezimmertür. »Bin gleich wieder bei dir.«
Grahams Lächeln wird breiter, und als mir klar wird, dass ich diesen schönen Mund gleich küssen werde, überkommt mich Unsicherheit. Ein ungewohntes Gefühl. Eigentlich bin ich ziemlich selbstbewusst. Aber Graham strahlt eine so natürlich wirkende Gelassenheit aus, die mich irgendwie noch nervöser macht.
Ich schließe mich im Bad ein und starre auf die Tür. Einen Moment vergesse ich, warum ich hier bin, dann fällt es mir wieder ein: Ich werde gleich zum ersten Mal seit vier Jahren mit einem Mann schlafen, der nicht Ethan ist. Okay, los! Ich öffne den Schrank und entscheide mich für ein blassrosa Nachthemd mit Spaghettiträgern. Es ist nicht durchsichtig, aber trotzdem so dünn, dass Graham sofort sehen wird, dass ich keinen BH trage. Ich ziehe es an, schlinge meine Haare zu einem losen Knoten und putze mir gründlich die Zähne und sogar die Zunge, bis ich sicher bin, dass nichts mehr an das chinesische Essen vorhin im Hausflur erinnert.
Ich schaue ein bisschen zu lang in den Spiegel. Unfassbar, dass dieser Tag so endet. Dass ich gleich mit einem Mann schlafen werde, der … nicht mein Verlobter ist. Zur Beruhigung atme ich ein paarmal tief durch und öffne dann die Tür.
Ich weiß nicht genau, was ich erwartet habe, aber nicht das.
Graham steht immer noch in Jeans, T-Shirt und Jacke im Zimmer. Mein Blick fällt auf seine Schuhe, die er auch immer noch anhat, als er flüstert: »Wow!«
Ich hebe den Blick. Er kommt auf mich zu und sein Gesicht ist mir plötzlich ganz nah. Ich muss mich zusammenreißen, um ihm nicht darüber zu streicheln, weil der traurige Zug um seinen Mund und die dunklen Bartstoppeln auf seinem markanten Kiefer in mir den Reflex auslösen, ihn zu berühren.
»Bitte schön.« Er tritt einen Schritt zurück und zeigt mit großer Geste auf mein Bett. Alle Kissen sind ordentlich am Kopfende aufgereiht, die Decke ist glatt gestrichen und an einer Ecke einladend aufgeschlagen.
»Du hast mein Bett gemacht?« Ich schüttle ungläubig den Kopf. So hatte ich mir den Verlauf des Abends nicht vorgestellt, aber nach vier Jahren mit Ethan habe ich keine Ahnung mehr, wie solche Abende verlaufen.
Graham hebt die Decke an, damit ich mich hineinlegen kann, und ich rutsche zur Seite, sodass er auch Platz hat. Aber statt sich zu mir zu legen, breitet Graham die Decke über mich, setzt sich auf die Bettkante und sieht mich an. »Ist doch schön so, oder?«
Ich knuffe mein Kopfkissen zurecht und drehe mich auf die Seite. Er hat das Fußende der Decke unter die Matratze gesteckt, sodass sie sich eng um meine Beine und Füße schmiegt. Es ist wirklich schön. Fast ein bisschen so, als würde die Decke mit mir kuscheln.
»Ich bin beeindruckt.«
Graham beugt sich vor und streicht mir eine Haarsträhne hinters Ohr. Die Geste ist süß. Ohne ihn zu kennen, kann ich jetzt schon sagen, dass er einer von den Guten ist. Ich wusste es in der Sekunde, in der Ethan aus dem Apartment kam und Graham nicht aufgesprungen ist und sich auf ihn gestürzt hat. Man braucht jede Menge Selbstbeherrschung, um in so einer Situation Würde zu bewahren.
Er lässt die Hand auf meine Schulter sinken. Ich kann nicht genau sagen, was sich verändert hat, seit wir das Restaurant verlassen haben und zu mir gefahren sind, aber die Stimmung ist nicht mehr dieselbe. Seine Hand gleitet die Decke hinab und bleibt auf Höhe meiner Taille liegen. Ich sehe ihn an und verstehe. Es ist offensichtlich, dass er nicht weiß, wie er es mir beibringen soll, weshalb ich beschließe, es ihm nicht unnötig schwer zu machen.
»Ist schon okay«, flüstere ich. »Du darfst gehen.«
Er kann seine Erleichterung nicht verbergen. »Ich dachte, ich könnte das … ich und du. Heute Nacht.«
»Dachte ich auch, aber es ist noch viel zu früh für … Trostsex.«
Ich spüre die Hitze seiner Hand durch die Decke. Ihr Druck verstärkt sich, als er sich vorbeugt und mir einen sanften Kuss auf die Wange gibt. Ich schließe die Augen und schlucke trocken, als sich sein Mund meinem Ohr nähert. »Selbst wenn es nicht zu früh wäre, würde ich keinen Trostsex mit dir haben wollen.« Er löst sich von mir. »Gute Nacht, Quinn.«
Ich halte die Augen geschlossen, als er aufsteht, und öffne sie auch dann nicht, als er das Licht ausmacht und die Tür schließt.
Er würde keinen Trostsex mit mir haben wollen?
War das ein Kompliment oder seine Art, mir zu sagen, dass er nicht auf mich steht?
Ich denke noch eine Weile darüber nach, schiebe dann aber jeden Gedanken an Graham beiseite. Mit ihm kann ich mich morgen wieder beschäftigen. Im Moment geht es um das, was ich in den letzten Stunden verloren habe.
Mit einem Schlag hat sich mein gesamter Lebensplan geändert. Bis vorhin bin ich davon ausgegangen, dass Ethan für immer der Mann an meiner Seite sein würde. Jetzt hat sich alles, was ich über meine Zukunft zu wissen geglaubt habe, als Trugschluss entpuppt. Und alles, was ich über Ethan zu wissen geglaubt habe, als Lüge.
Ich hasse ihn. Ich hasse ihn, weil ich – ganz egal, wie es von jetzt an weitergeht – nie mehr in der Lage sein werde, jemandem so zu vertrauen, wie ich ihm vertraut habe.
Ich rolle mich auf den Rücken und starre an die Decke. »Fick dich, Ethan Van Kemp.«
Was ist das überhaupt für ein absolut bescheuerter Nachname? Ich spreche laut den Namen aus, den ich nach meiner Vermählung mit ihm getragen hätte. »Quinn Dianne Van Kemp.«
Gott, bin ich froh, dass ich nie so heißen muss.
Ich bin froh, dass ich ihn in flagranti erwischt habe.
Ich bin froh, dass Graham da war und mir geholfen hat, die Situation durchzustehen.
Und ich bin froh, dass er sich vorhin entschieden hat zu gehen.
Im Restaurant, als alles noch ganz frisch war, habe ich mich in meiner Wut nach Rache gesehnt. Ich dachte, wenn ich mit Graham Sex hätte, würde das den Schmerz lindern, den Ethan mir zugefügt hat. Aber jetzt, wo Graham gegangen ist, spüre ich, dass es keine Linderung gibt. In mir klafft eine riesige brennende Wunde. Am liebsten würde ich mich hier einschließen und für immer verkriechen und nur rausgehen, um mir Eiscreme zu besorgen. Morgen hole ich mir gleich ein paar Becher, bunkere mich damit ein und komme nie mehr raus. Außer um Eiscremevorräte aufzustocken.
Ich schleudere die Decke weg, gehe zur Wohnungstür und schließe ab. Als ich die Kette vorlege, entdecke ich an der Wand eine gelbe Haftnotiz.
Eine Telefonnummer und darunter eine kurze Nachricht.
Ruf mich irgendwann an. Nachdem du Trostsex gehabt hast. Graham.
Ich bin hin und her gerissen. Graham scheint wirklich total nett zu sein, und ich spüre definitiv eine Anziehung zwischen uns, aber im Moment kann ich mir überhaupt nicht vorstellen, mich jemals wieder auf einen Mann einzulassen. Meine Beziehung zu Ethan ist erst seit ein paar Stunden vorbei. Selbst wenn ich irgendwann wieder Lust hätte, mich mit jemandem zu treffen, wäre der letzte Mensch, den ich mir dafür aussuchen würde, der Exfreund der Frau, die alles Gute in meinem Leben in Scherben geschlagen hat.
Ich will so wenig mit Ethan und Sasha zu tun haben, wie es nur geht. Und leider würde Graham mich immer an die beiden erinnern.
Trotzdem muss ich lächeln, als ich seine Nachricht lese. Aber nur kurz.
Danach schleppe ich mich wieder ins Schlafzimmer, krieche ins Bett und ziehe mir die Decke über den Kopf. Und dann beginnen die Tränen zu fließen. »Du wirst heute Nacht weinen. Wenn du im Bett liegst. Dann tut es am meisten weh. Wenn du allein bist.«
Graham hatte so recht.